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Bauen wie die Tiger
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Architektur, die nur das „Vorwärts!“ kennt, ist in Europa selten geworden. Delugan Meissl durften in Seoul ein herausragendes Exemplar dieser Spezies errichten. Aber ist es repräsentativ für die aktuelle Entwicklung der Architektur?

3. Juni 2017 - Christian Kühn
Wenn in 100 Jahren die Architekturgeschichte des 21. Jahrhunderts geschrieben ist, wird sie mit einem seltsamen Phänomen beginnen. Neben den zahlreichen Kunstmuseen, die nach demModell des Guggenheim Bilbao weltweit errichtet wurden, finden sich spektakuläre, vongroßen Automobilkonzernen beauftragte Gebäude und Anlagen mit ähnlich hohem architektonischem Anspruch. Einige nennen sich Welt, wie die BMW-Welt in München, andere Stadt, wie die Autostadt von VW in Wolfsburg, wieder andere bezeichnen sich als Museum, wie Mercedes und Porsche in Stuttgart. Museen haben ihre Wurzeln im Sakralbau, und so sind auch die neuen Autohäuser Kultstätten, zu denen Millionen ihren Weg finden: Das Mercedes-Museum ist das mit Abstand meistbesuchte Museum Stuttgarts. Die Budgets, die zur Errichtung dieser Häuser zur Verfügung standen, waren enorm, und sie verhalfen zu Beginn des Jahrhunderts einer Architektur zum Durchbruch, die von komplexen Geometrien und spektakulären Spannweiten und Auskragungen geprägt war. Ihre Hauptfunktion bestand darin, Eindruck zu machen.

Es wäre verwunderlich, hätte sich das Rennen um die beste automobile Kultstätte auf die großen deutschen Hersteller beschränkt. 2011 schrieb der Hyundai-Konzern, zu dem auch Kia gehört, für die Marke Hyundai einen Wettbewerb aus, der zwei Aufgaben umfasste: den Entwurf eines Flagship-Centers analog zu den deutschen Beispielen sowie ein Konzept für ein einheitliches Erscheinungsbild aller weltweiten Vertriebs- und Servicestellen der Marke.

Den Wettbewerb konnte das Wiener BüroDMAA/Delugan Meissl Associated Architectsfür sich entscheiden, von dem auch der Entwurf für das Porsche-Museum in Stuttgart/Zuffenhausen stammt. Die Direktoren von Hyundai hatten DMAA zum Wettbewerb geladen, weil sie nach einem Besuch in Zuffenhausen das Gefühl hatten, besser zu verstehen, was einen Porsche ausmacht. Für ihr eigenes Gebäude in Goyang, einer Satellitenstadt von Seoul, hatten sie allerdings eine Vorgabe, die sich deutlich vom deutschen Vorbild unterschied: Es sollte auf keinen Fall ein Museum werden, sondern ausschließlich der Gegenwart und der Zukunft gewidmet sein.

Dieser radikale Blick nach vorn wird verständlich, wenn man einige Kennzahlen der Stadtentwicklung Seouls betrachtet. Die Stadtregion hat inklusive mehrerer Satellitenstädte rund 24 Millionen Einwohner. Unter den Stadtregionen der Welt nimmt Seoul nach Tokio, New York und Los Angeles mit einem Bruttoregionalprodukt von 850 Billionen Dollar den vierten Platz ein. Das Regionalprodukt pro Kopf reicht an jenes Frankreichs oder Finnlands heran. Das Leben im Zentrum Seouls ist so teuer geworden, dass dort die Bevölkerungszahl zugunsten der Satellitenstädte leicht abnimmt. Dazu trägt auch ein U-Bahnsystem bei, das mit über 330 Kilometer Länge zu den größten der Welt gehört. Das Konzept von DMAA erzählt eine Geschichte, die ohne Bezüge zu einem konkreten Ort oder einer historischen Vergangenheit auskommt. Es arbeitet mit drei Begriffen, die räumliche Situationen andeuten: Landscape, Vertical Green und Shaped Sky. Eine künstliche Landschaft aus gestaffelten Podien bildet die Basis, darüber liegt ein gestalteter Himmel, und dazwischen wachsen vertikale Grünräume. Diese Erzählung funktioniert gut für kleine Showrooms, wo DMAA ein System aus polygonalen Podien, einer gestaffelten glänzenden Decke und Grünpflanzen vorschlagen. Spektakulär wird sie im Maßstab von 65.000 Quadratmetern in Goyang, wo unter dem schwebenden Dach ein multiperspektivischer Raum entsteht, derdurch Spiegelflächen zusätzliche Dynamik bekommt. Wie im Porsche-Museum oder bei ihrem Filmmuseum im Amsterdam begnügen sich DMAA aber nicht damit, die Besucher zu beeindrucken. Der Raum zwischen Himmel und Erde ist gut gestaltet und proportioniert, und er kennt neben dem großen Maßstab auch intimere Situationen. Der leicht konische Turm mit Büros blickt wie einBerg auf eine Terrasse hinunter, die in das Dach eingeschnitten ist und Mitarbeitern und Restaurantbesuchern einen Rückzugsraum bietet. Das Vertical Green wächst als Bambushain in mehreren Lichthöfen.

Wie die Architekturgeschichte des 21. Jahrhunderts über diese Art von Architektur urteilen wird, ist noch nicht abzusehen. In Tigerstaaten wie Singapur, Taiwan und Südkorea wird die Nachfrage nach ihr hoch bleiben. Wer in erster Linie an die unmittelbare Zukunft denkt und Erfolg mit Wirtschaftswachstum gleichsetzt, wird immer nach starken Formen suchen, um seinem Optimismus architektonisch Ausdruck zu verleihen. Ein atombombenbauendes Brudervolk in unmittelbarer Nachbarschaft ist dabei wohl ein zusätzlicher Ansporn.

Europa scheint sich von dieser Architektur weitgehend verabschiedet zu haben. Vor wenigen Tagen wurden die Preisträger des aktuellen Mies van der Rohe Preises bekannt gegeben, des alle zwei Jahre verliehenen Architekturpreises der EU. Der Hauptpreis ging an NL-architects für die Sanierung der Wohnhausanlage Kleiburg in Amsterdam aus den frühen 1970er-Jahren, einen 400 Meter langenBau mit elf Stockwerken und Laubengängen, der Teil einer viel größeren, auf einem hexagonalen Raster aufgebauten Satellitenstadt war. Statt diesen Dinosaurier des sozialen Wohnbaus abzureißen oder gestalterisch zu differenzieren, setzten NL-architects darauf, das ursprüngliche Konzept zu rekonstruieren, technisch zu sanieren und die Wohnflächen durch Zusammenlegung zu vergrößern. Die Wohnungen wurden im Rohbauzustand zum Selbstausbau vergeben. Eine Moderne der endlosen Wiederholung trifft hier auf die Bricolage im Kleinen, auf eine Individualisierung, die keine Architekten braucht.

Der Preis für die beste Arbeit eines jungen Büros ging ebenso an einen sozialen Wohnbau, ein kleines fünfgeschoßiges Haus mit fünf Wohnungen bei Brüssel. Das Büro MSA verpasste dem kleinen Turm eine leichtgeschwungene Fassade aus weißen Klinkern,mit der es aus seiner Umgebung herausleuchtet. Das Besondere an dem Projekt ist das komplexe Erschließungssystem mit Split-Level- und Duplex-Wohnungen. Auf einen Lift wurde, um Kosten zu sparen, verzichtet. Die Bewohner, so die Architekten, würden das gar nicht bemerken, da die Treppe so abwechslungsreich gestaltet sei. Der Glaube an Wunder, die Architektur vollbringen kann, ist offenbar ungebrochen.

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