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Das Wilde pflegen
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Wiens Nordbahnhof

Seit 25 Jahren wird geplant und gebaut. Jetzt wächst das Areal des ehemaligen Nordbahnhofs langsam zu einem neuen Stadtteil zusammen. Vom Stadtraster zur „Freien Mitte“: eine Mentalitätsgeschichte des Wiener Städtebaus.

29. Juli 2017 - Christian Kühn
Eine Wildnis mitten in der Stadt: So kann man den heute noch unbebauten Bereich des ehemaligen Nordbahnhofs in Wien-Leopoldau mit Recht bezeichnen. Das Gesamtareal ist das größte zentrumsnahe Entwicklungsgebiet der Stadt und soll bis zum Jahr 2025 Wohnungen für 32.000 und Büroflächen für 25.000 Menschen bieten. Im Grundriss gleicht es einem rechtwinkeligen Dreieck, mit der Nordbahnstraße und der parallel zu ihr geführten Schnellbahn als längster Seite und der Lassallestraße und der Vorgartenstraße als Katheten. Von diesen zwei Straßen her wurde das Gebiet seit den 1990er-Jahren in Etappen bebaut. Als erste markante Objekte entstanden die großen Blocks für IBM und die Bank Austria, beide entworfen von Wilhelm Holzbauer.

Der 1994 beschlossene Masterplan für die Bebauung stammt von Boris Podrecca und Heinz Tesar. Er sieht eine Bebauung in einem Raster vor, der an Otto Wagners Plan einer unbegrenzten Großstadt erinnert: hoheDichte, Baublöcke mit Innenhöfen, breite Alleestraßen und eine gewisse Monumentalität, zu der ein quadratisch angelegter Stadtpark im Format von 200 mal 200 Metern beiträgt. Eine parallel zur Schnellbahn und damit diagonal zum Blockraster geführte Allee spannt eine Achse zum zwei Kilometer entfernten Millenniumstower auf – den Podrecca im Tandem mit Gustav Peichl zu verantworten hat. In umgekehrter Richtung betrachtet ist die Entscheidung für diese Achse wenig glücklich. Sie zielt exakt auf die unattraktivste Ecke des IBM-Hauses, auf deren Quadratlochfassade der Stadtwanderer nun Hunderte Meter lang zugehen muss.

Bisher ist die südöstliche Hälfte des Areals annähernd nach diesem Masterplan bebaut, doch ist von der geplanten Blockrandidee nur noch wenig zu spüren. Vor allem im Wohnbau haben sich die Bautypen durchgesetzt, die Wiener Bauträger am liebsten haben: Zeilen und kompakte frei stehende Punkthäuser, wobei dieses Grün im schlimmsten Fall mit Maschendrahtzaun von der Straße abgetrennt ist. Ein traditioneller Stadtraum kann so jedenfalls nicht entstehen. Wildnis findet sich heute noch auf dem unbebauten Teil des Areals im Westen und Norden. Diese hat ihre Freunde, auch wenn es sich nur um eine spezielle, von industriellen Spuren durchzogene Kulturlandschaft handelt, die in den vergangenen Jahrzehnten langsam verwildert ist.

Ein mitten in diesem Areal gelegener, denkmalgeschützter alter Wasserturm mit einigen angeschlossenen Lagerhallen ist seit einigen Wochen Schauplatz zahlreicher miteinander verschränkter Aktivitäten, die einen pfleglichen Umgang mit dieser Kulturlandschaft zum Ziel haben. Dabei kooperieren universitäre Forscher, Bauträger, Masterplaner und das Architekturzentrum Wien für drei Jahre mit lokalen Initiativen. Ineinem Forschungs- und Entwicklungsprojekt mit dem Titel „Mischung Nordbahnhof“ sollen Strategien für eine Nutzungsmischungdes Stadtteils erarbeitet werden, die vermehrt „von unten“ kommen, durch Beteiligung der Bewohner. In diesem Sinn agieren auch sechs internationale Architekturteams, die von Angelika Fitz und Elke Krasny, den Kuratorinnen des Projekts „Care and Repair“, eingeladen wurden, vor Ort mit lokalen Experten und Nachbarn zu arbeiten und Prototypen für eine andere Planungshaltung zu entwickeln. So hat etwa die belgische Gruppe Rotor Überlegungen zur systematischen Einschleusung von gebrauchten Materialen in den Bauprozess angestellt. Gleichzeitig machten sie die Grenze zwischen zukünftiger Bebauung und Freier Mitte als weiß gekalkte Linie auf dem Boden sichtbar und legten überwucherte Infrastrukturen frei, um den Wert der vorhandenen Kulturlandschaft zu betonen. Zwei andere Teams arbeiteten mit migrantischen Gruppen aus der Umgebung an der Frage, wie auch sie vom neuen Stadtteil profitieren könnten, von öffentlichen Räumen bis zu wirklich finanzierbarem Wohnraum.

Das klingt romantisch und ist es teilweise auch. Die Vorstellung, Stadtraum achtsam aus vorhandenen Substanz heraus zu entwickeln, ist allerdings eine Grundhaltung, die über Romantik hinausgeht. Im konkreten Fall soll sie nicht nur „bottom-up“durchgesetzt werden, sondern auch „top-down“ durch einen neuen städtebaulichen Masterplan. Für den noch unbebauten Teil des Areals fand 2012 ein weiterer städtebaulicher Wettbewerb statt, den Bernd Vlay und Lina Streeruwitz mit einem Projekt für sich entschieden, das quasi die Antithese zum Masterplan von Podrecca und Tesar darstellt. Statt eines Blockrasters sieht dieser mit den Landschaftsarchitekten Agence Ter entwickelte Plan vor, die Mitte des Areals als Grünraum frei zu halten und dafür an den Rändern dichter und höher zu bauen. Von den rund 500.000 Quadratmetern Nutzfläche soll ein Fünftel in Gebäuden liegen, die über die baurechtlich definierte Hochhausgrenze von 35 Metern hinausragen. Das verursacht zusätzliche Kosten, die aber teilweise durch geringere Aufwände für Straßen und Kanäle kompensiert werden. Der Vorteil dieser Freien Mitte mit dichter Bebauung am Rand besteht darin, mehr Leben und Nutzungsmischung in die Sockelzonen bringen zu können, die durch die Lage am „Central Park“ besonders attraktiv sind.

Das Konzept stellt die Stadt vor neue Herausforderungen. Nicht zuletzt geht es umdie Frage, wer die Pflege des Grünraums in der Mitte übernehmen soll. Als Park wäre er dem Bezirksbudget zuzurechnen. Die von den Architekten geplante Form einer pflegeleichten Halbwildnis stieß vorerst bei den Beamten auf wenig Gegenliebe: aus Haftungsgründen und aus Angst vor Kritik der Bevölkerung an einem „ungepflegten“ Park. Im Rahmen der Bürgerbeteiligung stellte sich diese Furcht als grundlos heraus. Die aktuellen Aktivitäten am Wasserturm geben Hoffnung, dass es genug Freiwillige geben wird, um diese Wildnis sinnvoll zu nutzen.

Am anderen Ende des Areals ist inzwischen der Blockraster weitergewuchert. Auch hier gab es einen neuen städtebaulichen Wettbewerb, den wieder Boris Podrecca gewann. Er brachte die Blockränder zeitgeistig zum Schwingen und hob sie teilweise vom Boden ab. Eigentlich hätten in der Umsetzung mehrere Architekten zum Zug kommen sollen. Der Investor sparte sich die Mühe und beauftragte Podrecca mit dem gesamten Projekt. Nur für einen kleinen Bauteil Richtung Praterstern wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Statt echter Vielfalt gibt es jetzt Fassadenakrobatik. Und eine weitere Gegendin Wien, die man meiden sollte.

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