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Sündenbock gesucht: Wer stößt das meiste CO2 aus?
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Die Baubranche, heißt es, verursacht über 40 Prozent der globalen CO2-Emissionen. Aber das stimmt nicht, wenn man sich die Zahlen genau anschaut.

31. Oktober 2025 - Harald Trapp, Gerhard Flora
Seit geraumer Zeit ist die Architektur wohl jene Disziplin, die ihre eigene Klimaschädlichkeit am lautesten an den Pranger stellt. Kaum ein Vortrag, kaum eine Diskussion zu dem Thema, in der nicht schon zu Beginn darauf verwiesen wird, dass der Gebäude- und Bausektor mit Abstand den größten Anteil an globalen CO2-Emissionen verursacht. Üblicherweise ist von 40 % die Rede, offenbar in Anlehnung an einen Bericht des Umweltprogramms der UNO (UNEP). Darin heißt es: „The buildings and construction sector is by far the largest emitter of greenhouse gases, accounting for a staggering 37 % of global emissions. The production and use of materials such as cement, steel, and aluminum have a significant carbon footprint.“ Doch schon ein etwas genauerer Blick in das zitierte Papier zeigt, dass rund drei Viertel der angeführten Emissionen nicht durch die Herstellung („embodied carbon emissions“) von Gebäuden, sondern durch deren Betrieb verursacht werden („operational carbon emissions“). Auf das Bauen entfallen dem Bericht zufolge 9,7 % der globalen CO2-Emissionen – nicht 44, wie häufig verkündet.

Für eine informierte Diskussion also ist die Klarstellung wichtig, dass 27,3 % der globalen Emissionen aus dem täglichen Gebrauch von Gebäuden stammen. Was das alles umfasst, definiert der Bericht wie folgt: „Operational emissions are the emissions generated through the function and maintenance of the building. They are released while maintaining the building’s indoor „comfort levels“, including by heating, cooling, lighting and electrical appliances.“

Medienwirksame Selbstanklage

Das bedeutet: Jeder Mensch, der die Heizung oder Klimaanlage zu Hause oder im Büro einschaltet, mit dem Lift fährt, das Licht anlässt, den Fernseher andreht, den Computer über Nacht im Standby-Modus laufen lässt, sein Handy täglich mehrmals lädt, einen Kühlschrank, Wäschetrockner oder eine Waschmaschine verwendet und sein Elektroauto in der Garage ansteckt, während er in die eigene Sauna geht, trägt in dieser Rechnung zu den Emissionen des „Gebäudesektors“ bei. Selbst ohne noch tiefer in die Unklarheiten der Messungen abzusteigen, kann das doch als erstaunlich bezeichnet werden.

Während andere Quellen die Energieversorgung daher vom Bauen entkoppeln, um ein entzerrteres Bild zu zeigen, variiert in der öffentlichen Diskussion zumeist lediglich die genaue Bezeichnung des Sündenbocks. Abwechselnd wird „der Gebäudebereich“, „die Baubranche“, „der Bausektor“, „das Bauwesen“, „die Bauindustrie“ oder – noch vereinfachender – schlicht „die Architektur“ als Verursacher der immer wieder zitierten 40 % der globalen CO2-Emissionen dargestellt. Folglich wird damit aber das Bild der tatsächlichen Beteiligung der einzelnen Verschmutzer verzerrt. Den wahren Großemittenten, den Automobilisten und Flugreisenden, konnte nichts Besseres passieren als die medienwirksame Selbstanklage der Architektenschaft: Auf einmal stehen sie ganz leicht da und wirken im Vergleich zum Monster „Bauindustrie“ schon fast naturnah. Tatsächlich aber macht der Sektor „Verkehr“ (Transportation) 20 bis 25 % der globalen CO2-Emissionen aus, also mehr als doppelt so viel wie die Herstellung von Gebäuden.

Dennoch meinte neulich ein renommierter Architekturprofessor in einem Vortrag, dass er sich angesichts der berühmten 40 % „des Baugewerbes“ wohl nicht mehr zu schämen brauche, wenn er fliege, statt mit der Bahn zu fahren. Dabei ist in den Zahlen zum CO2-Ausstoß des Flugverkehrs nur der Betrieb der Flugzeuge, nicht aber die enorme dafür nötige Infrastruktur enthalten. Wo werden die Flughäfen, die Hallen der Flugzeugindustrie, die überall nötige Verkehrsanbindung und der Verbrauch des Verkehrs dorthin und wieder zurück erfasst? Werden die riesigen Terminals und ihre Betriebskosten dem Gebäudesektor zugerechnet oder dem Flugverkehr? Verwundert kratzt man sich am Kopf und denkt: Warum fragt eigentlich kaum jemand nach?

Wir alle sind „die Wirtschaft“

Entscheidend für eine realistischere Entscheidungs- und Handlungsgrundlage könnte es sein, die Schädlichkeit in Relation zum gesellschaftlichen Nutzen der entsprechenden Verschmutzer zu bringen. Etwa durch die einfache Untersuchung, wie viel Zeit der durchschnittliche Mensch mit oder in diesem Emittenten verbringt. Selbst Piloten dürften sich den größten Teil ihres Lebens in Gebäuden und nur einen Bruchteil in Flugzeugen aufhalten. Wäre es nicht sinnvoll, diesen „gesellschaftlichen Gebrauch“ mit dem Verbrauch an Ressourcen gegenzurechnen, um übereilten Schlussfolgerungen vorzubeugen und gezieltere Gegenmaßnahmen zu entwickeln? Bevor etwa selbst für sozialräumlich unzulängliche Bausubstanz ein Abrissmoratorium gefordert wird? Oder um darüber nachzudenken, ob ein pauschales Erhaltsgebot des Bestandes, also auch aller Speckgürtel und Schlafstädte, nicht gleichsam die Vormachtstellung des Automobils als einem der verhältnismäßig größten Emittenten von Treibhausgasen festigt?

Statt zu differenzieren und zu berücksichtigen, dass Menschen den Großteil ihres Lebens in Gebäuden verbringen, werden enorme Schädlichkeitswerte durch schwammige Begrifflichkeiten in der alltäglichen Wahrnehmung pauschal „der Bauwirtschaft“ zugeschoben und dadurch zur willkommenen Ausrede für all jene, die die persönliche Bequemlichkeit und den alltäglichen Komfort ihren Bedenken in der Regel voranstellen. „Die Politik“ (als wären das nicht wir alle) und „die Wirtschaft“ (auch zu der gehören wir alle, als Produzenten oder Konsumenten) seien es, die Lösungen zu entwickeln hätten. Gerade von den größten Individualisten werden so übermächtige abstrakte Akteure bemüht, während vor allem das eigene Handeln oder vielmehr Unterlassen gefragt wäre. Beides, so Max Weber, ist soziales Handeln, so es sich auf andere Menschen bezieht. Und das tut jeder Ressourcenverbrauch in unserer vernetzten Welt.

KI-Unterstützung?

Der Betrieb von Gebäuden wird maßgeblich durch das Verhalten ihrer Nutzer und Bewohner, durch deren Komfortbedürfnisse und nicht zuletzt deren Nachlässigkeiten beeinflusst. Die Verantwortung für 40 % der globalen CO2-Emissionen liegt also zu einem großen Teil eben nicht bei einem anonymen Akteur wie „der Bauindustrie“, sondern maßgeblich bei jedem einzelnen Menschen. Muss der Rechner die ganze Nacht durchlaufen, damit man sich morgens das Hochfahren erspart? Brauchen so viele Österreicher private Saunakabinen und Dampfbäder?

Klar muss sein, dass jedes Prozent in die Atmosphäre geblasene CO2 eines zu viel und zu reduzieren ist. Doch eine unkritische Verbreitung von Zahlen wie der berühmten 40 % und die damit verbundene Verschiebung von Verantwortung sind dabei nicht förderlich: Schon die ersten Seiten des UN-Berichts genauer zu lesen ist der Mühe wert. Natürlich kann man sich aber auch von einer CO2-exzessiven KI unterstützen lassen, die beim Öffnen sogleich eine Warnung ausspricht: „Dieses Dokument scheint lang zu sein. Spare Zeit und lies eine Zusammenfassung.“

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