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Zum Heulen!
Zum Heulen!, Foto: Volker Derlath
Spectrum

Um die Gefühlskomponente in der Baukunst ist es schlecht bestellt, sowohl in der Praxis wie auch in der Theorie. Architektur ist und bleibt eine Disziplin allein des Intellekts. Leider. Ein Plädoyer für „Love, Sex and Architecture“.

19. März 2004 - Wojciech Czaja
Kennen Sie das Buch „Blume ist Kind von Wiese“? Eine Wiener Volksschullehrerin hat dafür jahrelang Begriffsumschreibungen von Kindern nichtdeutscher Muttersprache zusammengetragen. So lautet etwa die Definition von Philosophie: „Viel so viel, so viele Bücher, so viele Seiten, so viel denken, so viel Kopf.“ Aus geisteswissenschaftlicher Sicht eröffnet da ein Achtjähriger mit seiner Aussage freilich ein weites Kampffeld, doch er bringt auf den Punkt, was nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern auch die Architekturpublizistik und -kritik so prägt. Denn was da alles gedacht, analysiert, hinterfragt und kritisiert wird, ist mitunter zum Gähnen. So schreibt etwa Fritz Neumeyer, Professor für Architekturtheorie an der Technischen Universität Berlin, in seinem Essay „Nachdenken über Architektur“: „Modernes Denken bewegt sich im Vernehmen und Einvernehmen dessen, was ist, und zugleich auch immer dessen, was
sein kann und folglich möglich sein soll.“ Alles klar?

Wie schön wäre es, wenn die verschiedenen Disziplinen in Symbiose existieren könnten. Doch anstatt einander zu bereichern und die Möglichkeiten zuzulassen, voneinander zu profitieren, ist es mit dem interdisziplinären Gedanken in Österreich nicht weit her, und an seine Stelle tritt das schöne, weil klare lineare Schema: Zuerst die Architektur, dann die dazugehörige Publizistik. Und so verkommt alles Denken über Architektur zu einem Hinterher-hecheln, je nach zu publizierendem Projekt einmal etwas fröhlicher, dann wieder in Trockenheit verröchelnd. „Es gibt so viele Möglichkeiten der Äußerung von Architektur, notwendige und überflüssige“, fasst Rem Koolhaas zusammen. „Deshalb wird Architektur für mich besser definiert, wenn nur das gebaut wird, was auf keine andere Art vermittelt werden kann.“ Und so klingt selbst einer, der in der gesamten Szene mit jedem neuen Projekt regelmäßig für Aha-Effekte sorgt und der gemeinhin nicht unbedingt als Pragmatiker und Utilitarist unter den Architekten gilt, plötzlich gleich wieder langweilig und unspektakulär.

„Warum sollen wir Dinge nur dann machen, wenn sie funktionell sind?“, kontert Françoise-Hélène Jourda, Architektin und Professorin an der Technischen Universität Wien. Von den Verboten und Voraussetzungen der modernen Architektur will sie gar nichts mehr wissen, denn immer nur politisch korrekte Konzepte seien auf Dauer langweilig. „Wenn wir es nur schaffen würden, zu Spaß und Freude zurückzukehren!“ Und auch der amerikanische Architekt Steven Holl ist der festen Überzeugung: „Der Kopf muss leer sein!“ Weshalb er das unbedingt sein muss? Falsche Frage - unverzüglich verstrickt sich Holl in Erklärungen und Hypothesen, im Nu ist das eben noch leere Denkzentrum des Menschen wieder bis zum Bersten gefüllt. Doch Aerobic für die Ganglien gehört in der Architektenschaft mittlerweile ohnehin zum guten Ton, man kann es drehen und wenden, wie man will: Architektur ist und bleibt eine Disziplin allein des Intellekts. Was schade ist.

Etwas mehr Esprit gefällig? Nun, statt immer nur zu denken, könnte man auch einmal lachen und weinen, vor Begeisterung hüpfen oder sich melancholisch hinter Jan Turnovskys Mauervorsprung verstecken (der den Versuch, Architektur nicht nur rationell, sondern eben auch einmal - beispielsweise - poetisch anzugehen, zumindest gewagt hat). Disneyland, Wurstelprater, diverse Pavillons auf diversen Expos, Themenparks und Kinoplexxxxe aller Art stellen unter dem subsummierenden Begriff Fun-Architecture dar, wie statt der Psyche nun Körper und Herz zum Zug kommen. Zwischen sprechenden Schlumpfhäusern, überdimensionalen Karotten und potemkinschen Renaissance-Städten fragt man sich letztlich nur, ob das denn tatsächlich sein kann, was Jourda unter Spaß und
Freude versteht.

„Die Architektur ist seltsamerweise nicht allen Modifikationen des Schönen zugänglich wie die übrigen Künste“, meint Dagobert Frey in seiner 1925 erschienenen Untersuchung „Wesensbestimmung der Architektur“. „Es gibt keine tragische und es gibt keine komische Architektur.“ Aber gibt es emotionale Architektur? Obwohl Bauwerke letztlich immer nur nach formalästhetischen und streng konzeptionellen Kriterien beurteilt werden, wird selbst erstsemestrigen Architekturstudenten bereits nahe gelegt, nicht nur an die Rezeptionsfähigkeit des Auges allein zu denken. Und so ist jedes Projekt plötzlich haptisch aufregend, ist in eine auditive Kulisse eingebettet, verströmt olfaktorische Reize und - na ja, mit dem Schmecken hapert's noch. Was neben allen intellektuellen und Sinneswahrnehmungen unterm Strich aber immer noch zu
kurz kommt, ist ironischerweise die Gefühlsebene selbst.

Die Emotion als verstümmelter Appendix am unbesiegbaren Architektenhirn? „Mittler zwischen Hirn und Hand ist das Herz“, verrät schon der Vorspann von Fritz Langs „Metropolis“ aus dem Jahre 1927, der sich mit der Trennung von Denken und Handeln befasst. Ein Dreivierteljahrhundert später hat sich die ehemals beherzte Feststellung zum modernen Slogan „Love, Sex and Architecture“ gewandelt. Während Hans Hollein bereits 1958 seinen unverschämten Skyscraper in Form eines erigierten Penis für Chicago entworfen hat (im Endeffekt nichts anderes als ein verfrühtes Achtundsechziger-Provokationsexempel mit Gefühlen und Trieben), hat es noch einige Jährchen gedauert, bis erste visionäre Ansätze in Österreich tatsächlich zum Tragen kamen. So beispielsweise der nackte Salzburger Triumphbogen der Künstlergruppe Gelatine im Sommer 2003. Der Triumph der einen währte nicht lange, tatsächlich nämlich durfte ihn letztlich die Prüderie für sich verbuchen.

Wenn es also darum geht, Architektur zur Abwechslung einmal emotional statt rational zu rezipieren, bleibt das Spektrum nach wie vor recht schmal. Stets eine Gratwanderung zwischen Kunst und Kitsch, ist es schlecht bestellt um die Gefühlskomponente in der Baukunst. Sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Denn Perzeptionswerkzeuge wie Herz und Emotionen, die in Kunst, Literatur und Musik geduldet, ja sogar gefordert sind, sind an dieser Stelle gänzlich verpönt. Ganz zu schweigen von Lachen und Weinen.

Stattdessen spricht man hierzulande gerne vom Auslachen, oder - auch das ist en vogue - etwas ist gleich einmal zum Heulen. Statt Lebensräume von Menschen zu optimieren, bemüht man sich meist nur um die Umwelt derjenigen, deren Fähigkeit und Bereitschaft zur Architekturauffassung unseren Insider-Maßstäben überhaupt erst gerecht wird. „Die Architektur von uns Architekten ist sicherlich steril und schematisch im Vergleich zur Sensibilität des Dichters“, meint Juhani Pallasmaa, Professor an der Universität Helsinki. Sein Plädoyer für die emotionale Komponente in der Architektur fällt unüberhörbar aus: „Das Spektrum der von der heutigen Architektur übermittelten Emotionen ist auf die visuelle ästhetische Komponente verengt, und es mangelt ihm sowohl am Extrem der Melancholie und Tragik als auch an dem der Ekstase.“

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