Unter abenteuerlichen Bedingungen

Die katholische Kirche in Polen ist ein religiös-gesellschaftlicher Schutzraum. Zur Zeit des Kommunismus war sie sogar Trägerin einer Selbsthilfe-Sakralbaukultur. Doch ihr Einfluss im Volk schwindet.

Oliver G. Hamm
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Akzent in der Retortenstadt – die 1977 von Wojciech Pietrzyk in Nowa Huta vollendete Kirche der Muttergottes. (Bild: Igor Snopek)

Akzent in der Retortenstadt – die 1977 von Wojciech Pietrzyk in Nowa Huta vollendete Kirche der Muttergottes. (Bild: Igor Snopek)

Die Gleichung des von 1669 bis 1673 herrschenden Königs Michael I., «Polak = Katholik», hat auch heute noch weitgehend Gültigkeit. Doch der Katholizismus in Polen – und nicht zuletzt die Beziehung der katholischen Kirche zu Staat und Gesellschaft – befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) geriert sich betont konservativ und erzkatholisch. Sie sucht den Schulterschluss mit dem Klerus – was sich unlängst etwa beim schliesslich gescheiterten Versuch, das ohnehin schon rigide Abtreibungsrecht zu verschärfen, gezeigt hat. Dagegen schwindet der Einfluss der polnischen Bischöfe und Priester auf die Gläubigen, insbesondere in den Städten. Immer mehr Polen, vor allem junge und liberal eingestellte, bleiben dem Gottesdienst fern. Zwar waren 2013 laut Statistik 87 Prozent der 38,5 Millionen Polen getauft und bezeichneten sich als gläubige Katholiken, doch nicht einmal jeder Zweite geht sonntags noch regelmässig zur Messe. Der Glaube wird zunehmend privat und in Abgrenzung von der Amtskirche gelebt.

Religiöser Schutzraum

Polen blickt auf eine lange Geschichte der Symbiose zwischen römisch-katholischer Kirche, Volk und Staat zurück. Sie begann bereits im Jahr 966, als Fürst Mieszko I. aus dem Geschlecht der Piasten den christlichen Glauben seiner Braut, der böhmischen Fürstin Dąbrówka, annahm. Die Bindung zwischen Kirche und Volk war immer dann besonders stark, wenn Polen durch fremde Mächte bedroht, der Staat unterminiert oder gar ausgelöscht wurde. Die erfolgreiche Abwehr der 1655 einfallenden protestantischen Schweden durch die Mönche des Pauliner-Klosters Jasna Góra – Hüter der angeblich wundertätigen Ikone der Schwarzen Muttergottes – begründete die symbolische Krönung Marias zur Königin Polens.

In der Zeit, als die königliche Republik Polen-Litauen Ende des 18. Jahrhunderts unter den drei europäischen Grossmächten Russland, Preussen und Österreich-Ungarn aufgeteilt worden war und es bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gar keinen polnischen Staat mehr gab, war es der katholische Glaube, der die Nation zusammenhielt. Und nach der Westverschiebung des polnischen Staatsgebietes infolge des Potsdamer Abkommens vom August 1945 und der Gründung einer unter sowjetischem Einfluss kommunistisch regierten Volksrepublik Polen war es die katholische Kirche, die den Gläubigen einen religiös-gesellschaftlichen Schutzraum bot, der von den Kommunisten geduldet werden musste.

Dieser Schutzraum bot den Rahmen für einen besonderen Aspekt der polnischen Geschichte, den Bauboom im Bereich der sakralen Gebäude in der von 1947 bis 1989 dauernden Zeit der kommunistischen Herrschaft, dem sich unter dem Titel «Architektur des VII. Tages» noch bis zum 28. Februar eine Ausstellung im Polnischen Institut Berlin widmet. In kaum mehr als vier Jahrzehnten entstanden in Polen unglaubliche 3779 Kirchen, die nicht nur als Ausdruck des Glaubensbekenntnisses, sondern auch als Zeichen des Widerstands gegen den Kommunismus – dessen Atheismus in Polen nie einen tragfähigen Grund fand – interpretiert werden können. Sowohl das Volumen als auch die Gestaltungsvielfalt und insbesondere die oft abenteuerlichen Entstehungsbedingungen dieses grössten jemals von einer Zivilgesellschaft initiierten und schliesslich auch realisierten Selbsthilfe-Bauprogramms geben vielfachen Anlass zum Staunen.

Viele der Sakralbauten entstanden nach der «Schwalbenmethode»: schrittweise, oft über grosse Zeiträume hinweg und immer an die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten angepasst. In einer Zeit, als Crowdsourcing und Crowdfunding noch gar nicht «auf dem Schirm» waren, waren es viele individuelle Spenden an Geld und Material sowie freiwillige Arbeitseinsätze der Gemeindemitglieder, die erst den Kirchenbau ermöglichten. So prägen zum Beispiel in Nowa Huta, dem um ein Eisenhüttenwerk entstandenen Stadtteil am Rande Krakaus, aus den Ferien mitgebrachte Kieselsteine das äussere Erscheinungsbild der 1967 von Wojciech Pietrzyk als ovale Arche entworfenen und bis 1977 vollendeten Kirche der Muttergottes, Königin von Polen. Die notwendigen Stahlträger hatten Hüttenarbeiter übrigens illegal aus dem grossen Werk «abgezweigt».

Die kommunistischen Machthaber erschwerten die Bemühungen zum Kirchenbau, wo und wie sie nur konnten – etwa durch Zuweisung von häufig unattraktiven Baugrundstücken an Hauptverkehrsstrassen, auf nicht tragfähigem Baugrund oder abseits von Siedlungen und durch das Vorenthalten von Baumaterialien und grossen Baumaschinen, mit denen im industriellen Produktionsprozess zwar Wohnhäuser und Verwaltungsbauten, aber eben keine Kirchen hochgezogen wurden.

Daher behalfen sich die Gemeinden mit Provisorien. Zum Beispiel beim Bau von Stanisław Niemczyks Heilig-Geist-Kirche in Tychy (1978–1982): Um die erforderlichen grösseren Bauelemente aus Beton herzustellen zu können, koordinierten neun fachkundige Rentner und weitere freiwillige Aufbauhelfer den Produktionsprozess mithilfe zahlreicher einfacher Betonmischer. Und wenn gar nichts anderes mehr half, bediente man sich auch einmal eines illegalen Tricks, etwa bei der Sankt-Lorenz-Kirche in Breslau (1978–1980), die gegenüber der zuständigen Behörde als Lagergebäude deklariert worden war, um eine Baugenehmigung zu erwirken. Die Architekten Wiktor Dziełaj und Zenon Pretozyński liessen sich von der Sünde, einen staatlichen Beamten betrogen zu haben, von Kardinal Henryk Gulbinowicz freisprechen.

Kirche im Wandel

Der Sakralbau, der gestalterisch einige höchst bemerkenswerte Blüten trieb, erlebte zwei grosse Phasen: einerseits die «Tauwetter-Periode» in den ersten Jahren nach Stalins Tod (1953), anderseits die 1980er Jahre, nachdem der frühere Krakauer Kardinal Karol Wojtyła zum Papst Johannes Paul II. gewählt worden war und 1979 Polen besucht hatte. Gleichzeitig war mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarność (1980) ein gesellschaftlicher Wandel eingeleitet worden, der das Ende des Regimes einläutete. Nachdem sich Staat und Kirche im kommunistischen Polen lange offen bekämpft haben, betonen sie heute wieder die symbolische Einheit von Kirche, Staat und Volk – etwa mit dem kürzlich eingeweihten Tempel der Göttlichen Vorsehung in Warschau (von Wojciech Szymborski). Dass das Volk, die polnische Gesellschaft, angesichts der nationalkonservativen und rechtspopulistischen Attitüden der Regierungspartei PiS längst gespalten ist und in den 10 201 Pfarreien liberale Geistliche zunehmend mit konservativen Hardlinern um die Deutungshoheit in der katholischen Kirche ringen, steht allerdings auf einem anderen Blatt.