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TEC21 2017|09-10
Lehmarchitektur entwickeln
TEC21 2017|09-10
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Lehm zum Tragen bringen»

Anna Heringer, Martin Rauch, Roger Boltshauser und Jeremy Hoskyn gehen der Frage nach, weshalb Lehmbauten in Städten eine Ausnahmeerscheinung sind. Was muss sich ändern, damit das Material alltäglich wird?

3. März 2017 - Danielle Fischer
TEC21: Wird in der Stadt Zürich oft mit Lehm gebaut?
Jeremy Hoskyn: In den letzten 20 Jahren baute die Stadt Zürich die Gerätehäuschen auf dem Areal Sihlhölzli und den Kinderhort Allenmoos. An beiden Projekten waren Roger Boltshauser und Martin Rauch beteiligt. Für uns als öffentliche Bauherrschaft ist Lehm ein Baustoff wie jeder andere auch – weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie damit umgegangen wird. Wir machen keine Vorgaben bezüglich Konstruktion und Materialisierung, der Impuls muss von den Architekten in den Wettbewerben kommen.
Martin Rauch: Im städtischen Triemlispital wurden 5000 m² Decken in den Krankenzimmern mit Lehm verputzt (vgl. TEC21-Sonderheft «Neubau Bettenhaus Triemlispital Zürich»). Auch wenn das nicht erkennbar ist, ist es wesentlich, denn dass Lehm klimaregulierend ist, beeinflusste die Kosten für die Belüftungsanlagen positiv. Auch durch den 3 cm dicken Verputz beim Landesmuseum in Bregenz sanken die Kosten für die Klimaanlage um 40 %. Vor 15 Jahren hätte kein Klimatechniker Lehm verwendet. Da hat sich etwas geändert.

TEC21: Braucht es gar nicht immer eine Vollbauweise, um das Material gesellschaftlich zu etablieren?
Anna Heringer: Der Altbaubestand in Europa ist riesig, und zu seiner Sanierung kann Lehm eingesetzt werden. Die Vollbauweise braucht dagegen eine relativ hohe Risikobereitschaft, so wie alles Neue und Ungewohnte.
Roger Boltshauser: Lehm eignet sich für Putz, Beplankungen, Wände oder Teilwände, er hat grosses Hybridpotenzial. An der EPFL haben wir ihn mit Holz, Recyclingbeton oder Stahl zu einem Hybrid kombiniert. So konnten Statik, Dämmungen oder Bauabläufe verbessert werden. Viele Möglichkeiten entdeckt man erst allmählich.

TEC21: Besteht also auch Forschungsbedarf?
Roger Boltshauser: Für Bauphysik und Bautechnik trifft das zu. Je nachdem, wie gut Lehm dämmt, ist er weniger tragfähig – oder umgekehrt. Das Dämmverhalten im Bezug auf die Lehmmischung und die Tragfähigkeit muss untersucht werden, der Feuchtigkeitshaushalt und die Bilanz der grauen Energie. Beim Bau des Ozeaniums in Basel machen wir Ver­suche, die Lehmwände als Speicher­masse zu ver­wenden. Durch die Einlage eines Leitungsregisters wird eine Wärme- und Kälterückgewinnung möglich (vgl. TEC21 7–8/2013).
Martin Rauch: Über Lehm wird mehr geredet, als dass damit gebaut wird. Vor allem aber sind die daran beteiligten Fachleute zu wenig vernetzt. Wir haben jetzt ein Forschungsprojekt mit Trans­solar[1] und der neuen Alnatura-Firmenzentrale in Darmstadt. Dabei soll die graue Energie der in Vor­fertigung produzierten Fassade des neuen Alnatura Campus in Darmstadt untersucht werden. Stromwandler messen im Moment den Energieverbrauch der Vorfertigungsanlage.

TEC21: Wie gross ist das Interesse an Lehmbau unter Architekten und in der Ausbildung?
Anna Heringer: Architekten und Bauherren nehmen Lehm noch zu wenig zur Kenntnis. Aber in unserem Entwurfsstudio an der ETH Zürich 2015/2016 und auch am Lehrstuhl von Annette Spiro war das Interesse gross. Es gibt beim Lehmbau viel zu entdecken, das finden die jungen Leute spannend.
Roger Boltshauser: Das ist auch bei uns an der EPF Lausanne so. Die Gastprofessur hat dort viele Studierende ange­zogen, denn Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema. Gerade in der Zeit der Digitalisierung wollen junge Leute wieder direkt mit dem Material in Kontakt kommen – vor allem in Bezug auf Lehmbau, da es hier noch viel zu entdecken gibt.

TEC21: Wirkt sich diese Interesse an den Hochschulen bereits auf Wettbewerbsebene aus?
Jeremy Hoskyn: Lehmkonstruktionen oder auch Lehmputze im Innenbereich kommen bei Wettbewerbsprojekten nur selten vor.
Martin Rauch: Das sehe ich anders. Wir werden monatlich angefragt – wenn ein Büro z. B. Stampflehmwände im Wettbewerb vorschlägt. In Paris entsteht in einem Universitätscampus eine 7000 m² grosse Lehmfassade, bei der wir beratend tätig sind.
Anna Heringer: Ich kenne viele Architekten, die bei den zahlreichen Wettbewerben, die sie machen, gern Lehm verwenden würden. Aber im konkreten Fall sind sie sparsam, weil sie das Risiko minimieren wollen, bei der Jury wegen der hohen Kosten durchzufallen. Vielleicht würde Lehm mehr verwendet, wenn bei Wettbewerben erwähnt würde, dass auch natürliche, lokale Materialien geschätzt sind.
Roger Boltshauser: Wir fragen uns auch immer wieder, wie viel Lehm wir einsetzen sollen. In den Kalkula­tionen und Tools für die Wettbewerbsabgaben ist Lehm nicht aufgeführt. Zum Beispiel bei den Kosten weiss man nicht, was der Kostenplaner auf der anderen Seite einsetzt. Mehr Grundlagen gäben uns und den Bauherren Sicherheit.
Jeremy Hoskyn: Öffentliche Bauherrschaften beurteilen ein Bauprojekt immer auch nach den Kosten in der Erstellung und im Unterhalt. Es ist schwierig für einen Kostenplaner, eine Stampflehmwand richtig zu erfassen. Wenn es in halb Westeuropa nur den Martin Rauch gibt, der sie bauen kann, dann fehlt es an Industrie und an Konkurrenz, aber auch an Ausbildung und Forschung. Das führt dazu, dass die Wirtschaftlichkeit der Lehmbauten nicht so einfach nachvollziehbar ist.
Martin Rauch: Oder anders gesagt, Lehm hat keine Lobby, die seine Entwicklung finanziert. Er war schon immer ein Krisenbaustoff, und Kohle und Erdöl verdrängten ihn im Lauf der Industrialisierung: Materialien wie Ziegel, Beton und Stahl waren billig. In Zeiten mit wenig Energie und vielen Arbeitslosen kam Lehm wieder zum Tragen und wurde staatlich gefördert. Wir haben zurzeit keine finanzielle Krise, aber eine ökologische, und hinterfragen den Sinn unseres Tuns. 85 % von dem, was wir bauen, ist Abfall – das muss irgendwann recycelt werden.

TEC21: Sollten wie im Holzbau auch Förderprogramme oder Regulierungen etabliert werden?
Anna Heringer: Ja, die öffentliche Hand müsste eingreifen. Es geht um gutes Raumklima und den Aufbau von Sozialstrukturen durch partizipative Bauprozesse im Rahmen der handwerklichen Herstellung. Das sollten Gründe sein, das Material aufzugreifen – z. B. über die Finanzierung von Workshops. Nachhaltigkeit muss von oben mitgetragen werden, davon bin ich überzeugt. Von allein geht nichts. Regulierungen wären fair – wie das beim Holz geschieht.
Roger Boltshauser: Es gibt auch Einflussmöglich­keiten für öffentliche Bauherren, um Unternehmer zum Umdenken zu bewegen – indem sie CO2-Bilanzen einfordern. Christian Keller von Keller Holding, ein Ziegelfabrikant, entwickelt neu Produkte aus un­gebranntem Lehm, um die CO2-Bilanz des Unternehmens zu verbessern. Es geht auch um ökonomische Vorteile der Firmen.

TEC21: Braucht es eine spezifische Architektursprache?
Martin Rauch: Junge Architekten sind gefordert, eine solche Sprache zu entwickeln. Als ich in den 1980ern meine Diplomarbeit machte, stellte ich mir die Aufgabe, ein Lehmhaus von aussen als solches erkennbar zu machen. Ich suchte nach einer Lösung für regenreiche Orte. Das war ein langsames Ausprobieren von Projekt zu Projekt bis hin zur kalkulierbaren Erosion mit Bauten ohne Vordach. Die Herausforderung ist, so weit zu gehen, dass das Projekt nicht scheitert und trotzdem innovativ ist.
Roger Boltshauser: Ich finde, Lehmbau muss nicht zwingend eine eigene Sprache entwickeln. Es gibt auch verputzte Lehmbauten – zum Beispiel in der Innenstadt von Lyon oder jener aus dem Jahr 1670 in Hauptwil –, die grundsätzlich nicht auffallen. Ziel ist es, dass Lehm genutzt wird, aber natürlich ist es spannend, als Architekt an einem ganz expliziten Ausdruck für Lehmbauten zu arbeiten.
Jeremy Hoskyn: Es ist aber so, dass Sie in Zürich mit dem Sihlhölzli und dem Allenmoos den Lehm aus der Ökoecke geholt haben. Vorher gab es hier keine zeitgemässe Form, denn das Material war in der Moderne fast bedeutungslos.
Roger Boltshauser: In Frankreich gab es bereits in den 1980er-Jahren in Villefontaine bei der Siedlung Domaine de la Terre den Versuch – mit einen post­modernen Unterton –, eine zeitgenössische Sprache für den Lehmbau zu entwickeln.

TEC21: Wie sind die Erfahrungen der Stadt mit dem Unterhalt und Nutzung?
Jeremy Hoskyn: Die städtische Immobilienabteilung sagt, die Bewirtschaftung sei problemlos. Die Lehmbauten finden grossen Anklang, von der Öffentlichkeit über die Nutzer bis hin zu den Hauswarten.
Martin Rauch: Beim Landeskrankenhaus in Feldkirch von 1990 und beim Haus Etoscha in Basel von 1999, einem der grössten Stampflehmbauten in der Schweiz, wurde nie etwas retuschiert. Beim Sihlhölzli gab es Beschädigungen durch Fussbälle – die Ober­flächen wurden seit 2002 einmal überarbeitet und die Graffiti entfernt, was 4000 Fr. kostete. Stampflehm altert gut, kleine Beschädigungen sind nicht so auffällig, wie wenn etwas glatt und perfekt ist.
Roger Boltshauser: Bei den verputzten Lehmhäusern in Lyon spricht man nicht mehr darüber, ob sie dauerhaft sind, weil man einfach vergessen hat, dass sie aus Lehm sind. In neuerer Zeit hat man ausserdem anlässlich von Renovationen festgestellt, dass sich das Material über Jahrzehnte zu einem weichen Naturstein verdichtet hat. Die Mauern werden mit der Zeit immer härter. Um neue Öffnungen zu integrieren, mussten diese mit Spitzeisen bearbeitet werden.


Anmerkung:
[01] Der am Projekt beteiligte Thomas Auer von Trans­solar ist Professor am Lehrstuhl für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen an der TU München.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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