Sprudelnde Moderne

Denkmalwürdige Bauten der klassischen Moderne behutsam instand zu setzen, gehört heute zum Alltagsgeschäft von Architekten. Gleichzeitig lassen sie sich gerne von der Moderne inspirieren.

Jürgen Tietz
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Selbst international gefeierte Architekten nutzen heute die wegweisenden Bauten der Moderne als Vorbild und Anregung – vom sachlichen Duktus des Neuen Bauens bis zur filigranen Materialität der Nachkriegsarchitektur. Frank Barkow und Regine Leibinger haben das mit ihrem Aufbauhaus in Berlin vorgeführt, dessen Rasterkonstruktion sich an Beispielen der klassischen Moderne misst (NZZ 9. 4. 16). Verwunderlich sind derartige Referenzen nicht. Viel eher verwundert es, dass es so lange brauchte, bis das Bewusstsein für die ästhetischen Qualitäten des Neuen Bauens in die zeitgenössische Architektur zurückkehrte. Dabei erweisen sich die Rückgriffe keineswegs als unkritische Heldenverehrung. Vielmehr handelt es sich um eine bewusste Auswahl aus einer gegenwärtigen Perspektive.

Unter Zürcher Architekten ist der Dialog mit der amerikanischen und mehr noch mit der italienischen Nachkriegsmoderne besonders beliebt, wie dieser Blick in die Europaallee mit den neuen Hochhäusern von Graber Pulver (links) und Caruso St John (in der Mitte) zeigt. (Bild: Roman Hollenstein)

Unter Zürcher Architekten ist der Dialog mit der amerikanischen und mehr noch mit der italienischen Nachkriegsmoderne besonders beliebt, wie dieser Blick in die Europaallee mit den neuen Hochhäusern von Graber Pulver (links) und Caruso St John (in der Mitte) zeigt. (Bild: Roman Hollenstein)

Von Mies bis Salvisberg

Entdecken lassen sich solche Annäherungen an die Moderne auch im Zürcher Neubauquartier an der Europaallee. Dort erweist sich das Haus von Marco Graber und Thomas Pulver im Baufeld G nicht nur als eine höchst kunstvolle Komposition von Gebäudekuben. Es zeigt darüber hinaus eine delikat modellierte Metallfassade, deren strenges tektonisches Raster durch die gewellte Struktur der Brüstungsfelder einen zarten Kontrapunkt erfährt.

Baufeld E der Europaallee von Caruso St John Architekten in Zürich. (Bild: Georg Aerni)

Baufeld E der Europaallee von Caruso St John Architekten in Zürich. (Bild: Georg Aerni)

Obwohl sich der Bau auf kein konkretes Vorbild bezieht, meint man doch Erinnerungen an die amerikanischen Stahl-und-Glas-Bauten eines Ludwig Mies van der Rohe oder an den Bleicherhof Otto Rudolf Salvisbergs in Zürich nachklingen zu hören. Dieses Spiel mit der Baugeschichte treiben Adam Caruso und Peter St John, die sich dabei auf die amerikanische Hochhaustradition beziehen, mit den Betonfertigteilen ihres Bauteils gleich gegenüber noch einen Schritt weiter: Wie ein Kinovorhang wellen sich da die grüngefärbten Partien, archaisch erscheinen die bossierten Fensterstürze, während die Fenster selbst von durchlöcherten Elementen eingefasst werden im Duktus der fünfziger Jahre.

Einen Hauch von Mailand zauberten Caruso St John mit ihrem der italienischen Architektur um 1960 verpflichteten Doppelhochhaus in die zwischen Langstrasse und Hauptbahnhof gelegene Europaallee in Zürich. (Bild Georg Aerni)

Einen Hauch von Mailand zauberten Caruso St John mit ihrem der italienischen Architektur um 1960 verpflichteten Doppelhochhaus in die zwischen Langstrasse und Hauptbahnhof gelegene Europaallee in Zürich. (Bild Georg Aerni)

Wie leicht man sich bei diesem Spiel mit der Geschichte allerdings auch in der Lust am Zitat verlieren kann, zeigt die gerade fertiggestellte Landesbank in Bremen, die ebenfalls von Caruso St John stammt. Auf der Suche nach lokalen Referenzen beim Dom und beim zum Welterbe zählenden Rathaus der Hansestadt verliert sich die Fassade in einem immer kleinteiligeren Ziegeldekor aus Lisenen, Strebepfeilern und einem seltsamen auftrumpfenden Rundbogen als Entrée. Fast scheint es so, als hätten Caruso St John die Entwürfe eines Fritz Höger und eines Bernhard Hoetger, dessen von Touristenscharen bevölkerte Boettcherstrasse nicht weit entfernt von der Landesbank liegt, zu einer Überdosis Backsteinexpressionismus zusammengemixt. Solche Kritik sollte gleichwohl nicht den Blick auf die Qualitäten verstellen, die das Haus in seinem Inneren entwickelt. Die Haltung von Caruso St John unterscheidet sich diametral von Walter Gropius' Einstellung. Dieser liess, als er 1938 sein Amt in Harvard antrat, kurzerhand die Bibliothek leer räumen. Denn der legendäre Gründer des Bauhauses machte aus seiner Ablehnung der Architektur früherer Epochen kein Hehl. Radikaler vermag man eine Absage an die Tradition nicht auszudrücken. So energisch die Vertreter des Neuen Bauens der 1920er Jahre die traditionellen Stile verdammten, so konnten sie dennoch nicht verhindern, dass die Moderne selbst zur Tradition und denkmalwürdig wurde.

Denkmalwürdige Bauten

Ende der 1970er Jahre noch ein Novum, gehört inzwischen die denkmalgerechte Sanierung der Bauten der Moderne wie der Nachkriegsmoderne heute zum Alltagsgeschäft. Wie diese Gratwanderung aus teils behutsamer, teils energischer Auffrischung gelingen kann, hat der Berliner Winfried Brenne jüngst mit der Sanierung des 1973 eröffneten Wolfsburger Theaters von Hans Scharoun gezeigt. Der Theaterkasse im Windfang hat er einen lichten neuen Eingangstresen verpasst, das grosszügige Foyer wurde aufgeräumt und die Technik des Hauses auf den neuesten Stand gebracht. Dadurch gelang es Brenne, die Qualitäten des Hauses zu bewahren und es zugleich an die heutigen Standards anzupassen. Welche Herausforderung zudem die Nachkriegsmoderne stellt, lässt sich am Berliner Studentendorf in Schlachtensee ablesen, das ab 1957 von Daniel Gogel und Hermann Fehling errichtet wurde. Derzeit wird dort Haus um Haus von Winfried Brenne repariert, ertüchtigt und mit leichter Dämmung energetisch verbessert.

Die Moderne schien Ende der 1970er Jahre nur noch ein verwehter Teil der Baugeschichte zu sein. Selbst Philipp Johnson, der 1932 gemeinsam mit Alfred Barr und Henry-Russell Hitchcock im Museum of Modern Art dem funktionalistischen International Style den Weg auf die Weltbühne bereitet hatte, verwirklichte nun mit dem gesprengten Giebel des 1984 eröffneten AT&T-Gebäudes in New York eine Ikone des neuen Stils.

Die denkmalgerechte Sanierung von Bauten der Nachkriegsmoderne gehört heute zum Alltagsgeschäft, wie die behutsame Auffrischung des 1973 eröffneten Wolfsburger Theaters von Hans Scharoun durch den Berliner Architekten Winfried Brenne veranschaulicht. (Bild: Brenne Architekten)

Die denkmalgerechte Sanierung von Bauten der Nachkriegsmoderne gehört heute zum Alltagsgeschäft, wie die behutsame Auffrischung des 1973 eröffneten Wolfsburger Theaters von Hans Scharoun durch den Berliner Architekten Winfried Brenne veranschaulicht. (Bild: Brenne Architekten)

Doch just in dem Moment, in dem die Postmoderne endgültig den Sargdeckel über die Moderne schieben wollte, pries der Philosoph Jürgen Habermas 1980 das «unvollendete Projekt der Moderne». Kurz zuvor hatten die beiden Architekten Helge Pitz und Winfried Brenne in Berlin damit begonnen, unter späteren Farbschichten Bruno Tauts grandioses Farbkonzept der Onkel-Tom-Siedlung im Süden Berlins hervorzukratzen.

In akribischer Kleinarbeit erforschten sie Haus um Haus, um die Qualitäten dieser Inkunabel der modernen Siedlungsarchitektur zurückzugewinnen. Das Neue Bauen der Weimarer Republik wurde denkmalwürdig — und die Berliner Siedlungen machten sich auf den Weg zum Weltkulturerbe.

Heute liegt die facettenreiche Architektur der Moderne des 20. Jahrhunderts nicht nur als Objekt der Denkmalpflege im Trend. Wie sehr sich Architektur in der Gegenwart bewegen kann und dabei keineswegs die Geschichte leugnet, haben die beiden Zürcher Büros Adrian Streich und Loeliger Strub mit ihrer preisgekrönten Wohnüberbauung in Letzibach bewiesen. Ganz handfest steht sie an der weiten Gleislandschaft und eröffnet den Betrachtern eine ganze Palette von Assoziationen, die zwischen Industriearchitektur und italienischen sowie skandinavischen Nachkriegsbauten oszilliert. Auf die Spitze aber treiben Marc Loeliger und Barbara Strub ihre Kunst der gebauten Andeutung im Hohen Haus an der Weststrasse. Der Zauber der Details verlockt ebenso wie die Delikatesse der verwendeten Materialien. So erinnert das Hochhaus an zarteste Nachkriegsmoderne mit einer Prise Art déco, während sich die starke Farbigkeit der Dachterrasse als Referenz an den mexikanischen Pritzkerpreisträger Luis Barragán erweist.

Auch im sorgfältig rhythmisierten Fassadenbild der von der Arbeitsgemeinschaft Adrian Streich Architekten und Loeliger Strub Architektur realisierten Überbauung Letzibach in Altstätten spiegelt sich die Auseinandersetzung mit der Mailänder Nachkriegsmoderne. (Bild: Roland Bernath)

Auch im sorgfältig rhythmisierten Fassadenbild der von der Arbeitsgemeinschaft Adrian Streich Architekten und Loeliger Strub Architektur realisierten Überbauung Letzibach in Altstätten spiegelt sich die Auseinandersetzung mit der Mailänder Nachkriegsmoderne. (Bild: Roland Bernath)

Gebaute Dialogfähigkeit

Die derzeitige Rezeption des Neuen Bauens und der Moderne sollte nicht als eine stilistische Fingerübung missverstanden werden, als der blosse Versuch, ein neues Stadtbild aus dem Rucksack der eigenen architektonischen Sozialisierung hervorzuzaubern. Die derzeitige Auseinandersetzung mit der Tradition der Moderne fusst vielmehr auf einem verwandten Kanon an baulichen Herausforderungen – wenngleich unter veränderten Bedingungen.

Wie schon vor einem Jahrhundert, als sich die Moderne auf den Weg machte, die Architektur der Welt zu revolutionieren, werden Antworten auf die Fragen nach dem städtischen Wachstum und einer sich dramatisch beschleunigenden Modernisierung gesucht. Benötigt werden heute wie damals verbesserte (verkehrliche) Infrastrukturen und bezahlbarer Wohnraum.

Angesichts dieser Rahmenbedingungen erstaunt es kaum, dass wie schon in den 1920er Jahren von Zürich über Berlin bis London erneut der «Schrei nach dem Turmhaus» erklingt, als möglicher baulicher Lösung bei der urbanen Verdichtung. Allein der Blick zurück auf Architektur und Städtebau der Moderne wird die gewaltigen Herausforderungen nicht meistern, vor denen Europas Städte stehen. Die einstige Avantgarde aber als kostbare Inspirationsquelle auszuschliessen, wäre fahrlässig.