Märchenstunde am Main

Der Neubau der «Altstadt» in Frankfurt am Main geht in den Schlussspurt. Doch ob dieses retrospektive Vorhaben einen wirklichen Beitrag für die Zukunft der Stadt leistet, ist fraglich.

Jürgen Tietz
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Dicht an dicht wie vor dem Zweiten Weltkrieg – bald soll die rekonstruierte Altstadt von Frankfurt am Main so aussehen wie auf diesem Rendering. (Bild: DomRömer / Uwe Dettmar)

Dicht an dicht wie vor dem Zweiten Weltkrieg – bald soll die rekonstruierte Altstadt von Frankfurt am Main so aussehen wie auf diesem Rendering. (Bild: DomRömer / Uwe Dettmar)

Frankfurt am Main pulsiert. Besonders zur Mittagszeit. Dann füllen sich die Tresen und Tische unter dem weiten Dach der 1954 eröffneten Kleinmarkthalle im Frankfurter Zentrum. Kaum fünf Gehminuten lang, mutet ein Spaziergang über die Baustelle der neuen Frankfurter «Altstadt» dagegen wie eine behäbige Märchenstunde an. «Es war einmal», so raunt es zwischen all den Baugerüsten hervor. Noch ein gutes Jahr, dann verschwinden die Bauzäune, und zwischen dem Hühnermarkt und dem Krönungsweg der deutschen Könige beginnt das öffentliche Leben. Wer wird dann noch auf den ersten Blick erkennen, welches die fünfzehn «schöpferischen Nachbauten» sind und welches die zwanzig Neubauten, die hier über einer gewaltigen Tiefgarage entstanden sind? Gebärden sich doch auch die meisten nicht rekonstruierten Häuser so, als würden sie bereits aus uralten Zeiten stammen.

Dort, wo nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs nur noch rauchende Trümmer lagen, manifestiert sich heute ein gebauter Aufschrei nach verlorener Heimeligkeit und einstiger städtischer Bedeutung. Dafür musste das zu Beginn der siebziger Jahre gebaute Technische Rathaus verschwinden, nach nur 35 Jahren. So kurzatmig ist die hessische Geschichte. Was aber ist der Sinn dieser gebauten Frankfurter Märchenwelt? Leistet sie einen Beitrag, um die drängenden Fragen der Zukunft der Städte zu lösen? Wohl kaum, denn auf dem historisierenden neuen Herzstück Frankfurts entsteht gerade einmal die bescheidene Zahl von sechzig Wohnungen – mit einer Fläche von insgesamt 7000 Quadratmetern. Sonst gibt sich das Quartier als architektonisch verdichtete Seelenmassage, ein Gegenmodell zu den Hochhäusern der globalisierten Stadt.

Eine Puppenstube

Der Blick von Frankfurt am Main nach Dresden und auf das dort rekonstruierte Quartier rund um die Frauenkirche und um den Neumarkt zeigt, wie gross die Gefahr ist, dass bei all diesem historischen Wollen nur eine Puppenstube entsteht, eine Kulisse für fotografierende Touristen, Selfie-Stick gezückt und Daumen hoch. Das, was historische Altstädte ausmacht, lässt sich nämlich nicht verordnen und auch nicht einfach bauen. Weder das in die Jahre Gekommene noch die Atmosphäre einer Sinnlichkeit verströmenden Patina. Solche Orte müssen wachsen. Und sie müssen wahrhaftig sein, um ihre Aura zu entfalten. Sonst drohen sie so geleckt und statisch daherzukommen wie das jüngst in Potsdam eröffnete Museum Barberini (NZZ 2. 2. 17) gegenüber dem ebenso leblos rekonstruierten Schloss des Brandenburger Landtages.

Der grosse Irrtum einer derart fiktionalen Stadtarchitektur ist es, dass sie wie eine gebaute Zeitmaschine wirkt. Doch sie ist nur ein Abziehbild einer deutschen Seelenlandschaft, in der die Verwundungen der Kriegs- und Nachkriegszeit bis in die nach-nachfolgende Generation andauern. So entsteht eine weinerliche Mischung aus Verlust und Verdrängung, aus romantischer Sehnsucht und einer Unfähigkeit zu trauern. Und wenn aus der Solidität vorgaukelnden Natursteinfassade des neuen Stadthauses neben dem Frankfurter Dom auch noch die roten Warnleuchten und Revisionsklappen wie Geschwüre hervorwuchern, dann entlarven sich die historischen Anleihen als des Kaisers neue Kleider.

Vor der gewaltigen Herausforderung, das Verhältnis der Gegenwart zur Geschichte zu definieren, standen die Frankfurter bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Mit der Zerstörung des Goethehauses im Zweiten Weltkrieg klaffte eine tiefe Wunde in der Stadtseele. Über das Für und Wider der Rekonstruktion des Geburtshauses des grössten Sohns der Stadt entbrannte eine heftige Debatte. Von hohem Pathos getragen, gipfelte sie 1951 im Wiederaufbau des Goethehauses, während zugleich die Maschinerie einer filigranen Nachkriegsmoderne anlief. Wer allerdings meinte, mit der ebenfalls heiss diskutierten Rekonstruktion der Römer Ostzeile in den 1980er Jahren und dem Bau der postmodernen Häuser in der Frankfurter Saalgasse gleich dahinter wäre der Frankfurter Rekonstruktionswahn erlahmt, der irrte gewaltig. Denn das frühe 21. Jahrhundert wollte nochmals mehr, nämlich eine ganz neue «Altstadt».

Noch blinzelt beim «schöpferischen Nachbau» an der Braubachstrasse zwischen Betonkonstruktion und vorgeblendeter Bruchsteinmauer die Dämmwolle hervor und beweist, dass sich Geschichte im Angesicht heutiger Bauvorschriften gar nicht originalgetreu nachbauen lässt. Wie ehrlich wäre es, würde man in solcher Fake-Architektur wenigstens Einblicke in den Wandaufbau gewähren. Künftige Besucher könnten dann leicht das historisierende Gewand lüpfen, um einen Blick auf den konstruktiven Kern des Pudels zu werfen, während man ihnen am bollernden Seelenkamin das selbstgestrickte Märchen von der historischen Stadt erzählt. Bis es alle irgendwann glauben.

Sinnliche Atmosphäre

Ausgerechnet in der einzigen deutschen Stadt mit einer nennenswerten Skyline paart sich die Sehnsucht nach dem verlorenen Bild der Städte mit dem zukunftsmüden Misstrauen gegenüber der Architektur der Gegenwart. Oder ist es gar ein städtebaulicher Teufelspakt, «Verweile doch, du bist so schön!», der hier geschmiedet wurde? Goethe würde sich wohl mit Grausen abwenden.

Wie man neue städtische Orte mit hoher sinnlicher Atmosphäre entstehen lässt, das erzählen die Poeten der deutschen Architektur Arno Lederer, Jórunn Ragnarsdóttir und Marc Oei gleich neben der «Altstadt» mit ihrem Neubau des Historischen Museums, der Ende 2017 eröffnet werden soll. An die Stelle eines brutalistischen Vorgängerbaus der siebziger Jahre, der so schlecht nicht war, setzen sie zwei unterirdisch miteinander verbundene Gebäudeflügel, die von Satteldächern bekrönt sind. Dazwischen entfalten sie einen neuen Stadtplatz, der sich künftig als ein märchenhaftes Geschenk an die Frankfurter und ihre Gäste entpuppen wird, so lebendig, so unmittelbar, so pulsierend laut und lieblich, wie es die legendäre Frankfurter Kleinmarkthalle bereits seit sechzig Jahren ist.