Meisterstücke der Nachkriegsmoderne

Sein Werk wurde immer wieder in den höchsten Tönen gelobt. Nun gibt der hundertste Geburtstag Anlass, den Zürcher Architekten Jacques Schader aus heutiger Sicht zu würdigen.

Michael Hanak
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Ein moderner Stadtpalast – das 1973 vollendete Verwaltungsgebäude von IBM (heute Scor Switzerland) von Jacques Schader in Zürich. (Bild: Nachlass Jacques Schader / GTA-Archiv / ETH Zürich)

Ein moderner Stadtpalast – das 1973 vollendete Verwaltungsgebäude von IBM (heute Scor Switzerland) von Jacques Schader in Zürich. (Bild: Nachlass Jacques Schader / GTA-Archiv / ETH Zürich)

Die Architektur der Zürcher Kantonsschule Freudenberg fasziniert, seit Jacques Schaders Entwurf bekanntwurde. Schon bevor 1959 der Schulbetrieb aufgenommen und 1961 die Aula fertiggestellt wurde, erhielt die Schulanlage höchste Aufmerksamkeit und wurde in internationalen Architekturzeitschriften und in Büchern über das Bauen in der Schweiz als epochales Manifest des Aufbruchs und der architektonischen Erneuerung gefeiert. In diesem hochästhetischen Bauwerk konzentrieren sich zentrale Anliegen der modernen Architektur und der zeitgenössischen Pädagogik. Deshalb gilt die Kantonsschule als ein Meisterwerk der europäischen Nachkriegsarchitektur.

Zwei miteinander verknüpfte Themen charakterisieren den Entwurf: das Raumkontinuum und die Transparenz. Die zusammenhängende Struktur, das Verbinden der Trakte und Räume, das ständige Weiterleiten in der Wegführung, die Sichtbezüge namentlich über die Hallen und Treppen hinweg schaffen eine umfassende räumliche Kontinuität. Die Durchdringung der Gebäudehülle, die Auflösung ganzer Raumfronten und das Spiel mit durchsichtigen und opaken Verglasungen ergeben eine vielfältige räumliche Transparenz. Beim Durchschreiten nimmt man die «fliessende» Raumauffassung wahr.

Frühes Gelingen

Mit diesem Geniestreich lancierte der am 24. März 1917 in Basel geborene und am 19. Januar 2007 in Zürich verstorbene Jacques Schader sein Hauptwerk und den Coup seiner Karriere. Sein Lebensweg ist bezeichnend für seine Generation und birgt doch überraschende Wendungen. Nach der Matura besuchte er zunächst die Fachklasse für Innenausbau an der Kunstgewerbeschule Basel und arbeitete in einer Schreinerwerkstatt. Erst dann ergriff er, der aus einfachen Familienverhältnissen stammte, das Architekturstudium an der ETH Zürich, das er 1943 abschloss. Den Einstieg ins Berufsleben ermöglichten kleine Aufträge aus dem Bekanntenkreis und vor allem die erfolgreiche Beteiligung an Wettbewerben, zu Beginn öfter mit Studienkollegen wie Oskar Burri und Otto Glaus. Mit dem ersten Bau, einem Ferienhaus am Luganersee, gründete er 1946 das eigene Architekturbüro. Das Erstlingswerk zeichnet sich durch einen doppelgeschossigen Wohnraum mit Galerie und voll verglaster Front aus, der vielfältige Sichtbezüge innerhalb des Hauses und hinaus auf den See schafft.

1948 übernahm er die Redaktionsleitung der Architekturzeitschrift «Bauen + Wohnen», die im Jahr zuvor ins Leben gerufen worden war. Fünf Jahre lang – bis zum Wettbewerbserfolg für die Kantonsschule Freudenberg – prägte Schader zusammen mit dem Künstler und Grafiker Richard Paul Lohse diese rasch an Renommee gewinnende Zeitschrift, die für eine konsequente Fortsetzung der Moderne eintrat und sich als Sprachrohr der international Aufgeschlossenen behauptete. Publiziert wurden während Schaders Ägide leicht und elegant konstruierte Flachdachbauten, viele davon aus den USA. So genoss «Bauen + Wohnen» bald Kultstatus.

Mehrere Bauten von Jacques Schader wurden in späteren Jahren verändert - etwa das 1973 eröffnete Kirchgemeindehaus St. Jakob in Zürich Aussersihl, bei dem man die kämpferartigen Brisesoleils der Fenster entfernte und den Sichtbeton hellgrau übermalte. (Bild: Bobo11 / PD)

Mehrere Bauten von Jacques Schader wurden in späteren Jahren verändert - etwa das 1973 eröffnete Kirchgemeindehaus St. Jakob in Zürich Aussersihl, bei dem man die kämpferartigen Brisesoleils der Fenster entfernte und den Sichtbeton hellgrau übermalte. (Bild: Bobo11 / PD)

Schaders Frühwerk umfasst viele öffentliche, aber auch private Bauaufgaben, die konstruktiv und räumlich verschieden umgesetzt wurden. Gemeinsam ist ihnen das Ziel, die Räume und Baukörper aus den Bedürfnissen heraus funktional zu entwickeln. Zu Beginn konnte Jacques Schader das von ihm bevorzugte Flachdach oft nicht realisieren. Das 1949/50 zusammen mit dem Studienfreund Godi Cordes errichtete Verwaltungsgebäude des Schweizerischen Obstverbandes in Zug erhielt eine prägnante Rasterfassade, die durch die Fensterunterteilung rhythmisiert wird.

Das aufgrund eines gewonnenen Wettbewerbs zwischen 1952 und 1954 ausgeführte Mühlen- und Lagergebäude des St. Galler Landverbands in Uznach kombiniert Silo-, Lager-, Garagen- und Ladentrakt in einem mit Sichtbacksteinen ausgefachten Betonskelett unter einer einprägsam bewegten Silhouette von gegenläufigen Pultdächern. Der 1956 realisierte Verkehrspavillon am Bucheggplatz in Zürich macht den Einfluss Ludwig Mies van der Rohes deutlich: Am prismatischen Kleinbau stehen die feingliedrigen Stahlstützen mit kreuzförmigem Querschnitt über den Rand des Flachdachs vor, die Wandmodule weisen teils transparent, teils transluzent verglaste Partien auf.

Innovatives Entwurfslabor

Zahlreiche Wettbewerbsprojekte – im Büronachlass zählt man 43 – beschäftigten Schader und seine Mitarbeiter zeitlebens. Doch die Bilanz der daraus resultierenden Bauaufträge ist ernüchternd: Von den 12 mit dem ersten Preis ausgezeichneten Projekten wurden lediglich 3 ausgeführt. Oft hiess es, das grosse Talent sei vom Pech verfolgt gewesen. Die Gründe für steckengebliebene Wettbewerbserfolge liegen freilich weniger beim Architekten als vielmehr bei widrigen, zuweilen widerlichen Umständen: Standortwechsel, Finanzierungsschwierigkeiten oder politische Entscheide. Dennoch: Das Tüfteln an den Lösungen der gestellten Bauaufgaben im Wettstreit mit Kollegen wirkte anspornend und inspirierend zugleich. Das Büro Schader galt als innovatives Entwurfslabor.

Doch die Frustration muss mitunter beträchtlich gewesen sein: Unter den ersten Preisen, die nicht zur Ausführung gelangten, waren einige lukrative Grossprojekte, andere betrafen städtebauliche Schlüsselstellen. In die erste Kategorie gehören die Frauenklinik des Kantonsspitals Zürich (Wettbewerb 1945/46 mit Oskar Burri und Otto Glaus), das Stadttheater Basel (Wettbewerb 1953 mit Werner Frey), das Thurgauische Kantonsspital in Frauenfeld (Wettbewerb 1957/58 auch mit Werner Frey) und die Erweiterung des Flughafens Zürich (Studienauftrag 1979). Wie würden diese Bauten heute aussehen, hätte Schader sie weiter projektiert und ausgeführt? In der zweiten Kategorie figurieren Stellen in der Stadt Zürich, an denen man den optimistischen Schwung der 1950er und 1960er Jahre vielleicht vermissen mag.

Jedenfalls hatte Schaders Wettbewerbsvorschlag 1954/55 für das Jugendhaus Drahtschmidli am Fluss gegenüber dem Platzspitz zuerst eine Abfolge kubischer Flachdachbaukörper vorgesehen und dann, in der Weiterbearbeitung rund 15 Jahre später, ein den Fluss querendes terrassiertes und seitlich gestaffeltes Gebilde. Am Helvetiaplatz, dem Herzen von Aussersihl und Brennpunkt sozialpolitischer Manifestationen, sah Schaders prämierte Wettbewerbseingabe von 1958 eine mehrteilige Überbauung mit Geschäftszentrum, Kirchgemeindehaus und Schulhaus vor, die mit einem 19-stöckigen Punkthochhaus dem Ort zusätzliche Bedeutung und ein neues Wahrzeichen gegeben hätte.

Der oft mit einer Akropolis verglichene Gebäudekomplex der zwischen 1959 und 1961 von Jacques Schader realisierten Kantonsschule Freudenberg erstreckt sich in einer rhythmischen Komposition mehrgeschossig über das unebene Terrain. (Bild: Sidonius / PD)

Der oft mit einer Akropolis verglichene Gebäudekomplex der zwischen 1959 und 1961 von Jacques Schader realisierten Kantonsschule Freudenberg erstreckt sich in einer rhythmischen Komposition mehrgeschossig über das unebene Terrain. (Bild: Sidonius / PD)

Im 1963 bestrittenen Wettbewerb für eine umfangreiche Wohnüberbauung im Gebiet Langgrüt am Fuss des Üetlibergs wäre gemäss Schaders Siegerprojekt eine gewaltige Hochhausscheibe nach dem Vorbild von Le Corbusiers Unité d'habitation entstanden: Auf 21 Geschossen sollten sich 286 Wohnungen stapeln – über dicken Betonpfeilern vom Terrain abgehoben. Ein Clou lag in den doppelgeschossigen Vorplätzen im Treppenhaus, verstanden als gemeinsam nutzbare Kontaktzonen. Wiederholt hatte sich Schader theoretisch mit dem Wohnumfeld auseinandergesetzt und für eine Aufwertung des Treppenhauses als Sozialisationsfeld plädiert.

Den Ruf an die Architekturabteilung der ETH Zürich erhielt Jacques Schader aufgrund seines Renommees als entwerfender Denker, als den ihn der vielgerühmte Kantonsschulbau ausgewiesen hatte. In dem Jahrzehnt von 1960 bis 1970, als er als Professor forschte und unterrichtete, stand das Thema Wohnen im Vordergrund. «Architekt und Öffentlichkeit» betitelte er seine Antrittsvorlesung an der Hochschule. Es war seine grundlegende Überzeugung, dass der Architekt einer hohen sozialen und gesellschaftsbildenden Verantwortung nachzukommen habe. So zeugt denn Schaders Laufbahn, die neben dem Architekturbüro auch die Tätigkeiten als Redaktor und Professor umfasste, von einem ebenso umfassenden wie vielseitigen Berufsverständnis, das nicht nur vom städtebaulichen Kontext bis zum Innenausbau reicht, sondern auch Reflexion und Vermittlung einschliesst.

Vielseitiges Berufsverständnis

Das Engagement in der Lehre hatte die Bautätigkeit im Architekturbüro eingeschränkt. In der darauffolgenden intensiven Schaffensphase baute Schader für Zürich wichtige Bauten wie das Kirchgemeindehaus St. Jakob (1973) beim Stauffacher und den Schweizer IBM-Hauptsitz (1973) an der Seefront.

Aus seinem Spätwerk lassen sich zwei gänzlich verschiedene Wohnbauten hervorheben, in denen Jacques Schader Ideen und Anliegen umsetzen konnte, die ihn zeitlebens beschäftigten. 1973/74 führte er sein lange geplantes eigenes Wohnhaus in Schwerzenbach aus. Hier erhob er die räumliche Durchdringung zum Hauptthema, und zwar in horizontaler wie in vertikaler Richtung. Damit erreichte er eine innenräumliche Vielfalt, die in der zentralen Halle am besten sicht- und erlebbar wird: Als erweitertes Zwischenpodest der Treppe angelegt und mit einer Sitzgruppe eingerichtet, bietet sie Sichtverbindungen in beide Geschosse und einen Ausblick hangabwärts zum See.

In der 1991 verwirklichten Wohnüberbauung Schleipfe I in Spreitenbach konnte Schader endlich seine Überlegungen zum Wohnungsbau einbringen. Zwischen den beiden drei- bis viergeschossigen parallelen Zeilen in der Fallrichtung des Hangs ist eine breite, getreppte Fussgängerachse angelegt, die als Kontaktzone wirkt. Die Zugänge zu den Wohnungen gewähren vielfältige Abstufungen zwischen den gemeinsamen und privaten Bereichen und bieten weitere Kontaktmöglichkeiten. Dank kluger Organisation der Grundrisse und mannigfachen Verbindungen zu den Aussenräumen wird hier qualitativ hochwertiger Wohnraum angeboten.

Wie erging es Schaders Werken seither? Wie die meisten Bauten der 1950er bis 1980er Jahre wurden auch sie mittlerweile grundsätzlichen Fragestellungen unterworfen: Können bei einer Instandsetzung heutige Bedürfnisse berücksichtigt werden? Wie viel Originalsubstanz soll bei einem Umbau erhalten bleiben? Darf der Bau einem Ersatzneubau Platz machen? Forderungen nach baulicher Verdichtung und zur Reduktion des Energieverbrauchs setzen die gegenwärtig dreissig- bis sechzigjährigen Bauwerke enorm unter Druck.

Einige von Schaders Bauten wurden abgebrochen, wie das Gebäude des Schweizerischen Obstverbandes in Zug, das einem Hochhaus weichen musste. Manche wurden verändert, um sie neuen Bedürfnissen anzupassen. So wurden beim Kirchgemeindehaus Aussersihl die kämpferartigen Brisesoleils der Fenster entfernt und der Sichtbeton hellgrau überstrichen. Und das Lehrlingsausbildungszentrum der BBC und späteren ABB in Oerlikon büsste seine hellgelbe Frische durch einen Neuanstrich ein. Doch bei der Kantonsschule Freudenberg, die zwischen 1993 und 2000 saniert wurde, bewies Jacques Schader selbst in vorbildlicher Weise, wie respektvoll und einfühlsam die Erneuerung qualitativ hochwertiger Architektur geschehen kann.

Michael Hanak ist Architekturhistoriker und Autor einer im «gta»-Verlag geplanten Monografie über Jacques Schader.