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In Dystopolis herrscht Helmpflicht
Der Standard

Studenten der TU Wien haben dieses Semester die „Baubehörde für totale Sicherheit“ ins Leben gerufen und stellen damit die Frage: Wie sicher wollen wir planen, bauen und leben? Eine Polemik.

25. März 2017 - Wojciech Czaja
Gefahr im Verzug. Wer möchte dafür schon die Haftung übernehmen? Also wird der spitze Taubenschutz am Gesims nutzerinnenkonform nachgerüstet und mit verletzungssicherem Prallschutz aus der Rebensaftindustrie versehen. Zugleich bekommt das Großstadttier einen Bauhelm ums Köpfchen geschnallt. Fertig ist Fall #1045, den Ing. Kurt Sichtig – der Name des Sachbearbeiters wird am Anfang des Films kurz eingeblendet – heute auf dem Tisch liegen hat, nur um sich wenig später der Fallnummer 1356 zu widmen. Diesmal sollen die Turmspitzen des Stephansdoms mit Schaumstoff, Signalfarbe Rot, aufgepolstert werden. Sicher ist sicher.

„Die Stadt entwickelt sich immer mehr zu einer extremen Hochsicherheitszone“, sagt Sylvia Winter, Architekturstudentin an der TU Wien. „Das bezieht sich nicht nur auf immer schärfere Bauvorschriften, sondern greift auch mehr und mehr in den eigenen Privatbereich ein. Als Stadtbewohnerin wird mir damit das instinktive Denken abgenommen. Man wird für unmündig erklärt. Ist es das, was wir wollen?“

Gemeinsam mit ihren beiden Studienkollegen Christoffer Buchebner und Theresa Laber erstellte die 25-Jährige einen provokanten einminütigen Film unter dem dystopischen Titel Baubehörde für totale Sicherheit. Die durchaus bewegenden Bilder, die zurzeit auf der Website des Filmfestivals Diagonale zu sehen sind, sind die Reaktion auf eine bereits lang anhaltende, schwelende Diskussion unter Österreichs Architekten, Fachplanerinnen, Baubeteiligten und Behörden. Entstanden ist der Film im Zuge eines von Gastprofessorin Katja Schechtner (MIT) geleiteten Seminars zum Thema „Data, Tech & the City“ an der TU Wien. Ziel des Semesterprojekts war, über die Stadt der Zukunft nachzudenken und mögliche Auswirkungen von Standardisierung zu skizzieren.

„Als angehende Architektin kann ich den Bedarf von Sicherheitsvorkehrungen auf der Baustelle und im fertigen Gebäude gut nachvollziehen, und der Großteil dieser Maßnahmen ist nützlich und extrem wichtig“, so Winter. „Allerdings frage ich mich: Wie kommt es immer wieder zu den wirklich absurden Ausreißern? Wieso ist ein altes Stiegengeländer heute plötzlich zu niedrig? Wieso müssen Fenster in historischen Häusern nachträglich mit Brüstungen versehen und verbarrikadiert werden? Und wieso dürfen wir schräge und geböschte Wege in der Stadt nicht mehr eigenverantwortlich benützen?“ Der Film ist als Anregung zum Nachdenken gedacht.

„Die totale Sicherheit gibt es nicht, denn es wird immer einen Bereich geben, der in Relation zu anderen Bereichen als unsicher gelten wird“, meint Christian Aulinger, Präsident der Österreichischen Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, im Gespräch mit dem Standard . „Dennoch legen wir schon seit Jahren ein übertriebenes Sicherheitsdenken an den Tag, das nicht nur absurd ist, sondern in einer Kosten-Nutzen-Rechnung – also in der Gegenüberstellung des Ressourcenaufwands und des realen Sicherheitsgewinns – wirklich fraglich ist.“

Schon heute sind sich Experten aus diversen Normen- und Bauvorschriftengremien darin einig, dass man in puncto Sicherheit bereits weit übers Ziel hinausgeschossen habe. „Fakt ist, dass in vielen Gremien die Industrie mitdiskutiert und aufgrund ihrer Eigeninteressen nicht gerade zur Mäßigung der Normen- und Vorschriftenflut aufruft“, so Aulinger. „Also müssen wir Planer und Behörden uns aktiv darum bemühen, hier eine Kehrtwende einzuleiten.“

Mit Erfolg. Im Zuge des sogenannten Dialogforums Bau, einer Initiative der WKO und des Normungsinstituts Austrian Standards, wurden bereits manche Bauvorschriften und Normen gelockert. Vor allem im Bereich des Brandschutzes („In Wien brennen die Häuser schneller und heißer als im Rest der Welt“, ein häufig gehörtes Bonmot) wurden viele überambitionierte Schritte der letzten Jahre wieder rückgängig gemacht oder auf ein vernünftiges Level herabgesetzt.

„Es gibt in Österreich rund 20.000 Normen“, erklärt Heimo Ellmer, der Leiter des Bereichs Bauwirtschaft/Vergabewesen bei Austrian Standards, „und davon sind rund 3000 für die Baubranche relevant. Ich würde sagen, dass wir mit dieser Zahl einen Plafond erreicht haben. Wir sehen, dass die Entwicklung bereits leicht rückläufig ist und dass die zu lesenden Seiten wieder weniger werden.“ Doch das wirklich große Problem, so Ellmer, ist nicht die Fülle an gesetzlichen Vorschriften, Richtlinien und Normen, sondern die Tatsache, dass viele dieser Punkte und Paragrafen einerseits redundant sind und andererseits einander teilweise widersprechen. Da den Überblick zu bewahren ist nicht immer leicht.

„Abgesehen davon, dass wir in einer Normenflut untergehen, haben sich in den letzten zehn Jahren 650 relevante Baunormen durch Novellierungen und neue Kennzahlen verändert“, sagt Peter Bauer, Ingenieurkonsulent für Bauingenieurwesen an der Wiener Architektenkammer. „Das heißt also: Pro Woche gibt es mehr als eine neue Norm zu lesen und zu lernen. Die Definition von Sicherheit verändert sich offenbar im Wochenrhythmus. Das ist absurd.“

Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sich Studierende der TU Wien mit diesen normativen Abgründen beschäftigen. „Wenn wir nicht heute schon aktiv zurückrudern, werden die Architekten von morgen in einem totalen Sicherheitssystem arbeiten müssen“, sagt Rudolf Scheuvens, Professor für örtliche Raumplanung und Stadtentwicklung sowie Dekan der Fakultät für Architektur. „Um das zu verhindern, müssen wir uns alle gegenseitig wachrütteln. Ich appelliere an Gesetzesgeber und Industrie. Etwas mehr Mut zur Gelassenheit wäre angebracht.“

Oder, wie Sylvia Winter, eine der Erfinderinnen der Baubehörde für totale Sicherheit, sagt: „À la longue stiehlt die permanente Übervorsicht dem Lebensraum Stadt die Lust und Lebensfreude. Sie zwingt uns alle in ein System, in das wir nicht hineinwollen. Wir jedenfalls wünschen uns eine Stadt mit Vielfalt und Eigenständigkeit. Es sind diese Widersinnigkeiten, diese Ausnahmen im System, die eine Stadt besonders machen.“

Im Architekturzentrum Wien wird gerade an der kommenden Herbstausstellung gearbeitet: Form folgt Paragraph. Sie widmet sich der Frage, wie sich Sicherheitsnormen und Bauvorschriften auf Stadt und Architektur auswirken. Die Diskussion ist eröffnet.

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