Dinge neu denken

Er gilt als einer der besten Gestalter seiner Generation. Industrielle Fertigung und handwerkliche Perfektion treffen im Werk von Stefan Diez auf Einfallsreichtum und Leidenschaft.

Andrea Eschbach
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Stille Konversation – die Stühle des Typs «Chassis» von Stefan Diez in der Kölner Ausstellung «Full House». (Bild: PD)

Stille Konversation – die Stühle des Typs «Chassis» von Stefan Diez in der Kölner Ausstellung «Full House». (Bild: PD)

Er steht kennzeichnend für eine neue Designergeneration: Stefan Diez kombiniert handwerkliches Können und digitale Werkzeuge ganz selbstverständlich miteinander. Die oft radikale Suche nach neuen Wegen ist charakteristisch für die Arbeit des Münchners. Mit grosser Passion lotet er die Grenzen von Materialien und Techniken aus. In seinem Münchner Atelier, das er Laboratorium nennt, entstehen ungezählte Modelle. Vom ersten Pappmodell bis zum Prototyp fertigt Diez alles dreidimensional. «Wenn man selbst die Modelle baut, kann man den Prozess besser steuern als am Computer», sagt er.

Längst gehört der 46-Jährige zu den innovativsten und international erfolgreichsten deutschen Designern. Stefan Diez stammt aus einer Handwerkerfamilie, die seit vier Generationen eine eigene Schreinerei unterhält. 1971 geboren, wuchs er im bayrischen Freising auf. Dort verbrachte er viel Zeit in der Schreinerei seines Vaters. Diez sollte einmal in dessen Fussstapfen treten. Doch es kam anders. Während seiner Schreinerlehre begegnete er dem Designer Richard Sapper, der zu dieser Zeit an der Akademie der Künste in Stuttgart unterrichtete. Sapper lenkte Diez' Blick auf das Design. Er nahm ein Industriedesign-Studium auf und arbeitete als Assistent in Sappers Studio. Wie der vor einem Jahr verstorbene Altmeister geht auch Diez an die Aufgabe heran: Doch während Sapper mit Papier und Schere entwarf, erarbeitet Diez seine Produkte an der Werkbank.

Vom Nachwuchstalent zum Star

Der andere Lehrmeister von Diez ist Konstantin Grcic. Nach seiner Rückkehr nach München arbeitete er im Studio Grcics, der als grösster zeitgenössischer deutscher Designer gilt. Mit viel Selbstbewusstsein und Ideen im Gepäck machte sich Diez 2002 mit einem eigenen Büro mitten in München selbständig. Da hatte er schon einige Preise gewonnen, darunter den Design Report Award 2002 auf dem Salone Satellite Milano. Er wurde zum Shootingstar: Schnell heimsten seine Arbeiten eine internationale Auszeichnung nach der anderen ein. Das deutsche Magazin «Elle Décoration» feierte ihn als Neuentdeckung des Jahres 2005. Im gleichen Jahr erhielt er den A & W Mentor Award, ausgewählt von Richard Sapper. Ein grosses Kompliment seines Mentors. Diez' Arbeiten stehen in bester Tradition zu den Entwürfen seiner beiden grossen Lehrer.

In der Kölner Schau zeigt Stefan Diez seine Arbeiten – hier den «Houdini»-Stuhl – in einem 15 Meter hohen Regalsystem, das er 2012 für Hay entwickelt hat. (Bild: Gerhardt Kellermann)

In der Kölner Schau zeigt Stefan Diez seine Arbeiten – hier den «Houdini»-Stuhl – in einem 15 Meter hohen Regalsystem, das er 2012 für Hay entwickelt hat. (Bild: Gerhardt Kellermann)

Bei beiden hat er gelernt, wie man sich auf die Suche nach einer wirklich neuen Idee macht. Innerhalb kürzester Zeit war der Münchner für die führenden Hersteller der Zunft tätig, für Flötotto, Moroso, Rosenthal, Thonet und viele andere. Mit seinem Team arbeitet er an einer grossen Produktepalette – von Möbeln über Leuchten und Küchenmaschinen bis zu Porzellan. Sein Wissen gibt er auch an Studenten weiter: Von 2007 bis 2014 lehrte er an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, seit Herbst 2015 unterrichtet er an der School of Industrial Design der Universität Lund in Schweden.

Dinge des Alltags neu zu erdenken und neue Technologien in zeitgemässe Ausdrucksformen zu bringen – das ist der gestalterische Ansatz von Stefan Diez. «Ein Entwurf darf nicht penetrant sein», erklärte der Designer einmal. Wie das aussieht, kann man derzeit im Museum für Angewandte Kunst in Köln (MAKK) erkunden. Die Schau gibt einen detaillierten Einblick in die Werkstatt des Münchner Designers. Ihren Titel «Full House» kann man auf verschiedene Weise deuten. Zum einen steht er dafür, dass Diez an Grenzen geht und diese ausreizt – wie ein Pokerspieler. Zum anderen gibt er in der Werkschau, die die letzten 15 Jahre seines Schaffens umfasst, einen umfassenden Überblick und besetzt das ganze Museum.

Ein 15 Meter hohes Regalsystem, das Diez 2012 für Hay entwickelte, erobert die Räume. In der sich über zwei Etagen erstreckenden Eingangshalle des MAKK wachsen die prägnanten schwarzen Rahmenkonstruktionen aus Aluminium in die Höhe. Die ausgestellten Designobjekte werden zum Teil der Inszenierung, die sich über 20 Podeste, Kabinette und Regalfächer erstreckt. In jeder dieser Zellen wird jeweils ein ganz besonderer Moment während der Entstehung eines Objektes unter die Lupe genommen. «Wir versuchen, den Moment darzustellen, in dem für uns der Groschen gefallen ist», sagt Diez. So beispielsweise beim Stuhl «Chassis» für den deutschen Büromöbelhersteller Wilkhahn, bei dem Diez die Grenzen der Materialien und Technologien auslotete. Der Stuhl kam 2008 nach gut vierjähriger Entwicklungszeit auf den Markt.

Mit nur 2600 Gramm zählt das Möbel zu den absoluten Leichtgewichten. Hier nutzte Diez ein Verfahren aus der Automobilindustrie. Dort werden die Karosserien aus dreidimensional geformtem Stahlblech gefertigt, das sehr leicht und selbsttragend ist. Diese Space-Frame-Technologie übertrug Diez erstmals auf einen in Serie produzierten Stuhl. Bei diesem Verfahren wird Stahlblech im Tiefziehverfahren zu komplexen, dreidimensionalen Formen in engen Radien gepresst, um den hochfesten Sitz- und Rückenrahmen sowie die vier Anschlusselemente der Stuhlbeine zu erzeugen. Anschliessend werden die Elemente mit einem Schweissroboter zum kompletten Stuhlgestell zusammengefügt. «An manchen Projekten arbeiten wir jahrelang», sagt Diez. «Aber ich liebe dieses Herumexperimentieren.»

Hart und weich in Harmonie – farbige «Houdini»-Stühle an einem New-Order-Tisch von Stefan Diez. (Bild: PD)

Hart und weich in Harmonie – farbige «Houdini»-Stühle an einem New-Order-Tisch von Stefan Diez. (Bild: PD)

Stühle in allen Varianten gehören zum Repertoire des Designers. Dabei geht Diez' Blick weit über konventionelle Ansätze hinaus. Dies gilt auch für den Entwurf, der wohl sein berühmtester ist: Der Stuhl «Houdini» für e15 war 2009 eines der überzeugendsten Stücke der Mailänder Möbelmesse. Er ist eine Studie zur Technik des Biegens. Diez zeigte – inspiriert durch eine Methode aus dem Flugzeugmodellbau –, was man mit Schichtholz heute machen kann: Die Rückenlehne der Stühle sowie deren Sitzrahmen legen sich kurvenförmig um die Basis und bilden so eine harmonische Sitzschale. Die dünnen Schichtholzplatten werden dabei per Hand um einen Massivholzring gebogen. Um die gebogenen Elemente in Form zu halten, sind weder Nägel noch Schrauben nötig.

Das Sperrholz umschliesst Massivholz – das Modell zitiert im Namen nicht umsonst den grossen Entfesselungskünstler Harry Houdini. Wie viele seiner Entwürfe ist der «Houdini»-Stuhl das Ergebnis einer sorgfältigen Kombination aus Handwerk und maschinengesteuerter Produktion. «Mir ist wichtig», sagte er einmal, «für eine Firma einen Gegenstand so zu entwerfen, dass er nicht gleichzeitig bei irgendeiner anderen Firma im Programm stehen könnte.» So entstehen Designklassiker.

Die Werkschau zeigt nicht nur fertige Produkte, sondern vor allem Produktionsprozesse. Veranschaulicht werden diese durch zahlreiche Materialstudien und Versuchsaufbauten. Die Ausstellung gibt aber auch Einblick in laufende Entwicklungen wie jene der Leuchte «Guise» für Vibia. Wie viele seiner Projekte hat diese eine längere Entwurfsodyssee hinter sich. Seit 2004 tüftelte der Designer an der Leuchtenfamilie. Um den Zusammenhang von Licht und Transparenz zu erkunden, testete er verschiedene Materialien auf ihre Qualität, LED-Licht zu reflektieren. Die Suche führte von Papier über Acryl bis hin zu Glas. Dieses leitet das Licht unsichtbar bis an seine Kanten und lässt es dort austreten. In eine flache Scheibe sind eine schmale Reihe kleiner Leuchtdioden eingelassen. Das Licht wird an die Kanten des Glaskreises geleitet und tritt dort als heller Strahlenkreis auf.

Unsichtbare Projekte

Eine eigene Sektion der Schau gilt den «unsichtbaren Projekten». Gezeigt werden Projekte, die auf der Strecke geblieben sind. Im Archiv der Ideen verschwunden ist beispielsweise der Robot-Staubsauger «Nano» (2005). Vorwerk hatte bei Diez eine Studie in Auftrag gegeben, eine neue Gerätegeneration zu entwickeln. Das runde, Ufo-artige Gerät speichert Grundrisse ab und plant seine Runden mit lasergesteuerten Sensoren. Letztlich wurde «Nano» aber nicht weiterentwickelt. Der Hersteller entschied sich, einen anderen Robot-Staubsauger auf den Markt zu bringen.

Ein ähnliches Schicksal erlitten Diez' Entwürfe für neue Thermomix-Geräte. «Magic & Bowl» (2009–2011) sollte nicht nur erhitzen, zerkleinern, rühren und kneten, sondern auch die Essgewohnheiten und Vorlieben der Nutzer registrieren und daraufhin Empfehlungen geben. Zahlreiche Gips- und Kartonmodelle wurden gebaut, Prototypen entstanden, neue technische Lösungen wurden erprobt. Aber das Gerät wurde nie realisiert. Doch einige Impulse wurden in das neuste Vorwerk-Gerät aufgenommen. Diez selbst sagt dazu: «Man muss das Risiko aufnehmen, ein Produkt zu entwickeln, das nicht sofort erfolgreich ist.» Manchmal ist der Markt eben noch nicht reif für die Ambitionen eines Designers.

Bis 11. Juni. Katalog: Full House. Diez Office. Hrsg. Sandra Hofmeister und Petra Hesse. Verlag Walter König, Köln 2017. 336 S., € 39.80.