Jean Nouvel spricht Klartext

Angewidert durch die städtebaulichen Entwicklungen in Frankreich, holte Jean Nouvel jüngst in «Le Monde» zum Rundschlag aus. Ein ähnliches Engagement wünschte man sich auch von Schweizer Architekten.

Roman Hollenstein
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Unsere Städte werden immer hässlicher und seelenloser, nicht nur in den Speckgürteln. Das zeigt ein Blick auf Zürich. Hier wird – sieht man von Glücksfällen wie dem Stadelhofen oder dem Sechseläutenplatz ab – fast überall historische Substanz auf dem Altar des schnellen Geldes geopfert. Und was entsteht an der Stelle des Abgerissenen? Banalitäten. Gute urbanistische Lösungen und wegweisende Bauten findet man hingegen kaum noch. Wer meint, das klinge ewiggestrig, der irrt. Denn mittlerweile klagen nicht mehr nur Nostalgiker.

Der von Jean Nouvel geschaffene Monolith auf der Arteplage der Expo.02 in Murten/Morat. (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

Der von Jean Nouvel geschaffene Monolith auf der Arteplage der Expo.02 in Murten/Morat. (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

In Frankreich ergriff jüngst kein Geringerer als Jean Nouvel das Wort. Der vom Glauben an eine neue Architektur des 21. Jahrhunderts beseelte Pritzkerpreisträger analysiert in der Tageszeitung «Le Monde» die Situation der Städte und stellt fest, dass diese ebenso wie die natürlichen Landschaften im Zeichen des Wachstums weltweit, vor allem aber in Frankreich immer mehr verwüstet würden. In einem Land mit einem derart bedeutenden architektonischen Erbe sei dies ein Sakrileg.

Wünsche an den Präsidenten

Dabei seien doch einst Politik und Urbanismus Hand in Hand gegangen. Doch nun hätten Verwaltung und Technokraten ein Jahrhundert lang die Stadtplanung bestimmt. Das habe im Zeichen von Funktionstrennung und Verdichtung zu viel Übel geführt: von der Umweltverschmutzung bis zur sozialen Segregation. Deshalb müsse nun der künftige Staatspräsident handeln. Ohne Partei zu ergreifen, verlangt Nouvel von diesem eine Verbesserung der Wohnverhältnisse in den von der Immigration besonders betroffenen Banlieues. Denn sie seien aufgrund schlechter Wohnverhältnisse und Lebensumstände zu Brutstätten des Extremismus geworden.

Dabei wünscht Nouvel zweierlei: erstens eine sofortige Verbesserung der Zustände in den Banlieues durch die Errichtung von Quartierzentren, die Arbeitsräume anböten und der Integration und dem kulturellen Austausch dienten. Aber auch der Erarbeitung von Strategien zur architektonischen Transformation des urbanen Raums. Denn das Übel betreffe nicht mehr nur die Problemquartiere, sondern die städtebauliche Entwicklung insgesamt. Zugunsten des Patrimoniums müsse deshalb der künftige Präsident die Kunst des Bauens gegenüber dem Wildwuchs fördern.

Als zweiten Punkt nennt er den Schutz der Landschaft vor dem planerischen Flächenfrass, aber auch die sanfte Verwandlung der französischen Städte, welche die Raison d'être der Architektur des 21. Jahrhunderts sei. Gezielte Interventionen könnten Kunst und Lebensfreude zurückbringen in Städte und Quartiere. Dazu müssten sich alle an der Transformation der Stadt beteiligen: Ingenieure und Ökologen, Philosophen und Unternehmer, Künstler und Poeten.

Verantwortung übernehmen

Das über Frankreich hinaus Wichtigste an Nouvels Beitrag in «Le Monde» aber ist die Tatsache, dass der spätestens seit der Vollendung des KKL auch hierzulande von breiten Bevölkerungskreisen bewunderte Architekt in einer angesehenen Tageszeitung – und nicht in einem von Politikern und Laien kaum beachteten Fachmagazin – vor die Öffentlichkeit trat, mit leidenschaftlichen Worten auf Fehlentwicklungen hinwies und sich dabei direkt an den künftigen Präsidenten wandte. Ein ähnliches Engagement würde auch unseren Architekten gut anstehen. Doch statt sich auf ihre Verantwortung zu besinnen, von der sie an unseren hervorragenden Hochschulen offensichtlich kaum je etwas hören, verunstalten sie in Komplizenschaft mit Investoren und – im Zeichen der Verdichtung – manchmal auch mit genossenschaftlichen und öffentlichen Bauherren unsere Städte. Statt über deren kritischen Zustand offen nachzudenken.