Wild und kultiviert

Der französische Landschaftsarchitekt Christophe Girot lädt in seiner neusten Publikation zu einer Reise durch das Reich der Gärten. Vorgestellt werden Beispiele von der Frühzeit bis zur Gegenwart.

Suzanne Kappeler
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Landschaftliche Ödlandgestaltung – der Garten um das «Prospect Cottage» des Künstlers Derek Jarman in Dungeness an der Küste von Kent. (Bild: Bill Allsopp / Images / laif)

Landschaftliche Ödlandgestaltung – der Garten um das «Prospect Cottage» des Künstlers Derek Jarman in Dungeness an der Küste von Kent. (Bild: Bill Allsopp / Images / laif)

Mit einem Lob der Lichtung beginnt der Landschaftsarchitekt und ETH-Professor Christophe Girot seinen Gang durch Tausende von Jahren landschaftlicher Gestaltung vom prähistorischen England bis zu den heutigen Natur- und Stadträumen. Die künstliche Waldlichtung, in der zum Beispiel rituelle Tänze um ein Feuer abgehalten wurden, steht für ihn am Anfang aller menschlichen Eingriffe in die Natur. Waldlichtungen – ob heilig oder weltlich – entstanden nach und nach in den Wäldern Europas und Asiens. Daraus entwickelten sich die ersten Gärten, die nicht nur der Nahrungsversorgung dienten, sondern stets auch Schauplätze ästhetischen Erlebens waren. Das Konzept der Waldlichtung tauchte dann in der Renaissance in der Idee des Hofgartens wieder auf. Girot verweist auf die italienische Villa Orsini nahe Viterbo, wo ein «sacro bosco», ein heiliger Wald nachempfunden und gleichsam eine ursprüngliche Waldszenerie neu erschaffen wurde.

Diese Praxis der Wiederbewaldung setzte sich bis zum englischen Landschaftsgarten im 18. Jahrhundert fort, zum Beispiel im Ray Wood bei Castle Howard in Yorkshire, wo der Wald ein Mausoleum im Park umgibt. In grosszügigen städtischen Parks wie dem Englischen Garten in München oder dem Central Park in New York wird der Trend zum Wald in der Moderne weitergeführt, auch in abstrahierter Form, wie etwa im 1997 von Dieter Kienast gestalteten Friedhof Fürstenwald in Chur.

Der Sigirino-Hügel im Tessin

Arbeiten unterschiedlicher Grösse, vom Garten bis zu städtebaulichen und landschaftsgestalterischen Projekten, gehören zum Aufgabenbereich des Ateliers Girot, das 1986 in Paris gegründet wurde und seit 2001 seinen Sitz in Zürich hat. Gegenwärtig ist das Büro mit der Gestaltung eines künstlichen Hügels bei Sigirino, aufgeschüttet aus dem Aushub des Ceneri-Basistunnels, beschäftigt. Aus 3,5 Millionen Kubikmeter Steinmaterial wird eine Landschaft am Fuss des Monte Ferrino mit modernsten Visualisierungstechniken geformt. Im Unterschied zum prähistorischen, zu kultischen und religiösen Zwecken aufgeschütteten Hügel bei Avebury in England dient der Sigirino-Hügel ökologischen und kulturellen Zwecken und versucht Wunden in der Landschaft zu schliessen. Teststreifen auf der äusseren Oberfläche des Hügels mit lokalen wilden Samen und einheimischen Bäumen liessen in den ersten sieben Jahren der Vegetationsentwicklung eine Art Auenlandschaft entstehen. Dereinst wird der Sigirino-Hügel als Landmarke von der Gotthardautobahn, der Eisenbahn und vom Monte Tamaro aus zu sehen sein.

Im postindustriellen Zeitalter entstand auf aufgegebenen und oft auch kontaminierten Böden vielerorts eine Art Ödland, eine Herausforderung für die Landschaftsgestalter. Dass dieses «Terrain vague» nicht nur trostlos ist, sondern auch eine poetisch-geheimnisvolle Präsenz haben kann, lässt sich auf dem ehemaligen Rangierbahnhof Schöneberger Südgelände inmitten der Stadt Berlin erleben. Das 18 Hektaren grosse Gelände entwickelte sich seit der Nachkriegszeit zu einem «Urwald» aus spontaner einheimischer und eingeschleppter Vegetation und inspirierte eine Reihe von Landschaftsprojekten, nicht zuletzt auch jenes der vielgerühmten High Line in New York.

Die verwandelte Leere

Ein anderes, ungewöhnliches Beispiel landschaftlicher Ödlandgestaltung ist der Garten um das «Prospect Cottage» des Künstlers Derek Jarman in Dungeness an der Küste von Kent in England. Der beinahe vegetationslose Ort wird von einem Atomkraftwerk und einzelnen Fischerhütten dominiert. Diese seltsame Leere verwandelte Jarman mit am Strand gefundenen Objekten wie verwitterten Hölzern, verrostetem Stahl und sukkulenten, gelb, weiss und rot blühenden Pflanzen in eine Gartenlandschaft von exquisiter Schönheit. Aus Steinen angeordnete Ringe erinnern an neolithische Steinkreise. Ebenso verweisen die totemgleich aufgestellten Holzpfosten auf frühe kultische Eingriffe in die Landschaft.

Christophe Girot: Landschaftsarchitektur gestern und heute. Eine Kulturgeschichte. Edition Detail, München 2016. 352 S., Fr. 102.–.