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TEC21 2017|13
Städtebau in der Aufwärmphase
TEC21 2017|13
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Kühlende Plätze sind opportun

Siedlungsräume werden ein heisses Pflaster. Damit der Klimawandel die urbanen Hitzeinseln nicht weiter aufheizt, wollen Städteplaner in der Schweiz und in Europa vor allem die grüne Infrastruktur aufwerten.

31. März 2017 - Paul Knüsel
Man stelle sich vor, bei schweisstreibenden 40 °C über den Wiener Prater zu wandeln, am Nürnberger Christkindlesmarkt bei milden 12 °C heissen Glühwein zu trinken oder bei Dauerhitze ins Berner Marzilibad zu flüchten. Solche Wetterlagen kommen durchaus vor, werden aber als unbehaglich, untypisch oder aussergewöhnlich empfunden.

Allerdings ist der Klimawandel eben daran, das gewohnte Gefüge aus Temperatur, Regen und Wind gewaltig durcheinanderzubringen und ein neues Alltagswetter zu bestimmen: Bis 2070 werden für Wien Hitze und Trockenheit prognostiziert, die an die Nordsahara erinnern. Nürnberg nähert sich atmosphärisch dem trockenen, windigen Marseille an. Und auch das Klima in der Schweiz wird mediterran: Das künftige Wetter von Bern gleicht sich Messina an; Basels Klimazukunft liegt heute an der italienischen Riviera.

Solche Vergleiche sind wissenschaftlich anerkannt und versuchen, den Wetter-Shift einprägsam am «Klimastadtzwilling» zu erklären. Für das Unterwallis liefern die jüngsten Wetteraufzeichnungen jedoch ebenso leicht verständliche Angaben: In den letzten 20 Jahren stieg die Durchschnittstemperatur um 1 °C; in den nächsten 40 Jahren wird ein Plus um weitere 2 °C vorausgesagt. Zum Vergleich: Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist die Schweiz gerade mal 0.5 °C wärmer geworden. Vor allem drohende Hitzeperioden machen im Klima-Hotspot Rhonetal inzwischen Sorgen: Bis 2060 soll das Thermometer an 100 Tagen über 25 °C klettern, doppelt so häufig wie in den letzten Jahren.

Begrünt, beschattet und klimaangepasst

Auch die Vorbereitungen auf die Klimaveränderung haben in Sitten bereits begonnen. Mithilfe des Bundes und einer externen Ökostiftung haben die Stadtplaner das Anpassungsprogramm «AcclimataSion» lanciert. Vor drei Jahre sind sie aktiv geworden. Mehrere öffentliche Plätze sind inzwischen begrünt, beschattet oder anderweitig atmosphärisch aufgefrischt. Der «Espace des Remparts», direkt vor dem Stadthaus, ist sogar das am häufigsten präsentierte Aushängeschild für klimagerechten Städtebau in der Schweiz[1]: Die Autoabstellplätze mussten einer fussgängerfreundlichen Parkanlage mit dichten Baumreihen und gemütlichen Sitzgelegenheiten weichen (Abb.). Klimagerecht meint aber nicht weg mit dem Verkehr, sondern weniger versiegelte Flächen und mehr Bäume, die Schatten spenden. Das urbane Mikroklima darf nicht heisser werden. Ein weiteres Aufheizen ist möglichst zu verhindern, damit der Stadtraum nicht an Aufenthaltsqualität verliert.

Mediterraneres Klima in der Schweiz

Unter lokalem Klimaschutz wird meistens verstanden, den Ausstoss von Treibhausgasen zu senken und energieeffizientes Bauen oder emissionsarme Mobilität zu fördern. Angesichts der unvermeidlichen Folgen sind nun jedoch ergänzende Überlegungen anzustellen, wie sich der Siedlungsraum auf die Erwärmung vorzubereiten kann. Immer mehr Städte auf der ganzen Welt ziehen Massnahmen zur Klimaanpassung in Betracht (vgl. TEC21 11/2014). Innerhalb Europas gelten die Küstenstädte Rotterdam, Kopenhagen und Stockholm als Vorreiter der «Resilient Cities»-Bewegung.

Vor Hitzewellen, Strumfluten oder Regengüssen soll primär technische Infrastruktur schützen. Aber ihr Ausbau muss der Bevölkerung auch unmittelbar nützen; betroffene Quartiere partizipieren an den örtlichen Klimaanpassungsplänen: In Rotterdam entstand der Water-Square Benthemplein, ein Retentionsbecken, das im Alltag ein Spielplatz ist. In Østerbro, einem hafennahen Stadtteil von Kopenhagen, laufen Planungen für ähnlich multifunktional nutzbare «Klimaparks». Und Essen im Ruhrgebiet ist die diesjährige Umwelthauptstadt Europas, weil die Klimaanpassung ein wesentlicher Bestandteil ihrer ökologischen Bemühungen ist. Die Europäische Kommission lobt, wie dabei Umweltschutz, Wachstum und Lebensqualität miteinander vereinbar sind.

Dient der klimagerechte Umbau auch einer Belebung des Stadtraums? Der Blick nach Sitten bestätigt, dass eine Aufwertung für Mensch und Klima möglich ist.

Gemäss Lionel Tudisco vom Stadtplanungsamt hat man ein pragmatisches Vorgehen gewählt: In die grüne und blaue Freiraum-Infrastruktur wird investiert, wo immer es Gelegenheit zur Aufwertung gibt. Eine solche bietet das begehbare, aber bisher ausgeräumte Dach über der Autobahn im Südosten der Stadt, zwischen Fussballstadion und Kaserne. Auf dem Cours Roger Bonvin entsteht bis zum Sommer ein «Stream-Parc» mit viel Grün, Wasserflächen und reichhaltigem Naherholungsangebot. Die wandelbare Klimaausstattung hat ein externes Landschaftsarchitekturbüro programmiert. Sie soll den passenden Rahmen für die Abschlussfeier von «AcclamataSion» bilden, denn in zwei Monaten läuft die Adaptionskampagne aus.

Das positive Echo will die Sittener Behörde allerdings nutzen und vermehrt private Bauherrschaften und externe Planer auf klimagerechten Städtebau aufmerksam machen. «Zwar mangelt es», so Lionel Tudisco, «an verbindlichen Regeln.» Aber zumindest erhält das kommunale Baureglement ergänzende Bestimmungen über einen Pflichtanteil für unversiegelte Flächen und Mindestquoten für die Bepflanzung offener Flächen. Die bisherige Anpassungsleistung von Sitten darf durchaus schweizweite Anerkennung finden. Sie veranschaulicht, wie städtebauliche, landschaftsarchitektonische und ökologische Anliegen zu einem bevölkerungsgerechten Resultat führen können.

Städte prüfen thermische Behaglichkeit

Auch anderen Schweizer Städten ist bewusst, dass eine Dauerhitze für Bewohner schnell unerträglich und der räumlichen Weiterentwicklung hinderlich wird. Jetzt schon heizen sich einzelne Plätze an Sommertagen auf über 60 °C auf. Absehbar sind zudem wochenlange Wetterlagen mit Tagestemperaturen über 30 °C und tropischen Nächten nicht unter 20 °C. Ohnehin sind Innenstädte generell 8 bis 10 °C wärmer als das Umland. Wie real und bedrohlich solche Szenarien sind, demonstrierte der Rekordsommer vor 14 Jahren. Gemäss einer Studie des Schweizerischen Tropeninstituts liess die Hitzewelle von 2003 die Sterberate in der Bevölkerung um 7 % ansteigen. Vor allem ältere Menschen, insbesondere in Städten, waren betroffen.

Genf ist nun daran, die örtlichen Klimarisiken und die drohenden Schäden umfassender zu studieren. Die Stadt Bern konzentriert sich aktuell darauf, die Robustheit des Baumbestands und die kühlende Wirkung der Grünräume zu untersuchen (vgl. «Wichtige Kühleffekte von Bäumen und Parks», Kasten unten). Grössere Stadtentwicklungsprojekte werden in Basel schon jetzt auf mikroklimatische Auswirkungen überprüft. Und auch Zürich möchte das Stadtklima stärker in die räumliche Entwicklung einbeziehen.

Seit sechs Jahren liegt die Klimaanalyse Stadt Zürich (KLAZ) vor; gemeinsam mit dem Kanton wird die bestehende Karte vertieft und ergänzt. Unter der Federführung von Grün Stadt Zürich soll ein Masterplan Stadtklima entstehen, der detaillierte Informationen über klimatisch heikle Zonen enthält.

Gemäss Karl Tschanz, Umwelt- und Gesundheitsschutz Zürich, sollen zudem Massnahmen abgeleitet werden, damit sich die thermische Belastung der Stadtbevölkerung in Verdichtungsgebieten nicht erhöht oder im besten Fall gar verringert.

Zwar ist im Prinzip klar, was klimagerechter Städtebau ist: mehr Grün, mehr Schatten, weniger versiegelte Böden und offene Luftkorridore. Doch die Arbeit im Stadtraum kann erst beginnen, wenn alle Planungsträger darauf sensibilisiert sind und Entwicklungsareale und Bauplanungen auf das Aufheizen und die Durchlüftung überprüfen. Tschanz bestätigt jedoch, dass bisher wenig konkret umgesetzt wird.

Ausserdem sind Zielkonflikte zwischen der erwünschten Siedlungsverdichtung und der prognostizierten Klimaentwicklung absehbar. Wie stark heizen zusätzliche Gebäude oder betonierte Plätze das vorbelastete Stadtklima auf? Und welche Massnahmen sorgen für klimatischen und thermischen Ausgleich an bekannten Hitzestandorten? «Nicht jeder Raum muss eine kühlende Komfortzone sein», erklärt Tschanz. Dennoch sind nun auch in Zürich lokale städtebauliche Antworten auf den globalen Klimawandel gefragt. Wie in Sitten, Rotterdam und anderswo gilt es deshalb wiederzuentdecken, wie viel die urbane Lebensqualität mit dem Stadtklima zu tun hat.

Einen Sondereffort wagen diesbezüglich Stuttgart, Karlsruhe oder Graz: Diese drei Städte wissen über das eigene Mikroklima nämlich bestens Bescheid und tun bereits einiges, um die baulichen Quartierstrukturen zu verbessern. Bemerkenswert daran ist, wie vielfältig die Handlungsmöglichkeiten sind.

Graz: hundert Klimamassnahmen

In Graz überwacht seit letztem Sommer ein Stadtklimatologe, wie sich Durchlüftung, Thermik und Wärmeinseln verändern. Und kurz vor Anfang dieses Jahres hat das Stadtparlament einen Klimaanpassungsplan mit über einhundert Massnahmen[2] beschlossen (vgl. «‹Ein Wandel auch im Klimabewusstsein›»). Die zweitgrösste Stadt Österreichs wird seit den 1970erJahren mithilfe von Radarflugzeugen und Wetterballonen meteorologisch und thermisch vermessen. Zu jedem Standort sind hochaufgelöste Klimadaten bekannt, darunter Einstrahlung, Beschattung, Versiegelung, Temperatur und Windströmung. Kombiniert mit der Struktur des gebauten Stadtkörpers und der Topografie ergibt sich ein kartografisches Mosaik aus stadtplanerisch relevanten «Klimatopen»: Im Zentrum liegen die Hitzeinseln, typischerweise Blockrandbauten; am Stadtrand sorgen Schneisen für eine freie Zirkulation der über Grünflächen und Wäldern produzierten kühlenden Luft.

Dieses Wissen bestimmt den städtebaulichen Alltag: Wo kühle Winde in den Stadtraum einströmen können, sind Schneisen und Hanglagen vor Bebauung zu schützen. Innenhöfe und Dächer sind möglichst zu bepflanzen oder zu begrünen. Und die bauliche Verdichtung darf das städtische Mikroklima nicht negativ beeinflussen: Zeilenbauten, die parallel in den Abhang gesetzt kühlende Fallwinde bremsen, sind daher nicht erwünscht. Ein für Graz wichtiges Planungskriterium ist ebenfalls der Albedo-Effekt von Gebäudefassaden. Er besagt, wie viel Wärme von Hauswänden und anderen Oberflächen gespeichert oder abgestrahlt wird. Dunkle Fassaden nehmen zum Beispiel tagsüber viel Wärme auf und geben sie in der Nacht wieder an die Umgebung ab.
Was ist bioklimatisch belastend?

Städtische Klimaanalysen sind Produkte einer wissenschaftlich jungen Disziplin. Damit befassten sich zuerst Umweltmeteorologen, wo immer lufthygienische Probleme beklagt worden sind.

Inzwischen ist dieses Wissen auch in der Klimaforschung bekannt. Bemerkenswert ist aber nicht nur, in welch hoher Auflösung ein Temperaturverlauf über Jahrzehnte prognostizierbar ist. Ebenso ist simulierbar, wie das ändernde Mikroklima auf Menschen wirken wird. Die physiologische Äquivalenztemperatur (PET) ist ein wichtiger Indikator zur Bestimmung des Bioklimas, wobei in Stuttgart städtebauliche Varianten dahingehend überprüft werden (vgl. «Bioklima in Städten», Kasten unten).

In Karlsruhe[3], dessen Klima mit derselben Methode analysiert worden ist wie nun jenes der Stadt Zürich, wird die bioklimatische Belastbarkeit der Bevölkerung noch mit einem weiteren Aspekt einbezogen. Die Hotspots auf der Karlsruher Klimakarte bezeichnen sowohl leicht aufheizbare Baustrukturen als auch Standorte und Quartiere, in denen vor allem ältere Menschen wohnen, die Spitäler oder Seniorenheime beherbergen oder mit Grünraum unterversorgt ist.

Karlsruhe liegt im Oberrheingraben und gehört mithin zu den Städten in Deutschland, für die die stärksten Hitzewellen prognostiziert werden. Wie in Graz ist Klimaanpassung ein politisch beschlossener, städtebaulicher Auftrag. Selbst im hoch verdichteten und hoch versiegelten Zentrum sollen «Ausgleichsflächen, Entlastungsschneisen und Beschattungskorridore» entstehen, betont Martin Kratz vom Stadtplanungsamt. Zwar finden in der Stadtmitte weiträumige Umbauarbeiten für die neue Metro statt; dennoch wird nicht alles für die Klimaanpassung auf den Kopf gestellt (vgl. «‹Kein genereller Konflikt mit der Verdichtung›», Kasten unten).

Strassenbahn und Stadtbahn fahren schon bald unter Karlsruhe hindurch. Der innerstädtische Raum wird dadurch frei, zusätzlich begrünt und so gut es geht mit Bäumen bepflanzt. Aber die Möglichkeiten sind beschränkt. «Zum einen stossen wir an gestalterische Grenzen», so Kratz. So gelte es, den klassizistischen Charakter des historischen Stadtzentrums zu wahren. Und zum anderen unterqueren zahlreiche Werkleitungen und neue Tunnels den städtischen Boden, sodass es keine Möglichkeiten für tiefgründige Vegetation gibt. Gemäss Stadtplaner Kratz werden allerdings temporäre Kühlvarianten für die Einkaufsmeile geprüft, etwa Wasserspiele oder Pocket-Parks. «Da sich das Hitzerisiko auf den Sommer beschränkt, braucht es nicht überall eine ganzjährige Klimainfrastruktur», so Kratz.

Karlsruhe: integrative Stadtaufwertung

Was die Klimaanpassung in Karlsruhe aber auszeichnet: Es geht nicht nur um kurzfristige bauliche Massnahmen, sondern auch um langfristige Veränderungen in der Stadtentwicklung. «Das Anliegen muss neue Denkprozesse in der Planung auslösen», betont Kratz. Wichtig sei daher, dass sich das Arbeitsfeld nicht auf die Stadtbegrünung beschränkt, sondern dass sich alle Planungsdisziplinen mit klimagerechtem Stadträumen auseinandersetzen sollen.

Die klimatischen Bedingungen für die Stadtbevölkerung werden nämlich nur besser, wenn das Betriebsklima in der Verwaltung stimmt und die gesamte Planungs-, Raum- und Baubehörde inklusive Fachabteilungen am selben Strick zieht. Der Klimawandel bringt nicht nur die Städte nördlich und südlich der Alpen einander näher. Auch die Beziehung zwischen Behörde und Bewohner wird durch den klimagerechten Städtebau enger.


Anmerkungen:
[01] Changement climatique et actions communales, Informationsanlass Stiftung Pusch, Februar 2017.
[02] Klimawandelanpassungsstrategie für Graz: Informationsbericht und Ausarbeitung von Massnahmen, 2016.
[03] Städtebaulicher Rahmenplan Klimaanpassung, Anpassungskomplex «Hitze», Karlsruhe 2016.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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