Interview

Stadtkultur als Diskussionskultur

Die aus Zürich stammende Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher hat eine Zwischenbilanz der Arbeit des Baukollegiums vorgelegt, das sie in der deutschen Hauptstadt erfolgreich etabliert hat.

Jürgen Tietz
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Sie kämpft für die Schönheit der Stadt – die aus Zürich stammende Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. (Bild: Stefan Zeitz / Imago)

Sie kämpft für die Schönheit der Stadt – die aus Zürich stammende Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. (Bild: Stefan Zeitz / Imago)

Frau Lüscher, Sie scheinen in Berlin als Senatsbaudirektorin unersetzbar zu sein, wie die vor wenigen Wochen erfolgte Verlängerung Ihrer Anstellung zeigt. Aber wozu braucht Berlin ein Baukollegium, das Sie vor zehn Jahren initiiert haben?

Die Schönheit der Städte lässt sich nicht per Gesetz verordnen. Städtebauliche und architektonische Qualität ist immer das Resultat eines längeren Aushandlungsprozesses. Deshalb sind Verfahren, in denen man Architektur diskursiv entwickeln kann, aus meiner Sicht der einzige Weg, um zu architektonischer Qualität zu gelangen. Architektur entsteht aus einer tiefen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand selber, mit dem Kontext, mit den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. In Berlin führte ich das Baukollegium vor zehn Jahren fast guerillamässig ein, weil ich wusste, dafür bekomme ich nie im Leben die Zustimmung vom Senat oder vom Abgeordnetenhaus, dem Berliner Landesparlament. Dies auch wegen der Berliner Bezirksautonomie. Deshalb beschloss ich, es einfach zu machen. Ich schrieb die Bezirke an und offerierte ihnen Beratung. Die einen machten mit, die anderen nicht. Das war eine lange Aufbauarbeit.

Städtebauliche Umstrukturierungsprojekt beim ehemaligen Postcheckamt am Landwehrkanal in Kreuzberg. (Visualisierung: Sauerbruch Hutton)

Städtebauliche Umstrukturierungsprojekt beim ehemaligen Postcheckamt am Landwehrkanal in Kreuzberg. (Visualisierung: Sauerbruch Hutton)

Gibt es eine ideale Besetzung eines Gestaltungsbeirats?

Architektur wird von unterschiedlichen Interessengruppen produziert. Ein Gestaltungsbeirat hat zwei Aufgaben: Er soll die Entscheidungsträger aus Politik, Verwaltung sowie die Architekten und Bauherren an einen Tisch bringen. Die Bauherren sollen dann von einem externen Gremium kompetent und qualifiziert beraten werden.

Derzeit läuft das Baukollegium in seiner zweiten Besetzungsrunde. Wird es in Berlin geschätzt?

Ich bekomme mehrheitlich positive Rückmeldungen. Aber es gibt natürlich auch Beteiligte, die nach einer Sitzung erst einmal schlucken müssen. Darum ist es ganz wichtig, dass die Sitzungen in einem Ton gegenseitiger Wertschätzung stattfinden. Bei der Auswahl der Experten achte ich darauf, dass sie in der Lage sind, ihre Kritik respektvoll zu formulieren, damit jeder sein Gesicht wahren kann. Die besondere Qualität des Gremiums ist es, dass wir zuerst die Grundstücke anschauen, dann die Projekte. Anschliessend treten wir in die Diskussion mit den Akteuren ein. In diesem Moment des Austausches passiert das Entscheidende. Das ist ein absolut kreativer Prozess, bei dem die Empfehlungen erarbeitet werden.

Warum tagt das Baukollegium nicht zumindest teilweise öffentlich?

Dass ich diesen Schritt bisher nicht gewagt habe, hat mit der besonderen Berliner Situation zu tun. Die Senatsbaudirektorin berät die selbständigen Berliner Bezirke. Auch wenn ich persönlich parteipolitisch unabhängig bin, stehe ich dennoch für ein politisch geführtes Haus und habe dadurch eine parteipolitische Zuordnung. Die Stadträte aus den Bezirken kommen dagegen aus ganz unterschiedlichen Parteien, die sich mitunter in Opposition zum Senat befinden. In dieser besonderen Berliner Situation ist es wichtig, ohne ein «Schaulaufen» vor der Öffentlichkeit und ohne Zwänge sachorientiert diskutieren zu können.

Das 170 Meter hohe Estrel-Hotel in Berlin-Neukölln von Barkow-Leibinger. (Visualisierung: PD)

Das 170 Meter hohe Estrel-Hotel in Berlin-Neukölln von Barkow-Leibinger. (Visualisierung: PD)

In welchen Fällen hat die Arbeit des Baukollegiums besonders gut funktioniert?

Es sind immer unterschiedliche Aspekte gut gelungen. Nehmen wir das 170 Meter hohe Estrel-Hotel in Berlin-Neukölln. Dort war zunächst ein derart hoher Turm gar nicht vorgesehen. Wir besprachen das Projekt früh im Baukollegium und mussten zunächst klären, ob an diesem Standort überhaupt ein derart hohes städtebauliches Zeichen möglich war. Das Baukollegium hat das bejaht, aber zugleich darauf hingewiesen, dass im Sockelbereich die Einbindung in den stadträumlichen Kontext einen wichtigen Aspekt darstellt. Während der Bauherr zunächst nur einen Fassadenwettbewerb ausloben wollte, hat sich das Baukollegium für einen hochwertigen Wettbewerb eingesetzt, den das Büro Barkow Leibinger mit einem sehr schönen Entwurf gewonnen hat, der auch das bestehende Hotel integriert. Der Bauherr ist jetzt absolut überzeugt von dem Entwurf. Damit konnte ein Projekt, das lange vom Senat abgelehnt, vom Bezirk aber befürwortet wurde, zu einem sehr guten Ergebnis geführt werden.

Gibt es noch andere Beispiele?

Ein weiteres Hochhausprojekt betrifft das ehemalige Postcheckamt am Landwehrkanal in Kreuzberg. Dort ging es um die städtebauliche Umstrukturierung eines innerstädtischen Areals. Die Frage war: Wie kann der offene Städtebau der Moderne, der dort über die Jahre entstanden ist, angemessen in ein Quartier mit einer Blockrandbebauung einbezogen werden? Im Baukollegium wurde ein Entwurf vorgestellt, der eine Blockrandbebauung vorsah. Wir waren uns sofort einig, dass das nicht die Lösung sein konnte. Aus einem Gutachterverfahren ging dann ein Entwurf von Sauerbruch Hutton hervor, der zwischen dem Solitär der Moderne und dem Blockrand vermittelt. So wird ein Quartier entstehen, das den Sockel als wichtiges städtebauliches Thema weiterentwickelt – und damit auch die für die Urbanität wichtige Frage der Erdgeschossnutzung.

Das Museum des 20. Jahrhunderts. (Bild: Herzog & de Meuron Basel Ltd., Basel, Schweiz mit Vogt Landschaftsarchitekten AG, Zürich/Berlin)  Mark as read (esc)

Das Museum des 20. Jahrhunderts. (Bild: Herzog & de Meuron Basel Ltd., Basel, Schweiz mit Vogt Landschaftsarchitekten AG, Zürich/Berlin)
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Hat das Baukollegium die Atmosphäre in Berlin verändert?

Die Gesprächs- und die Kommunikationskultur haben sich verändert. Das waren auch die wichtigsten Aspekte, die in Berlin verändert werden mussten. Die Gesprächskultur ist die Grundlage einer Planungskultur, und die Planungskultur ist die Grundlage für die Baukultur. Deshalb hat das Baukollegium vor allem den wichtigen architektonischen Diskurs zwischen Investoren, Verwaltung und Architekten verändert.

Bewegt sich Berlin langsam auf das Zürcher Diskussionsniveau zu?

Es gibt nach wie vor grosse Unterschiede. In Zürich, wie allgemein in der Schweiz, herrscht ein ausgefeilter Diskurs auf hohem Niveau, der um architektonische Fragestellungen kreist. In Berlin ist die Diskussion viel breiter, immer sozialpolitisch, ideologisch. Das liegt an der besonderen Situation Berlins als Doppelstadt mit einer Ost- und einer West-Vergangenheit. Die Geschichte spielt in jedem Projekt eine Rolle. Daher kann man hier nicht nur innerarchitektonisch diskutieren. Ich schätze beide Welten, auch wenn ich die präzise innerarchitektonische Diskussion hier sehr vermisse. Dafür schätze ich den in Berlin herrschenden breiten Diskurs, in dem man sich politisch und weltanschaulich positionieren muss.

Wie finden Sie es, dass das Berliner Kulturforum mit dem Entwurf des neuen Museums des 20. Jahrhunderts einen Schweizer Akzent erhält?

Mit dem Entwurf von Herzog & de Meuron für das Museum des 20. Jahrhunderts wurde ein Solitär gefunden, der sich zwischen den bestehenden Solitären behaupten kann. Das alleine ist noch keine Überraschung. Aber dass es ein Solitär geworden ist, der nicht «abstrahlt» und verdrängt wie die anderen Ikonen auf dem Kulturforum, sondern wie ein Magnet wirkt und die vorhandenen Bauten verbindet – das ist eine der zentralen Leistungen dieses Entwurfes. Es wird sicherlich ein Haus, das sich nicht wegduckt neben seinen berühmten Nachbarn, sondern endlich zusammenbindet, was zusammengehört.

Publikation zum Zehnjahresjubiläum des Berliner Baukollegiums: Baukollegium Berlin. Beraten, vermitteln, überzeugen in einem komplexen Baugeschehen. Hrsg. Regula Lüscher. Jovis-Verlag, Berlin 2016. 272 S., Fr. 45.40.