Steine der Weisen

Mit ihren Museen in Köln und London haben Schweizer Architekten einen europäischen Ziegelhype ausgelöst. Dieser zeitigt vor allem in London beachtliche Ergebnisse zwischen Innovation und Tradition.

Jürgen Tietz
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Beispielhafte Ziegelarchitektur, die über poetische Qualität verfügt: Die Newport Street Gallery in Vauxhall (2016) von Caruso St John. (Bild: Anthony Weller / View / Keystone)

Beispielhafte Ziegelarchitektur, die über poetische Qualität verfügt: Die Newport Street Gallery in Vauxhall (2016) von Caruso St John. (Bild: Anthony Weller / View / Keystone)

Sie sind handlich, sie sind wiederverwendbar, und sie sind schön. Doch Ziegel sind noch mehr. In ihrem Farbspektrum von Rot über bläulich changierend bis zu Sandfarben oder Schwarz erweisen sie sich als Bausteine mit Geschichte für die Gegenwart. Innovativ und ästhetisch ansprechend führen Herzog & de Meuron mit ihrer im letzten Jahr eröffneten Erweiterung der Tate Modern in London vor, welches Niveau zeitgenössische Ziegelarchitektur erklimmen kann. Wie ein grobmaschiges Kleid aus Doppelziegeln und Öffnungen legt sich das von ihnen entworfene Fassadengewand über den gefältelten Baukörper und bindet das Museum klug an den Bestand des alten Kraftwerks sowie die Wohnbauten der Umgebung an.

Ohne zu imitieren, wird die reiche Geschichte der Londoner Ziegelarchitektur fortgeschrieben. Doch die Tate-Erweiterung der Basler Architekten bildet nur die Spitze eines Ziegel-Eisbergs. London, in dessen Skyline in den kommenden Jahren zahlreiche neue gläserne Hochhaustürme hineinwachsen werden und dessen überhitzter Wohnungsmarkt trotz dem angeschlagenen Pfund selbst für Gutverdienende längst eine kaum zu bewältigende Herausforderung darstellt, erlebt derzeit ein erstaunliches Backstein-Revival.

Schweizer Vorbilder

Die Vielfalt seiner Ergebnisse unterstreicht die vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten des traditionellen Baumaterials. Davon zeugen zwei Wohnbauten, welche das niederländisch-britische Architekturbüro deRijke Marsh Morgan (dRMM) in Hybridbauweise aus Holztragwerk und Ziegelverkleidung realisiert hat. Während es dRMM mit seinem Ziegel-Ensemble in Elephant and Castle immerhin auf die Shortlist des renommierten Stirling-Preises des Royal Institute of British Architects schafften, errangen Adam Caruso und Peter St John für ihre Newport Street Gallery 2016 den begehrten Preis. Brillant fassen die Londoner Architekten mit Zürcher Dépendance ein denkmalgeschütztes Ensemble im Londoner Borough of Lembeth ein. Es ist eine beispielhafte Architektur, die neben dem nötigen Mass an Strenge über eine hohe poetische Qualität verfügt.

Innovativ und ästhetisch ansprechend führen Herzog & de Meuron mit ihrer im letzten Jahr eröffneten Erweiterung der Tate Modern in London vor, welches Niveau zeitgenössische Ziegelarchitektur erklimmen kann. (Bild Matt Dunham / Keystone)

Innovativ und ästhetisch ansprechend führen Herzog & de Meuron mit ihrer im letzten Jahr eröffneten Erweiterung der Tate Modern in London vor, welches Niveau zeitgenössische Ziegelarchitektur erklimmen kann. (Bild Matt Dunham / Keystone)

Bekrönt von sägezahnartigen Sheddächern, öffnet sich ihr Haus mit grossformatigen Fenstern zur Strasse. Sie scheinen mit scharfkantiger Präzision aus der Ziegelwand herausgelöst zu sein. Während dRMM Ziegel aller Farben mischen, beschränken sich Caruso St John auf einen pointierten Dualismus aus roten und schwarzen Steinen und beweisen einmal mehr ihre ausserordentliche Fähigkeit, im Zusammenklang mit der Umgebung zu arbeiten. Die Textur der weiss übertünchten Ziegel scheint auch im Treppenhaus der Newport Street Gallery durch, überlässt dort jedoch der elegant geschwungenen Brüstung samt hölzernem Handlauf die Hauptrolle.

An das exzeptionelle Niveau der Newport Street Gallery vermag die nur einen kurzen Spaziergang entfernt gelegene Cabinet Gallery von Trevor Horne Architects in Vauxhall Gardens nicht heranzureichen. Gleichwohl ist sie sehenswert. Ihr vieleckiger Baukörper ruft eine ferne Erinnerung an die Pavillons wach, die einst in den Londoner Vergnügungsparks standen. Inzwischen hat sich das Quartier um die Parkanlage als beliebter Standort von Kunstgalerien etabliert. Auf der kurzen Wegstrecke zwischen Newport und Cabinet Gallery lässt sich wunderbar beobachten, wie der Ziegel im Wechsel der Jahrzehnte und der vorherrschenden Moden das architektonische Leitmotiv der Londoner Baukunst blieb.

Eine zeitgenössische Antwort auf die traditionellen Reihen- und Wohnhauskomplexe hat das Genfer Duo Jean-Claude Jaccaud und Tanya Zein mit seinen Ziegelbauten im angesagten Quartier Shoreditch formuliert. (Bild: David Grandorge / pd)

Eine zeitgenössische Antwort auf die traditionellen Reihen- und Wohnhauskomplexe hat das Genfer Duo Jean-Claude Jaccaud und Tanya Zein mit seinen Ziegelbauten im angesagten Quartier Shoreditch formuliert. (Bild: David Grandorge / pd)

Trotz aller Nobilitierung, die er durch die Verwendung für Museen oder Galerien erfahren hat, ist er bis heute wichtiges Gestaltungselement für den Wohnungsbau in der Stadt geblieben. Eine zeitgenössische Antwort auf die traditionellen Reihen- und Wohnhauskomplexe hat das Genfer Duo Jean-Claude Jaccaud und Tanya Zein im angesagten Quartier Shoreditch formuliert. Während an der Old Street ganz in der Nähe lärmend neue Hochhäuser in den Himmel wachsen, präsentiert sich ihr aus Reihenhaus und Wohnblock komponiertes Eck-Ensemble in ruhiger Seitenstrassenlage mit charmanter Selbstverständlichkeit. Braune Ziegel, Betongesims und grosse Fensteröffnungen fügen die Genfer Architekten mit der leicht bewegten Gebäudefigur zu einem ebenso harmonischen wie selbstverständlichen Gesamteindruck zusammen, der über den Tag hinaus Geltung beanspruchen kann.

Londons Aufbruch in ein neues Jahrzehnt des Ziegels, das noch lange nicht abgeschlossen scheint, ist kein Einzelfall in Europa. Seine Initialzündung erlebte die gegenwärtige Renaissance mit dem 2007 eröffneten Kolumba-Museum in Köln von Peter Zumthor. Mit den dort verwendeten langen, schlanken Ziegeln hat er ebenso zur Nobilitierung des Materials beigetragen wie zuvor Lundgaard und Tranberg mit ihrem prominent placierten Schauspielhaus in Kopenhagen (2007). Ohnehin war das Baumaterial der mittelalterlichen Backsteingotik selbst in der Moderne des 20. Jahrhunderts nie wirklich ausser Mode. Vom norddeutschen Klinker-Expressionismus über die skandinavischen Avantgarde-Altmeister Alvar Aalto und Arne Jacobsen führt eine Linie bis zu den frühen brutalistischen Bauten des britischen Architektenduos Peter und Alison Smithson.

Auch in der Schweiz findet Ziegelarchitektur vermehrt Liebhaber, wie die schöne Wohnüberbauung Letzibach von Loeliger Strub Architekten und Adrian Streich in Zürich zeigt. (Bild: Roman Hollenstein)

Auch in der Schweiz findet Ziegelarchitektur vermehrt Liebhaber, wie die schöne Wohnüberbauung Letzibach von Loeliger Strub Architekten und Adrian Streich in Zürich zeigt. (Bild: Roman Hollenstein)

Boom auch in der Schweiz

Traditionell häufiger im Norden Europas verbreitet, findet der Ziegel zurzeit selbst in der Schweiz vermehrt Liebhaber, wie der Erweiterungsbau des Basler Kunstmuseums von Christ & Gantenbein oder die schöne Wohnüberbauung Letzibach von Loeliger Strub Architekten und Adrian Streich in Zürich zeigt. Der variabel kombinierbare und dauerhafte Ziegel besticht ausserdem durch seine haptischen Qualitäten. Wer über die raue Oberfläche eines Ziegels streicht, sein Gewicht und seine Grösse mit den Händen ermisst, dem erschliesst sich ganz unmittelbar seine sinnlich-archaische Kraft. Es ist ein Lowtech-Baumaterial in Zeiten einer digital hochgerüsteten Architektur und zugleich ein Baustein des sozialen Wandels und des Miteinanders. Das beweisen jene mehrfach preisgekrönten Schulbauten, die der aus Burkina Faso stammende und in Berlin arbeitende Diébédo Francis Kéré verwirklicht hat. Er darf zudem den diesjährigen Pavillon der Serpentine Gallery in London gestalten.