Knöpfe und Kanten verschwinden – Produktedesign ist tot

Das klassische Produktdesign stirbt aus. Knöpfe, Kanten und greifbare Formen verschwinden. Nutzeroberflächen und Sprachsteuerung sind die neue gute Form.

Oliver Herwig
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Einst konnte man den Gegenständen unseres Alltags noch ansehen, wozu sie uns dienten. Heute verschleiert die Form in fröhlicher Abstraktion jede handfeste Anschauung. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Einst konnte man den Gegenständen unseres Alltags noch ansehen, wozu sie uns dienten. Heute verschleiert die Form in fröhlicher Abstraktion jede handfeste Anschauung. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Alles muss weg, so scheint die neuste Losung auf dem Gebiet des Designs zu lauten. Zwar gilt Reduktion schon seit Jahren als Leitlinie aller Handyhersteller. Doch nun gehen sie einen Schritt weiter. Wer das jüngst auf den Mark gekommene chinesische Smartphone «Mi Mix» in die Hand nimmt, kommandiert nur noch über eine grosse, fast randlose Oberfläche, auf der sich Icons tummeln. Dazu kommt eine feine Begrenzung, damit all die Apps nicht versehentlich über den Rand rutschen und ins Bodenlose stürzen. Aber selbst diesen Anflug von Material hat der Franzose Philippe Starck fast wegdesigned.

Minimalismus gefällt der Design-Community, und zwar so gut, dass sich ganze Blogs über die Qualitäten des neuen chinesischen Handys auslassen. Die Benutzer erleben eine Zeitenwende. Denn weniger muss nicht mehr zwangsläufig «Apple» heissen oder «Samsung». Dabei stellt sich die Frage, ob ihr Objekt der Begierde überhaupt noch als klassisches Produktdesign bezeichnet werden kann, da die Kunst ja gerade darin zu bestehen scheint, alles Materielle wegzulassen.

Die Wahrheit der Objekte

Im Zentrum stehen ohnehin die Apps, die sich jeder nach Lust und Laune lädt. Ergonomie heisst schon lange nicht mehr, dass Dinge gut in der Hand liegen – denn das tun die meisten Mega-Handys ohnehin nicht –, sondern, dass sie funktionieren. Wir wollen uns nicht darum kümmern, wie einzelne Menus aufgebaut sind oder wo der Lautstärkeregler sitzt. Auspacken, einschalten, loslegen – das ist der Dreischritt der Nutzer. Komplexität stört da nur. Und auch Materie.

Manche mögen sich noch an den Augenblick erinnern, als ein Mann mit Jeans, Turnschuhen und schwarzem Rollkragenpullover eine dunkle Bühne bestieg, allen Tasten den Kampf ansagte und verkündete, dass Apple gerade das Telefon neu erfunden habe. Als Steve Jobs 2007 das erste iPhone vorstellte, hatte man sich gerade an Hörknochen mit Tastaturen für Kurznachrichten gewöhnt. Heute gibt es Menschen, die ein Smartphone vor allem zum Surfen verwenden, zum Chatten oder zum Musikhören – und kaum noch für ein ordinäres Telefonat. Der Erfolg des revolutionären Bedienungskonzepts – wischen statt tippen und drücken – setzte freilich auch die Designer unter Druck, mit jeder neuen Produktgeneration das System zu verfeinern und konsequenter zu gestalten. Mit dem Resultat, dass die Geräte immer filigraner, leichter und – hoppla – grösser wurden und sich optisch gar nicht mehr von der Vorgängergeneration unterschieden.

Das Smartphone von heute ist zu Ende entwickelt, Verbesserungen betreffen nur noch das Bestehende. Der Wendepunkt war 2012 erreicht, als Apple und Samsung sich über Patente, Kurvenradien und Details bekriegten, als gelte es, die Wahrheit der Dinge ans Licht zu bringen. Design war nur noch Teil einer Markenidentität. Nach und nach verschwanden alle mechanischen Teile, bis endlich auch der störanfällige Home-Button Teil einer einzigen Oberfläche wurde. Beim Smartphone «Mi Mix» wirkt das Fotografieren so, als halte man ein Stück Glas in die Luft. Voller Durchblick mit etwas Rahmen. Seit Erfindung des Schreibgriffels gibt es offenbar nur eine Richtung: Kommunikation entledigt sich ihrer physischen Grenzen. Auch das Smartphone verwandelt sich langsam in eine platonische Idee: reiner Dialog, reine Teilhabe, reine Übertragung – ohne störende Materie.

Augenblicklich wischen wir zwar noch auf etwas Glas, aber auch das könnte bald verschwinden – zugunsten einer Steuerung über Gesten oder Sprache. Hologramme könnten Bilder projizieren, während die notwendige Technik uns womöglich einfach implantiert wird und uns zu Cyborgs macht, zu Maschinenmenschen, Menschmaschinen.

Funktion ist Form

Das klassische Produktdesign jedenfalls ist tot. Zumindest solange man darunter Knöpfe, Kanten und greifbare Formen versteht. Aus der dritten Dimension wurde Flachware. Es ist schon seltsam. Die längste Zeit wurde Produktdesign ohnehin falsch verstanden: als Designerzeugs, das teuer sei und nicht funktioniere. Oder als attraktive Hülle, die Gestalter über Dinge stülpen, die besser ohne sie entstanden wären, und zwar in den Ingenieursabteilungen der Unternehmen. Macht es schön, lautet der Leitspruch der Marketingabteilung, aber ändert ja nichts am Ablauf und an der Funktion.

Selbstverständlich gab und gibt es noch immer Leuchttürme wie Braun, Hilti und IBM – Firmen, die es verstanden, den Wert ihrer Produkte durch Gestaltung in die Höhe zu treiben. Aber für die Mehrzahl der Manager war Design nur ein anderes Wort für verkaufsfördernde Massnahmen. Ein Schmiermittel, das Dinge attraktiv machte. Da konnte Dieter Rams noch so vehement für gutes Design eintreten, Unternehmer sahen vor allem Kosten und Märkte, die es mit immer neuen Varianten des Bestehenden zu versorgen galt. Das klassische Produktdesign war ein Katalysator der Warenwelt. Nun, da viele Objekte verschwinden und nur noch Funktionen übrig bleiben, Schnittstellen zwischen Auge, Finger, Sprache und Gedanken, steht es vor neuen Herausforderungen.

Das Smartphone steht nicht allein. Die Dematerialisierung der Welt der Dinge steht eher noch am Anfang. Bücher wurden bereits digitalisiert, Schallplatten verwandelten sich erst in Compact Discs und später zu Stücken einer virtuellen Playlist, die man überall und immer abrufen kann. «Das ist der Beginn eines neuen Zeitalters», sagt auch Carlotta de Bevilacqua, Chefdesignerin und Vizepräsidentin des Leuchtenherstellers Artemide.

Sie spricht sogar von einem neuen Licht. Tatsächlich verschmelzen mit der Chip-Diode, der LED, Leuchtmittel und Leuchte zu einer Einheit, die völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten bietet: Wolken aus Licht – und nicht länger schwere Objekte, die Glühkörper in die Höhe recken. Die Form folgt nicht mehr der Funktion, sondern die Funktion ist die Form. Das muss man erst einmal verdauen.

Natürlich wird es auch morgen noch ganz normale Stühle geben und Sofas, Betten und Decken. Etwas Greifbares, das zwischen den Fingern spürbar bleibt, etwas, das wir an die Nase drücken können, etwas, das offensichtlich da ist. Aber ganz sicher ist auch das nicht. In München errichtete ein Immobilienentwickler einen 3-D-Showroom, in dem er künftige Kunden direkt durch die noch geplanten Objekte führt. Und zwar so realistisch wie eben möglich. Mit der gleichen Technologie könnte man Sozialwohnungen mit virtuellem Alpenblick ausstatten. Und mit einem Schnipp an die Riviera versetzen, inklusive des Geräuschs der Wellen am Strand. Was soll all das bedeuten? Werden wir eintreten in eine Welt der diskreten Dinge? Der virtuellen Projektionen? In eine Sphäre der Totalkommunikation, bei der wir das Netz nicht mehr ein- und ausschalten, sondern dauernd mit uns tragen und uns nur noch als Teil des Ganzen, der vernetzten Datenwolke verstehen?

Ganze Welten schaffen

Fest steht nur eines: Die Grenze zwischen real und virtuell verschwimmt immer mehr. Unser Verhältnis zu den Dingen des Alltags wird sich damit ändern. Wenn wir Sofas und Tapeten in unserem digitalen Wohnzimmer künftig nur noch herunterladen, müssen wir tatsächlich aufpassen, worauf wir uns setzen, wenn wir im Ohrensessel Platz nehmen wollen. Im besten Fall ist es ein reales Stück Wellpappe, im schlechtesten nur eine Illusion. Dann hat sich das Produktdesign zumindest einen Traum erfüllt: ganze Welten zu schaffen, nicht nur unverbundene Dinge.