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Der Raum vor der Linse
Der Standard

Gestern, Freitag, wurde der Europäische Architekturfotografie-Preis vergeben. Ein Appell an die gebaute (und zerstörte) Umwelt.

6. Mai 2017 - Wojciech Czaja
Fast möchte man ins Foto hineingreifen, sich des Gestrüpps erbarmen und die Lampe wieder ins Lot stellen. Doch irgendetwas an diesem hässlich eingefangenen Blick scheint zu kommunizieren, dass es dafür schon zu spät ist, dass das Business-Center längst nicht mehr in jener messingfarbenen Würde erstrahlt wie dereinst zu gastgewerblichen Zeiten. Es ist eine traurige, deprimierende Subtilität, die sich hier über Flatscreen und Raufasertapete dem Betrachter mitteilt.

Die Vermutung ist wahr: Vor einigen Jahren wurde das Hotel President, ein angegammeltes Best-Western-Hotel mit Vertreter-Charme in allerbester Lage, nur wenige Schritte vom Kudamm entfernt, geschlossen. Heute wird der einstige Klotz als Notunterkunft für geflüchtete Menschen genutzt. Es ist eines von insgesamt vier Orten dieser Art, die der Berliner Fotograf Andreas Gehrke unter dem Titel Arrival eingefangen hat. Gestern Abend wurde die vierteilige Fotoserie im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main mit dem Europäischen Architekturfotografie-Preis 2017 ausgezeichnet.

„Mich interessieren Orte, die von Mangel, Abwesenheit und Unbestimmtheit geprägt sind“, sagt Gehrke im Interview mit dem STANDARD . Seit langer Zeit schon porträtiert der 41-Jährige städtische und ländliche Lebensräume, dokumentiert mit seiner großformatigen Plattenkamera vergängliche und auch längst vergangene Orte. „Das Faszinierende und Berührende an diesem Hotel ist, dass sich seine Nutzung gewandelt hat und dass es heute einer großen Zahl an Menschen als Wohnort dient.“

Für ein paar Sekunden verstummt das Gespräch. „Doch ja, es ist ein artifizieller Blick, den ich da habe. Es ist ein künstlicher Kommentar zu den Lebensumständen der nach Deutschland geflüchteten Menschen. Viele von ihnen haben ihren Lebensmittelpunkt aufgegeben und müssen nun monatelang, oft ohne Aussicht auf mittelfristige Besserung, in einem alten, aufgelassenen Mittelklassehotel in auf engstem Raum zusammengepferchten Stockbetten ausharren. Meine Fotos sind nur der Versuch, mich in die Lage der Flüchtlinge hineinzuversetzen.“

Vier Annäherungsversuche hat Gehrke für den heuer ausgeschriebenen Fotografie-Wettbewerb un-ternommen. Sie sind so unterschiedlich wie auch die von ihm gewählten Farbwelten und Formate. Neben dem aufgelassenen Hotel President sind dies die ehemalige Stasi-Zentrale in der Ostberliner Ruschestraße, eine provisorische Mehrzweckhalle auf dem Flugfeld in Berlin-Tempelhof sowie eine temporäre Unterkunft auf dem Berliner Messegelände. Die palästinensische Flagge, die über der behelfsmäßigen Abzäunung flattert, ist der Beweis dafür, dass auch in der prekärsten Situation die Sehnsucht nach Heimat nicht abreißt.

„Es deutet alles darauf hin, dass Migration eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden wird“, sagt Gehrke. „Meist fokussieren wir unseren Blick zu diesem Thema auf die politischen Grenzen. Doch ein großer Teil der Migration und der damit leider verbundenen Abgrenzung und Abschottung gegen das Fremde findet mittendrin in unseren Städten statt – in meinem Fall mitten in Berlin.“ Das Ausmaß der Entfremdung und der sozialen Härte in Gehrkes Bildern ist beschämend.

„Die europäische, aber auch globalpolitische Diskussion der letzten Jahre und Monate hat sehr stark mit Grenzen – mit Grenzöffnung, Grenzziehung und Grenzschließung – zu tun“, sagt Christina Gräwe, Erste Vorsitzende des Vereins Architekturbild, der den Preis in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Baukultur und dem DAM in Frankfurt seit 1995 biennal vergibt. „Daher haben wir uns entschieden, die Grenze zum diesjährigen Generalthema zu erheben. Die künstlerischen Annäherungen sind sehr unterschiedlich. Doch die Gemeinsamkeit aller 133 eingereichten Arbeiten ist, dass sie nie den anwesenden, sondern fast immer nur den abwesenden und ausgegrenzten Menschen darstellen. Das gibt mir zu denken und beweist, dass das Thema sehr präsent ist.“

Auch Matthias Jungs Fotoserie Revier , die mit einem weiteren Preis ausgezeichnet wurde, dreht sich um den verschwundenen Menschen. Gezeigt werden ausgestorbene Gemeinden im größten Braunkohletagebaugebiet Europas. Rund um die Tagebauwerke Garzweiler, Hambach und Inden im Westen Kölns fallen immer mehr Ortschaften den riesigen Baggern und den von ihnen aufgerissenen, bis zu 400 Meter tiefen Schürflöchern zum Opfer. Insgesamt wurden in den letzten Jahrzehnten bereits 40.000 Menschen enteignet und umgesiedelt.

„Was tut die Menschheit in einem so reichen und demokratischen Land ihrer Bevölkerung an“, sagt Matthias Jung, „dass hier ohne größere Not tausenden Menschen ihre Identität und Heimat geraubt wird?“ Die verbarrikadierten Fenster und Auslagen in den nächtlichen, nur durch Laternenschein erleuchteten Backsteinfassaden zeugen von einer entleerten Tristesse. So mancher Ort in Jungs Fotoserie ist längst schon im unaufhaltsam wachsenden Loch der fossilen Rohstoffgewinnung verschwunden. „Die Tagebauwerke wurden im Kalten Krieg gegründet und hatten damals durchaus ihre Berechtigung. Doch in der heutigen politischen Situation erscheint die Braunkohleförderung auf diese Weise mehr als anachronistisch.“

Es ist genau dieser reflektierte, zum Nachdenken anregende Blick auf die von uns gebaute (und zerstörte) Umwelt, den der Europäische Architekturfotografie-Preis vor den Vorhang holen will. „Hinter der klassischen Auftragsarbeit der Architekturfotografie“, erklärt Gräwe, „lauert ein sensibler künstlerischer Impetus, der für uns alle ein wertvoller Spiegel ist. Diesen anschaulich zu machen ist unsere Aufgabe.“

Die insgesamt 28 ausgezeichneten und gewürdigten Fotoarbeiten zum Thema „Grenzen“ sind bis 6. August im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt zu sehen. Zur Ausstellung ist ein gleichnamiger Katalog erschienen. AV Edition, 128 Seiten, € 24,80.

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