Zürich verschandelt sich selbst

In Zeiten der Globalisierung sollten Städte wie Zürich durch unverwechselbares Aussehen punkten. Leider tut die Limmatstadt das Gegenteil: Historische Häuser werden abgerissen, seelenlose Neubauten wie nun jener der Swiss Re entstehen.

Roman Hollenstein
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Abstraktion statt Baukunst – vom gläsernen Neubau der Swiss Re droht der Virus der Suburbanisierung auf das benachbarte Mythenschloss überzuspringen. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Abstraktion statt Baukunst – vom gläsernen Neubau der Swiss Re droht der Virus der Suburbanisierung auf das benachbarte Mythenschloss überzuspringen. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Versprochen wurde uns ein Meisterwerk mit flimmernd silbergrünen Glasfassaden. Wie tanzende Fontänen sollten sie vor dem Hintergrund des Üetlibergs die Blicke auf sich ziehen. Das Rendering war so verführerisch, dass der Versicherungskonzern Swiss Re im Jahr 2008 nach der Verkündigung der Wettbewerbsergebnisse seinen neuen Hauptsitz am See schon als Zürcher Wahrzeichen des 21. Jahrhunderts sah.

Vom schönen Trugbild hatte sich zuvor schon die Wettbewerbsjury betören lassen. Dabei wissen alle, die mit Renderings vertraut sind, dass die am Computer gefertigten Bilder der Wirklichkeit zumeist nicht standhalten können. Dies gilt besonders bei Glasbauten, deren ästhetische Wirkung schwer abzuschätzen ist. Bei Gegenlicht und schlechtem Wetter verlieren sie ihre Strahlkraft und mutieren zur kalten, toten Architektur. Das lässt sich nun beim fast vollendeten Swiss-Re-Neubau nachprüfen. Er steht so am See, dass seine Hauptfassade vom Mittag an im Schatten liegt und den Flaneuren am gegenüberliegenden Utoquai als dunkle Wand entgegenblickt, auf der man allenfalls ein nicht vorhandenes Fensterraster zu erahnen meint.

Minimalistischer Glassarg

Der kantig-würdevolle Vorgängerbau, den Werner Stücheli 1969 aus Beton, Stahl und Glas errichtet hatte, reagierte auf die Verschattung mit abgestuften Volumen, die sich gut in die historische Seefront eingliederten. Der nun an seiner Stelle sich aus der Verschalung lösende Neubau des angesehenen Basler Architekturbüros Diener & Diener erscheint hingegen wie ein minimalistischer Glassarg. Aus dem wellenartig bewegten, immateriellen Gebäude mit der leicht zurückversetzten Attika, das uns das Computerbild vorgaukelte, ist nämlich ein abstrakter, massstabsloser Bau geworden, der – abgesehen von nach oben schmaler werdenden Kannelüren – auf Gliederung verzichtet. Im Sonnenlicht des Vormittags leuchtet er wie ein transparenter Harass voll riesiger grüner Flaschen oder – netter formuliert – wie eine überdimensionale Aalto-Vase.

Aus der ursprünglich geplanten minimalistischen Architekturskulptur ist ein banales Gebäude geworden, das allenfalls in den Gewerbezonen am Stadtrand einen gewissen Reiz entfalten könnte, nicht aber an einer der schönsten Stellen Zürichs. Denn obwohl die Bauherrin nicht knausrig war, gleicht nun ihr neuer Hauptsitz all jenen Investorenbauten, die den «falschen Glanz der Transparenz» verströmen.

Ästhetisch überzeugendere Lösungen wären denkbar gewesen. Das zeigt ein Blick auf zwei an ähnlich repräsentativer Lage errichtete Geschäftshäuser: auf Peter Märklis Synthes-Verwaltungssitz an der Aare in Solothurn und auf den Novartis-Neubau von Herzog & de Meuron am Rhein in Basel.

Selbst Diener & Diener haben als Tor zum Novartis-Campus ein Bürohaus errichtet, das mit seinen farbig-bildhaften Relief-Fassaden weit urbaner wirkt als ihr neues Bauwerk am Mythenquai. Da stellt man sich die Frage, ob der einst für sein städtebauliches Einfühlungsvermögen bekannte Roger Diener, der als ehemaliges Mitglied des Zürcher Baukollegiums mit den hiesigen Verhältnissen doch vertraut ist, an diesem Resultat Freude haben kann. Zumal ihm der Versuch, mit den gewellten Fassaden einen Bezug zu den benachbarten Altbauten, zur Landschaft und zum See zu schaffen, gründlich misslungen ist.

Seinem Neubau eignet der Charme von Suburbia. Dabei war die Swiss Re einst mit dem Anspruch angetreten, ein ikonisches Gebäude zu errichten, das gleichsam eine horizontale Antwort auf den himmelstrebenden Phallus des Londoner Swiss Re Tower hätte geben sollen. Stattdessen beeinträchtigt das Glashaus nun die Nachbarschaft. Diese wird geprägt vom Roten Schloss und vom Mythenschloss, die als steinerne Klammern das von der Kirche Enge überragte Arboretum harmonisch fassen.

Ein Virus greift um sich

An Roger Dieners Neubau hätte man sich widerstrebend gewöhnen können. Doch nun droht das Virus der Suburbanisierung und Anonymisierung von ihm auf das Mythenschloss überzuspringen. Der von Arminio Cristofari konzipierte Prachtsbau – ein in Zürich rares Beispiel eines grossbürgerlichen Wohnpalastes mit u-förmigem Ehrenhof – setzte seit 1927 einen vornehmen Akzent beim Hafen Enge. Dennoch wurde er 1982 abgebrochen, wobei aus Gründen des Denkmal- und Ortsbildschutzes die seeseitigen Gebäudeteile in ihrer neuklassizistischen Form rekonstruiert werden mussten. Umso mehr erstaunt es, dass die Swiss Re nach dem Stücheli-Bau nun auch das Mythenschloss ersetzen darf – und zwar durch einen vom Zürcher Büro Meili Peter geplanten Neubau.

Dazu hat der Stadtrat den seeseitigen Bauteil aus dem Inventar der schützenswerten Bauten entlassen – mit der Begründung, es handle sich nur um eine Rekonstruktion. Für das Ortsbild können aber auch Rekonstruktionen wichtig sein. Das beweisen zahllose Gebäude in München oder Wien, die nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ebenso neu errichtet wurden wie jüngst das barocke Zentrum Dresdens oder die Häuserzeile am Markt beim Mainzer Dom. Aber auch das Berliner Stadtschloss oder die «Altstadt» von Frankfurt, die derzeit aus dem Nichts erstehen, veranschaulichen die Bedeutung rekonstruierter Bauten für die Befindlichkeit der Menschen. Da kann ein puristisches Denkmalverständnis sich noch so sehr dagegen sträuben.

Grassierende Abrisswut

Auch Zürich hat mehr Rekonstruktionen, als man denkt, darunter so prominente wie das «Savoy» am Paradeplatz oder den «Raben» am Hechtplatz. Dennoch würde niemand deren Abriss akzeptieren, obwohl sie zur selben Zeit neu erstellt wurden wie das Mythenschloss. Warum aber soll dieses kein Existenzrecht haben? Zumal sein Abriss eine unvergleichliche städtebauliche Komposition an Zürichs Seeufer unwiederbringlich zerstören würde. Dass dies weder der Stadtrat noch die Denkmalpflegekommission erkennen wollten, zeigt, wie unsensibel man im boomenden Zürich geworden ist, wo die Interessen der Hausbesitzer höher gewichtet werden als das einzigartige Stadtbild.

Nun mag man einwenden, dies sei anderswo kaum besser. Etwa in Lugano, wo hässliche Spekulationsbauten in Paradiso wie Pilze aus dem Boden schiessen. Das macht die Sache aber nicht besser. Deshalb sollten Grossfirmen, und seien sie für die Stadt noch so wichtig, zum sorgfältigen Umgang mit ihren Gebäuden angehalten werden – und zwar durch Überzeugungskraft. Dies wäre gerade für die Häuserzeilen an See und Limmat wichtig, wo Zürichs baukünstlerische Schönheit und Besonderheit von Einheimischen und Touristen auf einen Blick erfasst werden kann.

Nicht die Rekonstruktionen sind also das Problem von Zürich, sondern die weder urbanistisch noch energetisch sinnvolle Abrisswut, die der Stadt schon allzu viel historische Substanz gekostet hat. An deren Stelle wurde meist mittelmässige Architektur realisiert. Sie verwässert das Bild der Stadt: an der Bahnhofstrasse genauso wie am Limmatquai, am Hirschen- und am Pelikanplatz ebenso wie an der Schifflände. Und am Kreuzplatz, wo man vor 15 Jahren den malerischen Kern des einstmals ersten Dorfs an der barocken Ausfallachse nach Rapperswil einem anonymen Grossbau opferte, wird nun die Keule der Suburbanisierung weiter geschwungen. Bauen doch von Ballmoos Krucker Architekten für die Migros ein disproportioniertes neues Haus von grosser Einfallslosigkeit. Da fragt man sich, ob es überhaupt noch ein Baukollegium gibt, das über die architektonische Qualität geplanter Neubauten wacht.

Keine Extravaganzen

Erneuerung kann nämlich durchaus im Dialog mit dem Bestand stattfinden, wie der Bahnhof Stadelhofen oder die Überbauung Kalkbreite zeigen. Und nur einen Steinwurf vom Mythenschloss entfernt sucht die Zurich-Versicherung den Ausgleich. Obwohl ihrem Neubau auch alte Bausubstanz an der Breitinger- und an der Alfred-Escher-Strasse weichen muss, bewahrt sie die architektonisch und städtebaulich wichtigsten Objekte – so den repräsentativen, denkmalgeschützten Kunkler-Bau am Mythenquai und zwei Art-déco-Gebäude.

Zwar führt auch der geplante, in eine grob gebrochene Glashaut gehüllte Neubau von Adolf Krischanitz die Anonymisierung der Versicherungsmeile weiter – vor allem entlang der allmählich zur gläsern-seelenlosen Verkehrsschneise verkommenden Alfred-Escher-Strasse. Dennoch sollte die Swiss Re bei der Erneuerung des Mythenschlosses einen ähnlichen Weg einschlagen, wie ihn die Zurich-Versicherung nun geht, und den das Uferpanorama prägenden Bauteil als Wohnhaus erhalten. Im Gegenzug sollte man ihr – wie schon der Zurich-Versicherung – erlauben, den architektonisch gar nicht so üblen rückseitigen Anbau durch ein höheres Gebäude zu ersetzen, in dem die benötigten Räumlichkeiten untergebracht werden könnten.

Das für seine kontextbezogene Architektur bekannte Büro Meili Peter, das den geplanten Ersatzbau ausführen soll, wäre zweifellos fähig, eine ähnlich anspruchsvolle Lösung wie bei seinem Zürcher «Hyatt» zu finden. Dies wäre im Interesse aller, denn in Zeiten der Globalisierung ist für Städte wie Zürich ein unverwechselbares Aussehen wichtiger denn je. Dazu braucht es keine jener gläsernen Extravaganzen, die die globalen Metropolen immer einfältiger machen, sondern einen der Identifikation mit dem Ort dienenden historischen Baubestand.