Mit Baukunst die Regeln brechen

Die Architektur der Wiener Moderne widerspiegelte vielfältige Einflüsse. Das macht sie für die Gegenwart so interessant.

Gabriele Reiterer
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Nichts ist hier zufällig – das 1931 von Josef Frank zusammen mit Oskar Wlach für den jüdischen Fabrikanten Julius Beer in Wien realisierte Haus Beer. (Bild: Margherita Spiluttini / AZW)

Nichts ist hier zufällig – das 1931 von Josef Frank zusammen mit Oskar Wlach für den jüdischen Fabrikanten Julius Beer in Wien realisierte Haus Beer. (Bild: Margherita Spiluttini / AZW)

Die Architektur der österreichischen Moderne fasziniert. Sie zeichnet sich aus durch eine hohe künstlerische Produktivität im Spannungsfeld von Aufbruch und Ambivalenz. Ihre Erfindungen zählen zum Hervorragendsten, was jene Epoche hervorgebracht hat. Viele ihrer Protagonisten hatten den Mut, formale Regeln zu brechen und neue Lösungen zu entwerfen. Ähnliches gilt ebenfalls für unsere Zeit, in der Architektur und Kunst auf neustem Wissen aufbauen. Diese kreativen Prozesse beflügeln wiederum die exakten Wissenschaften und die Welt der Wirtschaft.

Der Zauber der modernen Wiener Architektur ist ungebrochen, wie ein Blick auf das 1931 von Josef Frank in Zusammenarbeit mit Oskar Wlach für den jüdischen Fabrikanten Julius Beer an der Wenzgasse 12 in Wien realisierte Haus Beer zeigt. An der flächig gehaltenen Fassade wechseln sich zur Strasse hin die unterschiedlichsten Fensterformen mit einem quadratischen Erker ab, während gartenseitig drei abgetreppte Terrassen das Bild bestimmen. Dennoch ist hier nichts zufällig; und ruhige Selbstverständlichkeit herrscht. Im Innern ist das fast schwebend anmutende Raumgefüge, das sich zu einer mehrgeschossigen offenen Treppenlandschaft weitet, an Virtuosität kaum zu übertreffen. Interessant an dieser Architektur ist die Konsequenz des Entwurfsgedankens. Er wirft Fragen auf: In welchem Umfeld lebte Joseph Frank, in welch geistige und kulturelle Welt war er mit seinen Ideen eingebettet?

Kulturelle Höhenflüge

Am Wiener Polytechnikum, wo Frank studierte, lehrte Karl König. Seine Schüler – darunter Grössen wie Richard Neutra und Rudolph Schindler – nannten ihn ihren wichtigsten Lehrer. Ein Architekturstudium in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutete, in eine Vielfalt an kulturellen und gestalterischen Welten einzutauchen. Nirgendwo war «der Drang zum Kulturellen so leidenschaftlich wie in Wien», schrieb Stefan Zweig. Die Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flirrten zwischen materiellen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Höhenflügen; und die Literaten – von Robert Musil bis Hugo von Hofmannsthal – betrauerten verlorene Welten.

Die neuen Naturwissenschaften feierten Triumphe. Methode, Messung und Empirie waren ihre Instrumente. Die Ästhetik verliess ihren Platz in der Philosophie und wurde, der Zeit gemäss, empirisch begründet: Es schlug die Geburtsstunde der experimentellen Psychologie. Empfindung und Wahrnehmung lauteten die neuen Zauberworte in Architektur und Kunst. Auf dem Feld der Naturwissenschaft und Erkenntnistheorie mündeten sinnesphysiologische und philosophische Studien in die damals grosse Frage nach einem gültigen Raumbegriff. Die Architektur reagierte seismografisch auf dieses Thema.

In jenen Dekaden wurde scheinbar Unmögliches möglich. Die neuen Entdeckungen und Erfindungen waren atemberaubend. Drahtlose Telegrafie, Röntgenstrahlen: Marie Curie entdeckte die Radioaktivität und erhielt als erste Frau den Nobelpreis, Lise Meitner und Otto Hahn entdeckten die Kernspaltung. In der Nationalökonomie entwarf Alois Schumpeter seine geniale psychologistische Wirtschaftstheorie des Prinzips der produktiven Zerstörung.

Den Raum neu denken

Die experimentelle Physik versuchte, die universellen Codes zu entschlüsseln. Josef Franks Bruder Philip war Physiker. Philip Frank bewegte sich im Wiener Kreis, einer Gruppe von Wissenschaftern und Philosophen, die ab 1925 zu wirken begann. Ziel war es, eine wissenschaftliche Weltauffassung zu entwickeln und zu verbreiten. Der Philosoph Moritz Schlick, der Mathematiker Hans Hahn und der Sozialreformer Otto Neurath waren Gründer. Der Verein wurde zu einem europäischen Zentrum transdisziplinärer Forschung. Ludwig Wittgenstein stand dem Wiener Kreis nahe. Einer der geistigen Väter des Wiener Kreises war der Experimentalphysiker und Philosoph Ernst Mach.

Die Denkwelten inspirierten sich gegenseitig. Die Wiener Architektur jener Jahre war eng verwoben mit Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Es herrschte eine methodische Freiheit, die Paul Feyerabends Forderung «Wider den Methodenzwang» oder seine Vision der «Erkenntnis für freie Menschen» erfüllte. Die Wiener Architekturmoderne spross auf einem Boden der Denkfreiheit, des lebendigen Austauschs und der kulturellen Vielfalt. Sie wagte es, den Raum neu zu denken.

Wissenschaft und Erkenntnistheorie hatten begonnen die Grundlagen der (euklidischen) Geometrie infrage zu stellen und damit festgefügte Regeln zu brechen. Physik und Sinnesphysiologie hinterfragten den herrschenden Raumbegriff. Es schien plötzlich möglich, die etablierte Vorstellung von Raum aufzuheben und neu zu formulieren. In der Architektur war von nun an primär vom Raum und von Raumgestaltung die Rede. Die räumlichen Konzeptionen eines Adolf Loos, sein «Lösen des Grundrisses im Raum», sind in diesem Kontext zu sehen. Auch das Haus Beer von Josef Frank im Wiener Gemeindebezirk Hietzing zeugt mit seinem schwebend anmutenden Gefüge von der Meisterschaft des gestalteten Raumes.

Dem Haus von Ludwig Wittgenstein in der Kundmanngasse in Wien liegt eine ähnlich interessante Denkleistung zugrunde. Im Spiel mit den Gesetzen der Mechanik brach Wittgenstein laufend herrschende Regeln und die zwanghafte Linie gestalterischer Konzepte. Diese Haltung zählte zu den wesentlichen Merkmalen der Wiener Architekturmoderne. Ihre Kennzeichen waren Werte humanistischer Bildung sowie ein hohes Kunst- und Kulturverständnis. Bei allen Modernismen stand stets ein individualistischer Geist im Vordergrund. Vor allem aber besass die moderne Architektur eine hohe lebensweltliche Hinwendung. Das architektonische Verständnis reichte stets weit über den formalen Begriff hinaus und dehnte sich aus auf ein gesamtes räumliches Ambiente. Es war eine Architektur der Stimmung mit Mut zum subjektiven emotionalen Ausdruck. Joseph Maria Olbrich, der Architekt des Wiener Secessionsgebäudes, wollte sein «warmes Fühlen in kalte Mauern erstarrt sehen». Der Wiener Architekt und Philosoph Ferdinand Fellner von Feldegg sprach damals von einer «individuellen» Architektur, die im Unterschied zur «nachahmenden, eine auf Erfindung gerichtete, heuristische Tendenz aus dem Inneren» besitze.

Verbindungen ins Heute

In der Reflexion über Architektur interessiert zuallererst das Ergebnis, nämlich das Bauwerk. Danach kommen Logik und Konsequenz des Gedankens, der dem Entwurf zugrunde liegt. Dieser wiederum ist in ein Kollektiv gebettet, in Strömungen und Tendenzen kultureller und geistiger Befindlichkeit. Und interessant sind Verbindungen, die bis heute aktuell erscheinen: Warum faszinieren uns die Bauten von Josef Frank, Oscar Strnad, Adolf Loos und anderen Architekten der Zeit noch immer so stark? Warum betrachten wir diese Zeit in der Architektur als genuin, als Symbol für einen Aufbruch? Die Zeitspanne der Wiener Moderne gilt als ein Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte der Architektur. Die Befindlichkeit jener Zeit, unserer Gegenwart nicht unähnlich, ist daher von Interesse.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Wiener Philosoph und Experimentalphysiker Ernst Mach eine Schrift mit dem Titel «Die Analyse der Empfindungen oder das Verhältnis des Physischen zum Psychischen» veröffentlicht. Das Werk revolutionierte die wissenschaftliche Auffassung von Wahrnehmung und Empfindung. Noch heute besitzen die Aussagen von Mach, dessen Todestag sich heuer zum 101. Male jährt, Aktualität. In Kurzform lautet die Botschaft von Mach, dass sich alle Erfahrungen des Individuums auf reine Sinneseindrücke zurückführen lassen. Es gibt auf der Welt nichts «an sich».

Die Bedeutung dieses Werks und dessen Wirkung beschrieb Hermann Bahr hymnisch mit den Worten «das Buch, das unser Gefühl der Welt, die Lebensstimmung der neuen Generation auf das grösste ausspricht». Zugleich erkannte Bahr auch die Brisanz dieses Gedankens: «Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. Nun droht sie, auch uns zu vernichten.» In diesen Worten ist letztlich die gesamte Ambivalenz der Moderne enthalten.

Machs Schrift avancierte in Kunst und Kultur zu einer Bibel der Erkenntnis. Sie kann als ein Schlüsselwerk der Moderne gelten. Ein wichtiger Aspekt von Machs Philosophie war die Missachtung von Unterscheidungen zwischen Forschungsgebieten. Laut dem Mach-Spezialisten Friedrich Stadler konnte jede Methode, jede Art von Erkenntnis zur Diskussion eines bestimmten Problems beitragen. Der junge Einstein baute auf Machs Ergebnissen auf und lieferte schliesslich die grosse Formel für Raum und Zeit. In ihrer erkenntnistheoretischen Radikalität sind diese Ergebnisse durchaus mit den gegenwärtigen Ergebnissen der Quantenphysik zu vergleichen, zu der Einstein die erste Tür öffnete. In der Welt der Quantenphysik gibt es keine getrennten Einheiten mehr, sondern den stetigen Wandel des Seins. Wahrscheinlichkeit ist an die Stelle von Exaktheit getreten.

Damals wie heute stellt sich die experimentelle Physik die grundlegende Frage: Woraus besteht das Universum, wie funktioniert es, und wie funktioniert unsere Wahrnehmung. Mit der Quantenphysik ist auch unser Wahrnehmungsbegriff komplett ins Wanken geraten. Sie hebt unsere gängige Vorstellung von objektiver Wahrnehmung auf. Von solchen Wissenswelten lassen sich Architektur und Kunst seit je inspirieren, um sie zu transformieren und kritisch zu betrachten. Dadurch wird die Architektur in unserer Gesellschaft zu einem wichtigen Korrektiv.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Zeit der Wiener Moderne und heute fordern stets auch kritische Distanz. Die Sinnhaftigkeit der Forschungswelten ist zu hinterfragen. Wir müssen uns vielleicht damit abfinden, dass wir die universellen Codes nie entschlüsseln werden. Letztlich geht es in unserer Gesellschaft um das Individuum, um verantwortliches und gedeihliches Tun und Handeln. Dies führt zurück zum Menschen. Zu humanen Werten, zu Werten emotionaler Natur und fordert uns auf, zu reflektieren und andere Wege zu beschreiten. Das bedeutet damals und gegenwärtig: Sowohl die Architektur als auch die Kunst lassen sich von wissenschaftlichen Erkenntniswelten inspirieren. Mit ihrem eigenen, kreativen Handeln und über Ideenhybridisationen und inspirierten Wissenstransfer sucht die Architektur nach neuen Lösungen. Seit je nehmen die Architektur und die Kunst sich die Freiheit und den Mut, die Regeln zu brechen – als wichtigste Voraussetzung für Veränderung und um Neues zu schaffen.

Es ist die bedeutende Aufgabe von Architektur und Kunst in unserer Gesellschaft, den Fortschritt zu nutzen, diesen aber zugleich kritisch zu hinterfragen. Unsere Wissenswelten, damals wie heute, sind janusgesichtig. Wir leben in einer brisanten, ambivalenten Zeit. Der Soziologe Zygmunt Bauman hat die Ambivalenz der Moderne und ihre implizite Gefahr durch Wissen und Technologien, Aufbruch und Angst brillant beschrieben.

Lebensbejahende Architektur

Und wie bereits festgestellt: Die Wiener Moderne ist unserer Zeit nicht ganz unähnlich. Wie vor hundert Jahren sind in der Architektur nach einer Zeit eher plakativer, bildhafter Orientierung die Debatten und Haltungen kritischer geworden. Die Auseinandersetzung mit der Umwelt, der räumlichen Psychologie, der Sinneswahrnehmung, der Anmutung und der Atmosphäre ist durchaus als Entgegnung auf eine reduktive Welt und einen ausgehöhlten, sinnentleerten Materialismus zu verstehen: Dieser soll in der Architektur durch eine humane, lebensbejahende, sinnliche und holistische Vision ersetzt werden.

Diese Suche nach einer neuen, nach einer anderen Dimension prägte die Baukunst der Wiener Moderne. «Geistiges Sehen» nannte einst Hermann Bahr die damals neuen Strömungen in Architektur und Kunst. Darauf kann eine kritische und lebensbejahende, am räumlichen Verständnis der Menschen orientierte Architektur jenseits plakativ formaler Bauten auch in Zukunft bauen.

Gabriele Reiterer ist Architekturwissenschafterin und Autorin in Wien.