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db deutsche bauzeitung 06|2017
Anders bauen
db deutsche bauzeitung 06|2017

Das Potenzial der Restriktion

Lagerhallen werden zu Wohnungen: im Freilager ­Albisrieden in Zürich (CH)

Die Backstein-Lagerhallen mit auskragenden Vordächern und Laderampe wurden kreativ umgenutzt und umgestaltet: Der Entwurf lebt von Brüchen und Spannungen. So künden die nierenförmigen Balkone, inspiriert vom ­italienischen Barock, selbstbewusst von der Umnutzung zum Wohnen. Das Projekt kann als beispielhafte Umnutzung und Aufstockung von Gewerbebauten gelten, denn im Grunde waren die 24 m Bautiefe und der Stützenraster des Bestands zum Wohnen gänzlich ungeeignet. Wie es dennoch geht, zeigen die Architekten eindrucksvoll.

2. Juni 2017 - Hubertus Adam
Um den Handel und Transithandel am Standort Zürich zu fördern, wurde 1923 auf Betreiben der örtlichen Handelskammer die Zürcher Freihandels- AG gegründet. Diese erwarb zwei Jahre später ein ausgedehntes Areal westlich der Stadt in Albisrieden, das 1934 nach Zürich eingemeindet wurde. Inzwischen waren auf dem, über ein Industriegleis mit dem Bahnhof Altstetten verbundenen Freilagerareal diverse Hallenbauten entstanden. Hier eingelagerte Güter – Autos, aber auch andere Handelswaren – befanden sich so zolltechnisch im Ausland. Der Zoll wurde also erst beim Verkauf fällig – oder auch nicht, falls die Waren lediglich zwischengelagert waren und das Land wieder verließen.

Veränderungen im Logistikgewerbe führten Ende des 20. Jahrhunderts zum schrittweisen Niedergang des Freilagers, dessen Betreiber ohnehin seit 1970 in den Ausbau eines verkehrsgünstiger gelegenen Areals in Embrach nördlich von Zürich investiert hatten. Und weil die in Immobilienangelegenheiten erfahrene AXA Winterthur als Mehrheitsaktionärin der ursprünglichen Schweizerischen Kreditanstalt nachgefolgt war, setzte sich die Erkenntnis durch, dass im boomenden Zürich mit der Vermietung von Wohn- und ­Geschäftsflächen mehr Rendite zu erzielen wäre als mit der Einlagerung von Handelsware. Das geschäftliche Kalkül traf sich mit der Intention der Stadt, dem Wohnungsmangel durch Schaffung neuer Angebote innerhalb der Stadtgrenzen zu begegnen; denn das »Letzi« genannte Gebiet zwischen den ehemaligen Ortskernen von Albisrieden und Altstetten sowie der Westkante der gründerzeitlichen Stadterweiterung Zürichs war seit Längerem in den Fokus der städtischen Planung gerückt.

Auf Basis von Workshops im Jahr 2004 erarbeitete das Architekturbüro Meili, Peter eine Testplanung, aus der dann ein städtebauliches Leitbild und ein ­Gestaltungsplan hervorgingen. Ausgangspunkt des Konzepts war der Erhalt des Ursprungsbaus des Freilagers; einer U-förmigen Struktur aus zwei 135 m langen und 24 m breiten Lagerhausbauten, das nördliche drei-, das südliche viergeschossig. Dabei handelt es sich um ein Spätwerk des insbesondere für Geschäfts- und Sanatoriumsbauten bekannten Architekturbüros Pfleghard und Haefeli, die Robert Maillart als Tragwerksplaner hinzuzogen. Das Ge­bäude stand nicht unter Denkmalschutz, aber es handelt sich um einen eindrucksvollen Baubestand. Und die Architekten erkannten, dass hier bereits vorhanden war, was sonst erst mühsam und künstlich geschaffen werden müsste: ein Ort, der dem neu entstehenden Quartier Identität zu verleihen vermag. Damit ist der nunmehr um drei Geschosse aufgestockte Ursprungsbau zum Nukleus des Quartiers geworden, für dessen Realisierung zwei Wettbewerbe ausgeschrieben wurden. Den für die langen Scheiben und die Hochhäuser im Westen – die städtebauliche Figur ist von Fernand Pouillons Siedlung »Le Point-du-Jour« in Boulogne-Billancourt inspiriert – gewann Rolf Mühlethaler, den für die dem Freilager benachbarte Hofstruktur Office Haratori (Zürich) mit Office Winhov (Amsterdam). Meili, Peter selbst waren für die Aufstockung des Freilagers sowie ein Studentenwohnheim mit 200 Zimmern verantwortlich. Wichtige Eckpfeiler ihres Masterplans stellen auch das ambitionierte Freiraumkonzept von Günter Vogt und die Konzentration der Geschäftsflächen auf die Erdgeschosse ausgewählter Gebäude dar, insbesondere auf das alte Freilager, dessen Adresse innerhalb des Gesamtkomplexes nun als »Marktgasse« firmiert.

Während die Laderampen an den Außenseiten erhalten geblieben sind, wurde das Niveau zwischen den beiden Gebäuden aufgefüllt, sodass ein erhöhter Hof entstanden ist, der allseitig von den historischen Vordächern aus Beton gerahmt wird. Auch wenn es etwas gedauert hat, bis die geeigneten Mieter gefunden wurden: Hier ist in der Tat ein funktionierendes Geschäftszentrum entstanden. Mit 800 Wohnungen und den 200 Zimmern für Studierende ist irgendwann auch genug Kundenpotenzial vorhanden, und so haben sich u. a. ein Supermarkt, ein Friseur, eine Tanzschule, ein Yogastudio, Läden für Urban Gardening, Kinderkleidung und Tierfutter sowie eine Kita und eine Brasserie eingemietet. Für letztere haben Meili, Peter, auch für die Einrichtung verantwortlich, einen Pavillon geschaffen, der auf der Südseite an das EG des Freilagers anschließt.

Die eigentliche Herausforderung stellte für die Architekten aber die Frage dar, wie sich die bestehenden Geschosse mit ihrer Bautiefe von 24 m und Maillarts 5 x 5-m-Pilzstützenraster, aber auch die ökonomisch unabdingbare Aufstockung für marktfähige Wohnungen nutzen ließen. Dabei entwickelten die ­Architekten, die ihr Können für das Aufbrechen klassischer Grundrisstypologien schon an anderen Projekten unter Beweis gestellt hatten, eine Vielzahl unterschiedlicher Wohnungsgrundrisse. Das Spektrum reicht von der 2,5-Zimmer-Wohnung mit 72 m² (Nettomiete 1 700 CHF) auf einer Ebene bis hin zur 4,5-Zimmer-Wohnung mit 172 m² (3 600 CHF), die sich als Maisonette über drei Ebnenen erstreckt. Zu den Spezialitäten zählen auch Studiowohnungen mit Ladenräumen im EG und Wohnungen in der Ebene darüber (139 m², 2950 CHF) – da sich der Wohnungsmarkt im überteuren Zürich gerade zu wandeln beginnt, gestaltet sich die Vermietung zu stattlichen Preisen allerdings selbst hier schwierig.

Klug geplante Raumstrukturen

Meili, Peter ist es gelungen, bei diesem Tetris-Spiel im großen Maßstab mit ­jeweils vier querliegend in den Bestand eingestanzten Treppenhäusern auszukommen. Die komfortablen Raumhöhen von 3 m erlaubten es, trotz der nicht unerheblichen Bautiefe Durchschusswohnungen anzubieten. Eine andere Strategie musste in der Aufstockung mit ihren reduzierten Raumhöhen von 2,5 m angewendet werden. Die Lösung bestand hier in gestaffelten Patios, die versetzt in die jeweiligen drei OGs eingeschnitten sind. Die Patios orientieren sich auf der unteren Ebene zur Fassade hin und werden im Geschoss darüber partiell von einer Patiobrücke überdeckt, während sie auf der obersten zurückgesetzt sind und sozusagen einen nach vorne offenen Hof bilden. Diese Konfiguration garantiert nicht nur die Belichtung der Wohnungen, sondern verschafft jeder Einheit auch einen Außenraum. In den Bestandsgeschossen hat jede Wohnung einen präfabrizierten vorgehängten Balkon erhalten. Die in unregelmäßigem Rhythmus über die Fassade verteilten Betonbalkone mit ­ihren gekurvten Geometrien und korbig-bauchigen Metallgeländern ­atmen mit ihren Nierentischformen ein wenig den Geist der 50er, erinnern aber auch an italienische Mietshäuser; letztere Referenz war maßgebend für die Bekleidung der Fassaden, der Aufstockungen mit dunkelroten Keramikplatten. Der orangefarbene Backstein des Bestands findet hier seinen farblich modulierten und materiell variierten Widerhall, aus der tragenden Wand wird ein schützendes Kleid. Der Wechsel von liegender und stehender Versetzung der Keramikplatten erscheint beim genaueren Hinsehen als diskretes Ornament. Demgegenüber sind die Wände der Patios in einem graubläulichen Farbton verputzt – die Architekten thematisierten damit die zunehmende Porosität des sich nach oben auflösenden Volumens. Auch im Innern thematisieren sie das Aufeinander von Alt und Neu: Geschliffener Anhydritboden im Bestand, Parkett in der Aufstockung.

Der sperrige Altbau des Freilagers war für das Projekt ein Glücksfall. Die Restriktionen, die der Bestand zur Folge hatte, zwang zu räumlich anregenden Lösungen, die es sonst nicht gegeben hätte. Natürlich stehen Maillarts Pilzstützen mitunter etwas widerborstig im Raum, und auch nicht jede Wohnung kann räumlich gleichermaßen überzeugen. Doch letztlich entstehen Individualität und Charakter. Meili, Peter haben die Potenziale erkannt und aufgrund einer Analyse des Bestands mit der Aufstockung eine ergänzende ­Ableitung geschaffen, welche die Wuchtigkeit des Sockels auflöst, ausdifferenziert und verfeinert. Es ist ermutigend, dass Investoren diese Wege inzwischen mitzugehen bereit sind, wobei die jahrelange Überzeugungsarbeit der Architekten mit entscheidend war. Meili, Peter hätten es sich einfacher machen können, indem sie den Bau von Pfleghard und Haefeli zur Disposition gestellt hätten. Dass sie einen anderen Weg eingeschlagen haben, verdient höchste Anerkennung. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben, dass das Freilager als neues Quartier wirklich funktioniert.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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