Die Welt als Farbquadrat

Die Wirklichkeit nicht länger abbilden, sondern konstruktiv umbilden, war das Credo von De Stijl. Nicht nur die Kunst, sondern auch die Umwelt geriet dabei zur ästhetischen Versuchsanordnung.

Paul Andreas
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Rot, Gelb und Blau, die Markenzeichen von De Stijl, als Farbakzente an Gerrit Rietvelds Schröder-Haus in Utrecht. (Bild: Mauritius)

Rot, Gelb und Blau, die Markenzeichen von De Stijl, als Farbakzente an Gerrit Rietvelds Schröder-Haus in Utrecht. (Bild: Mauritius)

«Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau» lautet der berühmte Titel eines Bildes, das der abstrakte Expressionist Barnett Newman in Primärfarben auf die grossformatige Leinwand brachte und dabei eine ungewöhnliche Wette mit dem Betrachter einging. Tatsächlich wurden zwei Exemplare dieser Gemäldeserie in Museen Opfer von Säure- und Messerattacken – vielleicht der krasseste Beweis dafür, welches psychologische Wirkungs- und Aktivierungspotenzial in der Farbe schlummert, zumindest im Zusammenspiel mit herausfordernden Bildtiteln.

Wie in den avantgardistischen 1960er Jahren noch üblich, waren Newmans reduzierte Farbflächenkompositionen, die auf den Betrachter durchaus destabilisierend wirken, eine Antwort auf etwas Vorangegangenes: Der abstrakte Maler Piet Mondrian und mit ihm die niederländische De-Stijl-Bewegung hatten vor ziemlich genau einem Jahrhundert erstmals vorgemacht, wie sich Kunst und Gestaltung im weitesten Sinne zu einem Vokabular elementarer Formen und reiner Farben systematisieren liessen, um daraus eine vermeintlich bessere, harmonischere Welt zu konstruieren.

Sammelbecken der Avantgarde

Dieses Jahr wird das Hundertjahrjubiläum von De Stijl überall in den Niederlanden – zwischen Winterswijk im Osten und Den Haag im Westen – gross gefeiert. In Ausstellungen sowie Themen- und Denkmalrouten werden die Protagonisten der Künstlergruppe gewürdigt. Dabei vergisst man schnell, dass die Bewegung mit einer kleinen Avantgarde-Zeitschrift begann: Im Oktober 1917 erschien die Erstausgabe von «De Stijl» als «Monatsblatt für die bildenden Fächer» – initiiert vom Universalgestalter, Dichter und Theoretiker Theo van Doesburg in der alten Universitätsstadt Leiden im Schutze niederländischer Neutralität fernab des Kanonendonners des Ersten Weltkriegs.

Von der ersten Ausgabe an war es ein Künstler wie Piet Mondrian, der darin Reflexionen zu seiner eigenen Malerei verfasste. Wie auf Beipackzetteln zur Kunst klärte er darüber auf, wie er sich sukzessive von der Sichtbarkeit der Welt in eine neue Welt der geometrischen Abstraktion und der universalen Ideen bewegte. Aber auch ein Architekt wie der in Rotterdams Siedlungsbau reüssierende J. J. P. Oud skizzierte hier erstmals seine Architekturvisionen, die auf Funktionsgerechtigkeit und dem Zukunftsversprechen von Standardisierung und Typisierung gründeten.

Kaum war der Erste Weltkrieg beendet, sollte ein ultrakurzes Manifest die lockeren Autorenbande festigen: Der nationalen Willkür und Zerstörung des Krieges stellten die Unterzeichner die Werte des Universalen entgegen, die Kollektivität der Künste und die Reinheit der Gestaltung als grenzübergreifende Mission. Das traf den Nerv der Zeit: Die Zeitschrift «De Stijl» wurde zu einem der wichtigsten Foren der Avantgarde der 1920er Jahre. Die Visionen der russischen Suprematisten kreuzten sich hier mit denen der niederländischen Konstruktivisten und trafen auf die Ideen, die sich um das deutsche Bauhaus herum entwickelten. Wenn es ein publizistisches Sammelbecken für eine kosmopolitische, gestaltungsgierige europäische Avantgarde gab, dann war es bis etwa 1927 «De Stijl».

Vom Bild zum Raum

Aus dem Abstand von hundert Jahren mag die De-Stijl-Gruppe wie ein Synonym für die «Mondrianisierung» der Welt erscheinen. Piet Mondrians orthogonale Raster aus Linien und Primärfarbflächen sind nicht nur in vielen Museen weltweit präsent. Mondrian ist auch ein Stück weit Pop geworden: Die Bildmotive des radikalen Malers, der bei aller Versenkung in die Abstraktion auch eine gelebte Leidenschaft für Charleston-Tänze und Walt-Disney-Filme hatte, zirkulieren seit langem fleissig durch unsere Alltagskultur. Schon vor gut fünfzig Jahren brachten sie die Damenkollektionen von Yves Saint Laurent auf Linie; in den 1980ern fand man sie auf Shampooflaschen wieder; heute wirkt es fast etwas ironisch, wenn sie als sportliche Kurvenlinie auf Joggingschuhen verfremdet werden. Paradoxerweise sind sie als Zitat damit dort angekommen, wo Piet Mondrian selbst nie mit seiner Kunst landen wollte: Seine abstrakten Bildstrukturen, die wie Ikonen der klassischen Moderne universale Ideen zum Ausdruck bringen wollten, verstand er immer nur als übergeordnetes Anschauungs- und Übersetzungsmodell für die Wirklichkeit – nie als die Wirklichkeit selbst.

Trotzdem war der Kreis der niederländischen De-Stijl-Künstler kein Klub auf sich selbst bezogener Malerphilosophen: Zu den «Stijlisten» zählten auch Architekten und Grafiker, Tänzer und Dichter, die mit pragmatischem Reformeifer vom Bild in den Raum, von der bildenden Kunst ins Mobiliar und in die Reklame, auf die Theaterbühne und in die Architektur drängten. Selbst den grossmassstäblichen Raum des Städtebaus wollten sie nach ihren experimentell entwickelten Ideen erobern. «Vom Abbilden zum Umbilden», so überschrieb Theo van Doesburg emphatisch diese nach reinen, ästhetischen Gesetzen und in «kollektiver Konstruktion» geordnete Einheit von Kunst und Leben.

Manifest und Nutzung

Am eindrücklichsten spürt man den Grundklang von De Stijl heute wohl noch im kleinen Schröder-Haus von Gerrit Rietveld im Osten von Utrecht: Als letztes Glied einer langen backsteinernen Häuserzeile lugt es aus seiner biederen Umgebung wie ein bunter Hund moderner Architektur hervor – seit der Jahrtausendwende versehen mit dem Siegel des Unesco-Weltkulturerbes. Der Utrechter Möbelgestalter und Architekt Rietveld, der 1919 bereits seinen legendären, aus nichts als rohen Sperrholzplatten und einfachen Kanthölzern konstruierten Armlehnstuhl in seiner De-Stijl-Begeisterung zum «Red-Blue-Chair» umkolorierte, entwarf das Haus 1924 für die junge Anwaltswitwe Truus Schröder-Schräder und ihre Kinder als Gravitätszentrum eines neuen Lebensabschnittes und dezidiert modernen Lebensstils.

Binnen sieben Monaten entstand um eine gewundene Treppe herum ein durch mobile Trennwände, ausstellbare Holzfenster und auskragende Balkons plastisch in den Aussenraum ausstrahlendes Domizil: Das Kontinuum des Raumes sowie die Einheit von Innen und Aussen werden in einem gebauten Manifest zur Anschauung gebracht. Die penible Orthogonalität aller Stützen und Träger, Flächen und Linien, die strenge Reduktion auf die Primär- und Nichtfarben und die damit einhergehende Erzeugung starker farbperspektivischer Wirkungen ergeben einen abstrakten, vom Material und von dessen Anmutungen weitgehend losgelösten artifiziellen Kunstraum.

Faszinierend ist bis heute, wie sehr die programmatische Ästhetik dieser schrillen Urhütte der Moderne dennoch eine durchaus innige Wahlverwandtschaft mit den individuellen Ansprüchen und Gewohnheiten der Bauherrin einging: Truus Schröder und Gerrit Rietveld führten einen intensiven Dialog, bei dem Form und Funktion, artifizielle Gestalt und alltäglicher Gebrauch in einen überraschenden, kongenialen Einklang gebracht wurden. Dass das Haus der Ausgangspunkt für eine vierzig Jahre währende, erfolgreiche Büro- und Lebensgemeinschaft zwischen Schröder und Rietveld wurde, ist da eine hübsche zusätzliche Pointe.

Tyrannei der Übergestaltung?

Auch Theo van Doesburg, der umtriebige Universalkünstler, Initiator und Propagator von De Stijl, der mit seiner Zeitschrift zum rastlosen Vortragsreisenden zwischen dem Bauhaus und Paris wurde, hat neben seinen abstrakten Gemälden eine Reihe von Architektur- und Interieurentwürfen hinterlassen – oft entstanden als Kollektivarbeit mit Dritten wie dem Architekten (und in den Nachkriegsniederlanden besonders als Städtebauer erfolgreichen) Cornelis van Eesteren. Stärker noch als Rietveld, der nach dem Haus Schröder in seiner Architektur spürbar puristischer wird und dem Pfad des Neuen Bauens folgt, experimentiert van Doesburg in seinen Bauentwürfen mit den Wirkungen von elementaren orthogonalen, später auch (sehr zum Ärger von Mondrian und zum Zerwürfnis mit ihm führend!) diagonalen Farbrastern auf Innenräume und kubische Aussenfassaden. Über das weisse Bauhaus, dem Farbwirkungen in der Architektur zunehmend suspekt waren, schreibt er noch Mitte der zwanziger Jahre verächtlich bis polemisch: «Aussen Würfel – innen Biedermeier.»

Fast keiner von van Doesburgs ambitionierten Raumentwürfen kam allerdings zur Ausführung. Wie moderne Malerei und Architektur auf einen charakteristischen De-Stijl-Raum hin interagieren – das zeigte sich nur kurz im 1926–28 mit Hans Arp und seiner Frau Sophie Taeuber realisierten Kulturpalast «Aubette» in einem ehemaligen Kasernenpalais im Zentrum von Strassburg. Das nach einem Umbau-Massaker 1938 zerstörte, erst vor Jahren durch minuziöse Rekonstruktion wieder zur Auferstehung gebrachte Interieur eines mondänen Festsaals mit Café, Bar und Foyer lässt den Besucher in einer grossflächigen, abstrakten Komposition verschiedener gleichmässig orthogonaler oder auch dynamisch diagonaler Farbflächenraster spazieren.

In komplementären Farbtönen erstrecken sie sich über die Decke, alle Wandungen und partiell auch über den Fussboden, ohne diese Koordinaten des Raums jedoch vollends zu negieren. Ästhetisch ist das spektakulär, weshalb die «Aubette» schon von manchem Kritiker mit Michelangelos Sixtinischer Kapelle verglichen wurde – als modernes Pendant freilich. Ob es den Betrachter (und Nutzer) dabei nicht selbst zum Ornament degradiert, ihm nicht mehr Freiheit raubt als letztlich verleiht, muss als Frage dennoch erlaubt bleiben. Der Grat, auf dem der Befreiungsschlag der Gestaltung in Gestaltungstyrannei umschlägt, war gerade auch bei der De-Stijl-Bewegung ein durchaus schmaler – faszinierend war er aber allemal. Denn wer hat schon Angst vor Rot, Gelb und Blau?