Vom Pult zur Ernte

Immer öfter werden Gebäude aussen begrünt. Nun gehen japanische Architekten einen Schritt weiter und überlassen grosse Flächen in und auf Bürohäusern der Landwirtschaft.

Ulf Meyer
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Wer sagt denn, dass Pflanzen Tageslicht brauchen: Im Gebäude der Personalvermittlung Pasona in Tokio wird nach den Ideen des Architekten Yoshimi Kono sogar in Hors-sol-Kulturen Gemüse gezogen. (Bild: Luca Vignelli)

Wer sagt denn, dass Pflanzen Tageslicht brauchen: Im Gebäude der Personalvermittlung Pasona in Tokio wird nach den Ideen des Architekten Yoshimi Kono sogar in Hors-sol-Kulturen Gemüse gezogen. (Bild: Luca Vignelli)

Der Bahnhof der japanischen Hauptstadt, Tokyo Eki genannt, ist ein gigantischer Verkehrsknoten. Jeden Tag fahren hier mehr als 3000 Züge in alle Landesteile ab, jeden Tag steigen hier mehr als eine Million Menschen ein oder aus. Nur einen Block nördlich von Tokyo Eki liegt das Pasona-Gebäude, dessen grün wuchernde Fassade schon aus der Ferne zeigt, dass hier eine derzeit weltweit von Architekten forcierte Idee auf die Spitze getrieben wurde: die Begrünung von Häusern. Denn je stärker urbanisiert die Welt wird, desto grösser ist die Sehnsucht vieler Menschen nach «Grün».

Dieses vielgenutzte Wort bezeichnet in Städten traditionell Baum und Busch, aber das Pasona-Gebäude demonstriert eindrücklich, welch überraschende Pflanzen im Zentrum der 32-Millionen-Einwohner-Metropole gedeihen. Im Foyer der Personalvermittlung grüsst die Besucher ein Reisfeld. Mehrmals im Jahr kann – dank Innenraumklima – Reis geerntet und gedroschen werden.

Das Bürohaus als Farm

In den Obergeschossen des Bürohauses ranken Tomaten über den Konferenztischen, und im Sekretariat wird Broccoli angebaut. An und auf der Doppelfassade wachsen Blumen und Sträucher aus Pflanztrögen. Zitronenbäume und Passionsfrucht-Ranken dienen als Sichtblende für die Kopierräume, und im Seminarzimmer wachsen Salatköpfe. Unter den Sitzbänken spriessen Bohnen.

Die Pasona Urban Farm wurde von dem japanischstämmigen Architekten Yoshimi Kono aus New York entworfen. Sein neungeschossiges Bürohaus macht alle vier Jahreszeiten direkt am Arbeitsplatz erlebbar. Das fünfzig Jahre alte Gebäude hat Kono gründlich umgekrempelt: Von den 20 000 Quadratmetern Geschossfläche wurden 4000 als Anbaufläche für Nutzpflanzen abgezwackt: Obst, Gemüse und Getreide werden im Haus geerntet und in der hauseigenen Cafeteria zubereitet und verspeist. «Farm-to-table office» nennen Experten dieses neue, radikale Konzept. «Agrarspezialisten» unterstützen die Angestellten bei der Pflege der mehr als 200 Pflanzenarten im Haus.

In Japan werden neuerdings Bürohäuser nicht nur zum Arbeiten, sondern auch zur Produktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen genutzt. - Der japanischstämmige Architekte Yoshimi Konos hatte die Idee, in der Lobby des Pasona-Bürohauses ein Reisfeld anzulegen, das mehrere Ernten im Jahr ermöglicht. (Bild: PD)
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Blick auf das von Yoshimi Kono, der in New York lebt, umgebaute Pasona-Bürohaus unweit des Hauptbahnhofs von Tokio. (Bild: Toshimichi Sakaki)
Die Besprechungsräume im Pasona-Gebäude werden durch gestapelte Gemüsebeete unterteilt. (Bild: Luca Vignelli)
Dank Speziallampen erhält das Gemüse auch in den Korridoren genügend Licht zum wachsen. (Bild: Pasona)
Selbst in fensterlosen Kellerräumen gedeiht Salat in Hors-Sol-Regalen. (Bild: Luca Vignelli)
Auch in humusreicher Erde werden in den Erschliessungsräumen Pflanzen gezogen. (Bild: Pasona)
Spaliere mit Passionsfrüchten unterteilen diesen für Sitzungen im kleinen Rahmen dienenden Grossraum im Pasona-Haus. (Bild: Luca Vignelli)
Hors-Sol-Tomaten wachsen über dem Tisch in einem Sitzungszimmer. (Bild: Pasona)
Das Treppenhaus, das hinunter ins Hauptfoyer führt, ist fast wie ein Aussenraum begrünt. (Bild: Luca Vignelli)
Wo sonst wird man in der Reception eines Bürohauses von so viel Grün empfangen wie hier im Pasona-Gebäude. (Bild: Pasona)
Auch in Kyoto, wo die Firma Kajima auf dem 1700 Quadratmeter grossen Dach eines Geschäftskomplexes einen Dachgarten angelegt hat, wird innerstädtische Landwirtschaft betrieben. (Bild: PD)
Mit ihrer Dachgarten-Farm im Rokkaku-Viertel in Kyoto will die Firma Kajima aufzeigen, wie die Abhängigkeit Japans von Lebensmittelimporten verkleinert werden könnte. (Bild: PD) Zum Artikel

In Japan werden neuerdings Bürohäuser nicht nur zum Arbeiten, sondern auch zur Produktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen genutzt. - Der japanischstämmige Architekte Yoshimi Konos hatte die Idee, in der Lobby des Pasona-Bürohauses ein Reisfeld anzulegen, das mehrere Ernten im Jahr ermöglicht. (Bild: PD)

Das Pasona-Gebäude zeigt, wie den Bewohnern der Metropolen die Agrarwirtschaft erlebbar gemacht werden kann: nicht nur als blosse «visuelle Intervention», sondern als ganz konkrete Feldarbeit. Um die volle Raumhöhe des Bestandsgebäudes nutzen zu können, wurden alle Lüftungskanäle an die Fassaden verlegt. Ein Klimakontrollsystem überwacht Feuchtigkeit und Temperatur und auch die Luftbewegungen in dem Gebäude.

«Grünes Bauen» ist heute in aller Munde, aber noch nie wurde der Begriff so wörtlich genommen wie im Zentrum von Tokio. Wirtschaftlich mögen interne Gärten die vermietbare Fläche reduzieren. Aber Kono argumentiert, dass durch den Brise-Soleil-Effekt der Pflanztröge in der Fassade ein natürlicher Sonnenschutz entsteht, der zugleich thermisch und akustisch isoliert, die Luftqualität verbessert und Schatten spendet. Alle Bürofenster lassen sich manuell öffnen. Allerdings müssen viele Pflanzen künstlich belichtet werden, mit Halogen-Metalldampflampen und LED-Leuchten. Nach Büroschluss richtet sich die Belichtung nach den Pflanzen im Haus.

Landwirtschaft auf dem Dach

Das Pasona-Vorzeigeprojekt soll Bewohner und Passanten auf die schrumpfende Landwirtschaft in Japan aufmerksam machen und für nachhaltige Nahrungsmittelproduktion in situ sensibilisieren. Japan produziert weniger als ein Drittel seiner Lebensmittel selbst, nur etwa zwölf Prozent der Landfläche sind agrarisch kultiviert: Jedes Jahr werden mehr als fünfzig Millionen Tonnen Lebensmittel eingeführt. Im Schnitt soll jede in einem japanischen Laden angebotene Karotte eine Wegstrecke von 9000 Meilen hinter sich haben, ein weltweiter Spitzenwert. Das Konzept des Pasona-Gebäudes glänzt hingegen mit «Zero Food Mileage», denn zumindest Transportenergie steckt nicht in den Früchten. Die «vertikale Farm» nutzt sowohl Hydroponik-Technik als auch die traditionelle Anbauweise für Nutzpflanzen in der Erde. Natürlich ist die Effizienz gering, aber die Grossstädter werden so «mit der Scholle» in Kontakt gebracht, und ihre «mentale Gesundheit, Produktivität und Entspannung wird gesteigert», postuliert Kono. Tokioter verbringen durchschnittlich mehr als vier Fünftel ihrer Lebenszeit in Innenräumen, wurde errechnet. Der Krankenstand im Pasona-Gebäude sei um ein Viertel gesunken seit der Begrünung – ein handfester ökonomischer Vorteil für den Arbeitgeber. Die gemeinsame Pflege der Pflanzen soll auch die soziale Interaktion zwischen den Mitarbeitern stärken und – en passant – ihre Identifikation mit dem Unternehmen.

Auch in Kyoto gibt es mit dem Yaoichi Honkan ein ambitioniertes Projekt der neuen innerstädtischen Landwirtschaft: Die Firma Kajima hat auf dem 1700 Quadratmeter grossen Dach eines Geschäftskomplexes einen Dachgarten angelegt, der die neue Rolle von Architektur in der Agrarwirtschaft zeigen soll. Der Bauherr wollte mit seiner Dachgarten-Farm im Rokkaku-Viertel ein Beispiel geben, wie die extreme Abhängigkeit Japans vom ungeliebten Nachbarn China beim Lebensmittelimport reduziert werden könnte. In den beiden unteren Geschossen werden Obst und Gemüse, die auf dem Dach gezogen wurden, verkauft und im Restaurant neben der Rooftop-Farm verarbeitet.

Grün im Modeviertel

Der Shootingstar der japanischen Architekturszene, Sou Fujimoto, hat in einer Seitengasse des Omotesando-Boulevards in Tokio kleine Bäume geradewegs aus dem Rahmenwerk seines Geschäftshauses wachsen lassen. Nur ein paar Schritte weiter liegt das Gebäude von Tod's, dem Toyo Ito ein Tragwerk in der Geometrie eines Keiyaki-Baumes, einer japanischen Zelkove, eingeschrieben hat.

Derselbe Architekt hatte zuvor für seine Mediathek in Sendai baumartige raumhaltige Stützen entwickelt. Für Ito ist «alle Architektur eine Fortsetzung der Natur». Fujimoto hingegen begnügt sich nicht mehr nur mit dem Bild von Natur: Seine «Baumhäuser» sind um und als Bäume entworfen. Die Varianten und Metaphern erscheinen endlos. Vielleicht liegt das Gespür für naturbezogenes Bauen auch in der japanischen Sprache begründet. Die Schriftzeichen für «Haus» und «Garten» bedeuten zusammengenommen «Heim».