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Die Stadt und das Neue
Spectrum

Die Stadt als Labor der Zukunft: über das Aufeinanderprallen von Geplantem und Zufälligem, Vertrautem und Fremdem, Ordnung und Chaos – und was all das mit unserer Innovationskraft verbindet.

1. Juli 2017 - Peter Payer
In der satirischen deutschen Wochenzeitschrift „Simplicissimus“ erschien im Dezember 1926 eine Karikatur, die uns aus heutiger Sicht mehr als verblüfft: Sie zeigt Menschen in Berlin, die auf der Straße dahineilen und ein mobiles Telefon bei sich tragen. Ein Mann spricht im Gehen hinein, kurz und gehetzt, und auch das Gesagte ist verblüffend nah am Heute: Standortbestimmung und Versicherung, dassman bereits unterwegs sei.

Der deutsche Stadtforscher Rolf Lindner, der diese Technikutopie in seinem vor Kurzem erschienenen Buch „Berlin. Absolute Stadt“ (Kulturverlag Kadmos, Berlin) abbildet, nimmt sie als beredtes Zeugnis dafür, wie in den modernen Metropolen bereits früh Innovationen entstehen oder auch nur imaginiert werden und aus welch dynamischem Umfeld sie entspringen. Denn Berlin ist für Lindner die Großstadt der Moderne schlechthin, im steten Wandel begriffen, geprägt von der rasanten Zirkulation von Menschen, Waren und Ideen.

Insbesondere die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeichneten sich durch einen Hang zur „bedingungslosen Modernität“ aus – mit weitreichenden Folgewirkungen für das Verhältnis von Stadt und Mensch. Anschaulich zeigt Lindner, wie die Stadt als „Menschenwerkstatt“ (Heinrich Mann) fungiert, sie das Wahrnehmen, Denken und Handeln ihrer Bewohner bestimmt und verändert. Und wie ihrerseits die Bewohner neue soziale, kulturelle oder technische Erscheinungsformen generieren: von neuen Verkehrsorganisationen (der Potsdamer Platz, mit der ersten Ampelanlage, galt in den 1920er-Jahren als verkehrsreichster Platz Europas), der Entwicklung der Großstadtpresse (mit fast 150 Tageszeitungen war Berlin die damals weltweit größte Zeitungsmetropole) über neue Formen der Reklame und der Unterhaltungsindustrie bis hin zur grassierenden „Telefonwut“, der die oben erwähnte Karikatur entsprang (1925 gab es in Berlin bereits eine halbe Million Fernsprechanschlüsse, so viel wie in keiner anderen Stadt der Welt).

Verallgemeinernd ergibt sich daraus die Frage: Ist die Stadt generell ein guter Nährboden für die Entwicklung neuer Ideen? Zeichnet sie sich gar, unter dem Druck der permanenten Veränderung, durch ein besonders kreatives und innovatives Milieu aus? Zunächst scheint klar: Als Knoten im Netzwerk mächtiger Globalisierungsströme werden Städte in Zukunft eine immer wichtigere Funktion einnehmen, wichtiger, so prognostizieren manche, als Nationen. Ihre große Anpassungsfähigkeit und materielle Dauerhaftigkeit machen Städte in sozialer und ökonomischer Hinsicht zu zentralen Playern bei der globalen Zirkulation von Menschen, Gütern und Dienstleistungen. All dies bei wachsender Konkurrenz untereinander.

So sind Städte in verstärktem Maße gezwungen, sich mit Fragen von Identität und Kultur, Ressourceneinsatz und Ökologie, Wertschöpfung und Innovation auseinanderzusetzen. Wir wissen nur zu genau: Städte machen Probleme – weltweit verbrauchensie 70 Prozent der Energie und verursachen 75 Prozent aller Kohlendioxidemissionen. Dennoch tragen sie auch zur Lösung von Problemen bei. Ihr Innovationspotenzial wird seit Längerem in speziellen Rankings veröffentlicht. Laut „Innovation Cities Global Index“ des Jahres 2015 werden die ersten drei Plätze übrigens von London, San Francisco/San Jose und Wien eingenommen.

Verschiedenartigkeit als Impuls

Welche Zusammenhänge zwischen Stadtund Innovation genau bestehen, dem geht die historische Forschung seit den 1990er-Jahren verstärkt nach. So wies der deutsche Kulturhistoriker Clemens Zimmermann bei seiner Analyse des im 19. Jahrhundert entstandenen Typus der europäischen Metropole darauf hin, dass diese in besonderem Maße als „Experimentierfeld und Maßstab für Neues“ fungierte, wie er an den BeispielenManchester, St. Petersburg, München und Barcelona veranschaulichte. Eine entscheidende Rolle spielte dabei jeweils, so Zimmermann, die Differenz, also die Verschiedenartigkeit der Lebensmilieus, die sich als besonders produktiv für die Generierung von Urbanität und Innovation erweist. Die herausragende Bedeutung der Stadt als Zentrum von Kreativität und Innovation betont auch der britische Stadthistoriker Peter Clark, wobei auch er die europäische Entwicklung ins Zentrum seiner Urbanisierungsgeschichte stellt. Auch die prominente Stellung der Stadt Wien, als Beispiel für eine besonders kreative Metropole mit enormer Ausstrahlungskraft in der Zeit um 1900, wurde von der Geschichtswissenschaft bereits vielfach unter den verschiedensten Gesichtspunkten thematisiert.

Wie und warum entwickeln sich neue Ideen in Gesellschaft, Kultur, Technik und Ökonomie ausgerechnet an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit? Lassen sich aus einem (weltweiten) Städtevergleich vielleicht allgemeingültige Innovationskriterien ableiten?

Eine Antwort versucht die deutsche Technikhistorikerin Martina Heßler, die als entscheidenden Impulsfaktor das Vorhandensein eines effizienten gemeinsamen Kommunikationsraumes hervorhebt. Ob dieszwangsläufig der real existierende Stadtraum sein muss oder ob dies angesichts der rasanten Entwicklung moderner Informationstechnologien auch virtuell-digitale Räume sein können, lässt sie offen.

Ähnlich argumentiert der renommierte Stadtsoziologe Walter Siebel, der zusammenfassend folgende Gründe für die Innovationskraft der Stadt benennt: Es sind vor allem dichte Kommunikationsbeziehungen und ein anregendes Umfeld (Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Unternehmen, Kulturinstitutionen sowie ein für Neues aufnahmebereites Publikum), die jenen Nährboden schaffen, auf dem Innovationen besonders gut gedeihen. Das Aufeinanderprallen von Geplantem und Nichtgeplantem, Vertrautem und Fremdem erweist sich als ideal für die Produktion neuer Ideen und – ganz wesentlich – auch für deren Umsetzung. Dass die Fülle des vorhandenen Wissens kreativ wird, verdankt sich einer labilen Balance zwischen homogenen und heterogenen Faktoren, zwischen lokalen und überregionalen Netzwerken. Anders ausgedrückt:Städte können in besonderer Weise von einem latenten Klima der Infragestellung und „Verunsicherung“ profitieren und dieses als Schlüssel zu Innovation nutzen, eingedenk der Worte Goethes: „Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.“

Dass die urbanen Rahmenbedingungen für Kreativität und Innovation – nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt ihrer Ökonomisierung – derzeit auf den verschiedensten Ebenen intensiv diskutiert werden, zeigt auch ein Begriff, der Konjunktur hat: das Labor.Ursprünglich in den Naturwissenschaften alsOrt des Experimentierens (aber auch des Scheiterns!) eingeführt, wurde der Begriff vondem Chicagoer Soziologen Robert E. Park in das Feld des Städtischen transferiert. In einem 1915 publizierten Aufsatz nennt er die Stadt ein „Labor, in dem die menschliche Natur und die gesellschaftlichen Prozesse am bequemsten und gewinnbringendsten studiert werden können“.

Die Sozial- und Kulturwissenschaften verwiesen in der Folge auf das produktive Milieu der Metropolen um 1900, die man in Anlehnung an Georg Simmels Großstadttheorie als „Labor der Moderne“ begriff. Davon ausgehend scheint die Labormetapher aber auch treffend ein generelles Charakteristikum der Stadt zu beschreiben, ihre vielschichtige Ambivalenz zwischen Ordnung und Unordnung, Disziplin und Chaos, Geplantem und Zufälligem – und in jedem Fall verbindet sich damit ein wichtiger Zukunftsaspekt. Nicht zufällig werden in zahlreichen Städten mittlerweile transdisziplinär besetzte „Urban Labs“ gegründet als Zentren mit hohem Analyse- und Kreativitätspotenzial.

Die Stadt als Labor der Zukunft zu begreifen heißt, sie auch als „work in progress“ zu verstehen, als etwas nie Abgeschlossenes, stets im (immer rascheren) Wandel Befindliches, mit einem – sich als durchaus innovativ erweisenden – Anteil an Unvorhersehbarem und Unplanbarem.

Diesem Ansatz diametral entgegen steht ein anderer populär gewordener Zukunftsbegriff, der genau in die Gegenrichtung weist: Smart City als Synonym für die vielfach vernetzte, intelligent gesteuerte und so weit wie möglich berechen- und kontrollierbare Stadt. Wenngleich es mittlerweile umfangreiche Kritik an dieser für manche allzu technologisch orientierten, zentralistisch ausgerichteten Idee gibt, hat sich der Begriff doch in vielen Fällen als räumliches Leitbild etabliert. Auch in Wien ist er beispielsweise in den aktuellen Stadtentwicklungsszenarien als Zukunftsvision verankert, wenngleich – wie betont wird – mit forciert sozialer Komponente.

Wien oder: Was ist eine Smart City?

Das Beratungsunternehmen Roland Berger hält in einer kürzlich veröffentlichten Studie fest, dass weltweit immer mehr Städte einen systematischen Ansatz in Richtung Smart City verfolgen. Insbesondere seit 2014 hat die Zahl diesbezüglicher Strategiepapiere deutlich zugenommen. Ein auf Basis dieser Publikationen unter 87 Großstädten errechneter Smart-City-Index sieht laut Berger Wien an erster Stelle, gefolgt von Chicago und Singapur. Längst ist mit diesen wie zahlreichen anderen Rankings der globale Wettbewerb um die smarteste Stadt eröffnet.

Doch welchen urbanen Zielbildern man im Einzelnen auch folgen mag, die zentrale Zukunftsfrage bleibt vor dem Hintergrund der in alle Lebensbereiche vordringenden Digitalisierung stets dieselbe: Wie können wir unsere Städte zu ökologischen, konfliktfreien, sozial gerechten Orten entwickeln – und sie dabei offen und beweglich halten?

Das 21. Jahrhundert konstituiert den Menschen endgültig als urbanes Wesen. Als solches steht es in enger Wechselbeziehung zur Umwelt, prägt diese und wird von ihr geprägt. Der immer rascher voranschreitenden „äußeren Urbanisierung“ entspricht auch eine „innere Urbanisierung“. Die allmähliche Herausbildung des „Urbanmenschen“ mit spezifischen Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Denkweisen wäre in diesem Sinne die wohl nachhaltigste städtische Innovation. Was dies im Einzelnen bedeuten mag, hat Rolf Lindner in seiner anthropologischen Analyse der Stadt gezeigt. Vielleicht werden ja – wie einst in Berlin – schnelles Reaktionsvermögen, rasche Auffassungsgabe und hohe Flexibilität bei größtmöglicher Gelassenheit die herausragenden Attribute des Menschen der Zukunft.
Peter Payer
Geboren 1962 in Leobersdorf, NÖ. Dr. phil. Historiker und Stadtforscher. Führt ein Bürofür Stadtgeschichte und arbeitet als Kurator im Technischen Museum Wien. Herausgeber von: „Wien. Die Stadt und die Sinne“ (Löcker Verlag). Sein Band „Quer durch Wien“ erscheint im Herbst bei Czernin.

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