Der Sprung

Dass Erinnern über die Sinne funktioniert, hat Marcel Proust ans Licht gebracht. Wie das Gebäck Madeleine kann ein Gemälde eine Kaskade auslösen – zum Beispiel im Zürcher Letzibad.

Dorothee Vögeli
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Der 1949 eröffnete Sprungturm des Zürcher Freibads Letzigraben. (Bild: PD)

Der 1949 eröffnete Sprungturm des Zürcher Freibads Letzigraben. (Bild: PD)

Eine Frau im Bikini steht senkrecht in der Luft. Über ihr ein Sprungbrett, unter ihr eine Baumkrone. Ihr Zopf ragt waagrecht vom Kopf ab und vermittelt eine Ahnung vom harten Luftwiderstand. Alex Zwalen hat den Sprung vom 5-Meter-Turm im Letzibad gemalt. Sein Bild ist im Rahmen der Gruppenausstellung «Pleinair» in einer ehemaligen Garderobe des legendären Max-Frisch-Bads zu sehen.

Harter Aufschlag

Seit meiner Kindheit bin ich nie mehr dort gewesen. Als ich letzte Woche für den Besuch der Vernissage der Ausstellung von «Pleinair im Bad» und «Pleinair auf Usedom» das Gelände wieder betrete, fällt mir auf, wie gross die Bäume geworden sind. Ich lasse mir das Ausstellungskonzept erklären: Rund zehn Künstler haben während zehn Tagen freien Eintritt in alle Zürcher Freiluftbäder erhalten, um dort zu malen. Während dieser Phase fand auch die Seeüberquerung statt. Sigurd Wendland, der letztes Jahr die Aktion «7 malen am Meer» auf der Ostseeinsel Usedom initiierte und sie nach Zürich brachte, hat die Szene auf Leinwand festgehalten. Man ist sich einig, dass dieses Gemälde zu den Höhepunkten der Werkschau gehört.

Gemälde von Alex Zwalen in der Ausstellung «Pleinair im Bad». (Simon Tanner / NZZ)

Gemälde von Alex Zwalen in der Ausstellung «Pleinair im Bad». (Simon Tanner / NZZ)

Auf der Suche nach Wendlands Chef-d'œuvre betrete ich die Galerie – und starre wie vom Blitz getroffen auf ein kleines, quadratisches Bild. Es zeigt Alex Zwalens springende Frau. Und plötzlich ist dieses Gefühl wieder da, wie ich mit den Armen rudernd und mit aufgerissenen Augen nach unten sause – in ängstlicher Erwartung des Aufschlags. Dieser ist härter als erwartet. Kaum ist das Brennen des leicht angewinkelten Unterarms fühlbar, werde ich von unsichtbaren Magneten weit hinuntergezogen. Der Aufstieg an die Oberfläche dauert eine kleine, mit Todesfurcht gepaarte Ewigkeit. Mit weit offenem Mund schnappe ich schliesslich nach Luft, über mir schwebt das braungebrannte Gesicht des Schwimmlehrers, dessen lange, blütenweisse Hosen mit Bügelfalte ich stets bewunderte.

Ich war damals in der Primarschule. Im Sommer fand der Schwimmunterricht im Sportbad Letzigraben mit seinem Sprungturm statt. Für das 10-Meter-Brett waren wir noch zu klein, aber wir durften immerhin emporsteigen – wie damals Max Frisch, der bei der Eröffnung des Freibads im Jahr 1949 zuoberst posierte. Ich getraute mich kaum, nach unten zu schauen, auch vom 5-Meter-Brett nicht, von dem uns der Schwimmlehrer den Sprung erlaubte. Schliesslich waren wir noch eine kleine Gruppe, die anderen waren sang- und klanglos wieder die Leiter heruntergestiegen. Doch ich wollte wissen, wie sich der Sprung anfühlt.

Beim Betrachten von Zwalens Bild ist der Moment nach Jahrzehnten wieder da. Ich tauche tief ins Wasser ein, um gleichsam mit dem ganzen Bilderbogen meiner Kindheit im Stadtzürcher Quartier Albisrieden wieder an die Oberfläche aufzusteigen. Das mit den Erinnerungen einhergehende Glücksgefühl hat Marcel Proust in seinem Jahrhundertroman «A la recherche du temps perdu» beschrieben. Es erfasste ihn, als er jenes Madeleine genannte ovale Sandgebäck verzehrte und der Geschmack ein Stück verlorener Zeit aus der Kindheit erweckte. Der Geist bemühe sich umsonst, die Vergangenheit heraufzubeschwören, sie verberge sich ausserhalb seines Machtbereichs, schreibt Proust in der berühmten Madeleine-Episode. Die Erinnerung liege in irgendeinem stofflichen Gegenstand oder der Empfindung, die dieser Gegenstand wecke. Ihn zu entdecken, hänge einzig vom Zufall ab.

Auf den Spuren von Max Frisch

Denke ich ans Letzibad meiner Kindheit, höre ich die Stimme meines Vaters, auf dessen Rücken ich lernte, die Furcht vor dem Wasser zu überwinden. Dass die Stadt das Gelände im Mittelalter als Standort für ihren Galgen nutzte, dass Max Frisch 1943 den Wettbewerb für ein Freibad gewann und das zusammen mit dem Gartenarchitekten Gustav Ammann entwickelte Projekt mit einem 10-Meter-Turm ergänzte, gehört zum späteren Bildungskanon. Auch um diesen zu reaktivieren, sei der Besuch der vom Kulturverein Max-Frisch-Bad Letzigraben organisierten Werkschau empfohlen. Gleich nebenan ist die Dauerausstellung zu Frischs Leben und Werk zu sehen. Und natürlich lässt sich der Besuch mit einem erfrischenden Bad verbinden. Auf dem Weg zum Bassin erschliesst sich die Eleganz des in eine schöne Parklandschaft eingebetteten Letzibads.

Bis 13. August, Freibad Letzigraben. Öffnungszeiten 7 bis 20 Uhr.