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Der „Glaspalast“ vor dem Abriss: Ein letzter Rundgang
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Mitten in der Stadt steht er, einen Steinwurf von der Ringstraße entfernt: der „Glaspalast“, das ehemalige Rechenzentrum der Stadt Wien. Acht Obergeschoße, drei Untergeschoße, fünf Aufzüge, 294 Zimmer. Abriss: demnächst. Eine letzte Begehung.

5. August 2017 - Gregor Schuberth
Dach
Hier oben sind den Büros durch die Rückstaffelung teilweise Terrassen vorgelagert; im Fugenraster der Betonsteinplatten sprießen Grasbüschel und kleine Stauden unbekümmert und doch seltsam geometrisch geordnet. Auch die Sträucher in den Waschbetontrögen gedeihen prächtig, ein wenig ungepflegt und struppig würden sie dem damaligen Büroauge erscheinen. Triebe von Efeu und Zwergmispel sind da und dort übergetreten und haben die Betonplatten geflutet. Der Vogelkadaver einer Taube, ausgeweidet von den städtischen Raubvögeln, die in den Ecktürmen der Nachbarschaft nisten . . .

Am Horizont die Zwillingstürme der Piaristenkirche, wenige Fingerbreit daneben flimmert der Doppelwürfel des Allgemeinen Krankenhauses.

Siebentes Obergeschoß
Gleich im ersten Raum liegen aufgebogene Aluminiumstreifen aus der Abhangdecke wie Papierschnitzel auf dem Boden verstreut, als hätte jemand nach einem versteckten Schatz gesucht. Einige der Textillamellen vor den Fenstern sind heruntergerissen und wie verknotete Haarbüschel am Fensterbrett hängen geblieben. Von unterschiedlichen Seiten läuten Kirchenglocken, es ist fünf Uhr nachmittags. Immer wieder sind in die Gipskartonplatten der Zwischenwände armgroße Löcher gebrochen, wie von Titanenhänden vollbracht, bei einer übermütigen Zusammenkunft. Gelbe Mineralwolle quillt dahinter hervor.

An einem Türstock ist ein unscheinbarer Magnetstreifen aufgeklebt, als Kontrollpunkt für den Rundgang des Sicherheitsdienstes: der frische Eingriff verrät Spuren tag- und nachtaktiver Besucher. Was würde bei einer plötzlichen Begegnung mit dem Wachmann passieren?

Sechstes Obergeschoß
Lichtspiele: vieleckige Lichtprismen auf fleckigen Teppichfliesen. Unmerklich wandern sie mit dem Sonnenstand. Ein freundliches Spiel, allenfalls von Bürogeistern geschätzt und beobachtet, falls es hier welche gibt. Doch fehlen dramatische Berichte von Enthauptungen und eingemauerten Widersachern, die solchen Spuk verursachen könnten. Wobei im Büroumfeld wohl eher an Mobbing, übergangene Beförderungen und unerwiderte Kollegenliebe zu denken wäre.

Fünftes Obergeschoß
Manche der Zimmer sind leer, in anderen herrscht ein Durcheinander aus umgestoßenen Papierkübeln, Arbeitstischen und Regalen, auf dem Boden verstreute Zettel, als wäre das Zimmer fluchtartig verlassen worden. Hier muss es ein Alien erwischt haben: Es konnte sich noch ein paar Meter weiterschleppen, ehe es unter Absonderung dunkler Flüssigkeiten zusammengebrochen ist.

Viertes Obergeschoß
Ab hier taucht man unter die Kontur der umliegenden Häuser. Die Atlanten mit nacktem Oberkörper gegenüber am Haus in der Doblhoffgasse sehen irgendwie obszön aus. Überall dieser Geruch nach altem Teppichboden, Reinigungsmittel und Staub. Dann und wann das Knacken einer Isolierglasscheibe. Die Ausstattung der Büros erinnert an ein historisches Raumschiff: erbsenfarbiger Teppichboden, braune Verkleidungen mit Luftschlitzen und Kabelauslässen, wuchtige Bandfenster mit vertikalen Textilstreifen, die Decke aus Aluminiumlamellen mit Einbauleuchten. Das Großraumbüro mit seinen imposanten Ausmaßen von 46 auf 13 Metern könnte das Steuerdeck gewesen sein. Mächtige Betonunterzüge schneiden alle acht Meter durch die Abhangdecken, so tief, dass man sie leicht mit der Hand berühren kann. Das ist nur einer der Gründe, warum das Gebäude abgerissen werden soll: Schon die Raumhöhe dieser Geschoße lässt sich nicht an Anforderungen heutiger Büros anpassen.

Auf dem Boden der eingerollte Bogen eines Organigramms: bedeckt mit Netzlinien, Pfeilen, Ziffern und Buchstaben – einem rätselhaften Prinzip folgend, dessen Logik niemand mehr entschlüsseln wird. Wenn Ordnungsversuchen bisweilen etwas Beruhigendes innewohnt, mischt sich hier etwas Irritierendes um die Kurzlebigkeit solcher Bemühungen.

Große Stücke des Teppichbodens sind ersetzt durch bunte, andersfarbige Flicken; zusammen mit den helleren Abdrücken ehemaliger Geräte entsteht das Bild einer lebhaft gescheckten Patchworkdecke, auf der sich ein paar alte Büromöbel zum Picknick verabredet haben. Da und dort lehnen Stapel aus orangefarbenen und grellgrünen Stoffpinwänden. Büro. Büro.

Der Aktenaufzug
Hightech 1979: In jenem Jahr wurde das Gebäude nach den Plänen Harry Glücks fertiggestellt, nach einer verhältnismäßig kurzen Planungs- und Bauzeit von fünf Jahren. Der Bauplatz hatte unterschiedliche Vorgänger erlebt. Die ehemalige Freifläche vor dem Josefstädter Glacis war im Zuge der Ringstraßenplanung zur Restfläche degradiert worden und wurde mit einer Markthalle bebaut. 1950 erfolgte der Um- und Ausbau zum Forumkino, das infolge nachlassenden Publikumsinteresses 1974 abgerissen wurde.

Drittes Obergeschoß
Vor einem Serverraum blinkt das rote Licht eines Kästchens mit der Aufschrift Zugangskontrolle: Nichts passiert beim Durchschreiten. Tageslichtlose, hohe Räume ohne Stützen, die Teppichfliesen über dem Unterboden sind an den Rändern bräunlich eingefärbt, vom Luftzug, der durch die Fugen streicht; ein alles überspannendes Fugennetz rastert den Fußboden. In Doppelreihen sind die mannshohen braunen Metallschränke aufgebaut, die meisten ausgeweidet. Da und dort quellen knallbunte Kabelbüschel aus einer Bodenöffnung. Die Gestaltlosigkeit der Informationswelt.

Zweites Obergeschoß
Auf dem Teppich seltsame Häufchen mit braunen Bimskügelchen, als wäre hier jemand auf der Stelle zu Staub zerfallen, bei Anbruch des Tageslichts. Halb umgeblätterte Wandkalender an Regalen und Pinnwänden erlauben methodisch saubere Schlüsse über das Auszugsdatum. Die Geschoßhöhe nimmt zu. Aufgerissene Deckenpaneele, umgestürzte Bürotische, zerlegte Regalstücke liegen verstreut neben losen Haufen gestapelter Möbel – als wäre beim Auszug irgendwann jener Geduldsfaden gerissen, der die Ordnung von der Unordnung scheidet.

Appell an die Herren. Das Betätigen der Wasserspülung erfordert keinen Kraftakt. Ein gefühlvolles Handeln verhindert das Hängenbleiben der Spülung.

Erstes Obergeschoß
Die abgewetzten Teppichfliesen sind mit weißgelben Blättern bedeckt, das nackte Gerippe des Zimmerbäumchens schwebt geisterhaft im Raum, die ausgedorrten Äste sind mit Seilen von der Alu-Decke gespannt und können nicht zu Boden sinken; der Herbst ist eingezogen in einem Bürozimmer, das keine Jahreszeiten kennt. Was wohl im Kopf des Wachmanns an dieser Stelle vorgeht; fällt ihm sein Garten ein, und dass er die Triebe zurückschneiden sollte?

„Flubber“, „Men in Black“, „Rambo 3“ – auf den Betonunterzügen eines mittelgroßen Raums hängen Filmplakate. Der Blick aus dem Fenster auf das Haus gegenüber: blöd grinsende Faune über jedem Fenstersturz. Am Ende der Doblhoffgasse kauert der rückwärtige Portikus des Parlaments. Aus dem Unterboden der Räume sind da und dort einzelne Platten gerissen, zufällige Pixel, wie kleine schwarze Löcher im Raum verteilt. Im benachbarten Raum fehlt der Unterboden, ein tieferes Terrain ist entstanden, als hätte sich die Flut zurückgezogen.

Erdgeschoß
Die pompöse Eingangsschleuse in der Lobby endet vor einer provisorischen Gipskartonwand. Hinter einem Sichtfenster liegen Portiersloge und Überwachungszentrale. Die Schreibtische sind halbkreisförmig um den Sichtschlitz angeordnet, darüber eine Reihe von Überwachungsmonitoren, zu beiden Seiten Computer, Tastaturen, Telefone, Steuerpulte mit Köpfen und Hebeln, die sich mühelos in die 1980er datieren lassen. Es summt und piepst. Von hier aus wurde gesteuert und geregelt: Brandrauchentlüftung der Stiegenhäuser, Türzutritt, Alarmierung, Drehkreuzkontrolle, Lichtsteuerung, Aufzüge, Garagentore. Genau in der Mitte des Pultes ragt ein armlanges Mikrofon hervor: Was hätte man dem Gebäude noch gerne gesagt?

Der zentrale Schlüsselkasten: ein zweiflügeliger Hausaltar, bestückt mit Hunderten Schlüsseln, die wie ein Kettenhemd vibrieren, enthält er doch für jeden Schreibtisch und Aktenschrank einen eigenen Schlüssel.

In der ehemaligen Kantine sind obskure Artefakte zur weiteren Verwertung gesammelt: Geräte, die alten Projektoren ähneln und nicht näher zu bestimmen sind, Knäuel von Computerkabeln, dazwischen Aschenbecher und Mistkübel mit Inventarnummern. Seltsam geformte Lederkoffer stehen aneinandergereiht, die achteckige Form erinnert an aufgestellte Hutschachteln: für den Transport eines Datenträgers, den man heute nicht einmal mehr vom Hörensagen kennt.

Erstes Untergeschoß
Auf Technikräume mit Schleusen und verwinkelten Gängen folgen Hallen und Lagerräume, unter den Betondecken rankt sich ein kunstvolles Geflecht aus Leitungen und Kanälen. Vor der Lüftungszentrale summt es wie in einem Schiffsrumpf; einzelne Organe im Bauch des Gebäudes sind noch intakt. Die mächtigen metallenen Schieberegale eines Archivraumes sind mit Postern spielender Katzen und junger Hunde verziert. Die Teeküche nahe der Anlieferungshalle hat das Flair einer Studenten-WG nach der Auszugsparty; Kaffeepulver, Essig, Öl und Marmeladegläser liegen verstreut auf der Arbeitsplatte, Teller, Pfannen und Töpfe sind halb in Kartons gepackt und halb auf dem Boden verteilt.

Zweites Untergeschoß
Der Garagentrakt ist nur notdürftig beleuchtet, ein Saal, der sich hinter den halboffenen Brandschutztoren endlos auszudehnen scheint. Schon in den nahen Nischen nistet die Dunkelheit und verdichtet sich bald zu festem Stoff. Hier unten könnten sich gefährliche Bakterienstämme gebildet haben, wie in alten ägyptischen Grabkammern, um den Fluch des Pharaos zu vollstrecken.

Drittes Untergeschoß
Vor der Ausfahrtsrampe steht die Ampel starr auf Rot; der Lichtschein schliert auf dem glatten Beton der Rampe weit hinunter ins letzte Geschoß. Die Schuhe erzeugen ein langes Quietschen auf dem Betonboden. Hier ließe sich die Theorie überprüfen, nach der alle jemals erzeugten Schallwellen immer noch vorhanden sind, schwach und unendlich verdünnt. Doch welche der Worte, die hier unten gesprochen wurden in all den Jahren, würde man belauschen wollen?

Der Entdecker muss sich hier unten fragen, ob sich Forscherehrgeiz und Scheitern nicht manchmal gleichen. Vielleicht hat man einfach nur zu viel Zeit. Aber natürlich gelten die Regeln für dilettierende Abenteurer: Immer den Heimweg kennen und hoffen, dass keine Tür klemmt. Fremde Wachmänner unbehelligt lassen.

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