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Wohnen auf zehn Quadratmetern

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Mini-Haus aus Holz: Wer auf wenigen Quadratmetern wohnen möchte, muss auf natürliche Baumaterialien nicht verzichten.
In Wien macht eine Holzbaukonstruktion ein Zimmer zur Maisonette.
Kein Wohnwagen, sondern ein richtiges Haus: Seit ein paar Jahren boomt in den USA der Bau von Tiny Houses - winzigen Häusern auf Rädern. In Deutschland ist dieser Wohntrend nun auch zu beobachten. Mit diesem ökologisch korrekte gebauten «Tiny House Rheinau» auf Rädern darf man sogar am Strassenverkehr teilnehmen und bis zu 80 km/h fahren.

Der Fast-zwei-Meter-Mann balanciert auf der schmalen Rampe, die ins Innere des umgebauten Futtersilos führt. «Ich bin sehr schwer, darf ich trotzdem rein?» An die Vergangenheit des Silos erinnert kaum noch etwas. Quietschgelb gestrichen und aufgesockelt auf vier Stelzen, sieht es eher aus wie eine Mischung aus Weltraumsonde und U-Boot-Ausguck. Das Innere ist komplett mit Holz verkleidet und mit schmalen Sitzbänken versehen, ein rundes Deckenlicht und ein breites Panoramafenster erlauben Blicke nach draussen.

Was man hier machen kann? Dem niederländisch-deutschen Architekten Jan Körbes, der mit seinem Büro Refunc das Tea House entwickelt hat, fällt viel ein: Tee trinken natürlich, meditieren, Gespräche führen - «und sich die Frage stellen, was macht dieser Raum mit dir?»Ist das Architekten-Esoterik? Naiv und völlig losgelöst von den handfesten Problemen, die sich gerade in vielen Städten stapeln: Wohnungsnot, entfesselte Mieten, Verkehrskollaps und Flächenfrass, um nur die wichtigsten zu nennen. Oder ist es genau das Gegenteil: endlich der Versuch, Antworten zu finden.

Experimente unter zehn Quadratmetern

Wer über den Bauhaus Campus Berlin läuft, kann sich nicht recht entscheiden. Zwölf «Tiny Houses» können bislang auf der unscheinbaren Rasenfläche direkt vor dem Museum besichtigt werden.

Der Berliner Architekt und Designer Van Bo Le-Mentzel hat mit seiner Tinyhouse University, ein Berliner Kollektiv aus Architekten, Gestaltern und Geflüchteten, das Projekt initiiert. Bis zum Frühjahr sollen noch weitere Minihäuser dazukommen. Winzig ist dabei wörtlich zu nehmen. Keines der Häuser hat mehr als zehn Quadratmeter Grundfläche. Das befreit die Architekten davon, für ihren Entwurf eine Baugenehmigung einholen zu müssen, und das wiederum erlaubt Experimente. Brandschutz, Abstandsflächen, Schallschutz - alles hier kein Thema. Zum Glück. Denn wie sollen Baumeister neue Lösungen finden, wenn sie immer nur mit demselben Werkzeug operieren dürfen? Die Frage, auf wie wenig Quadratmetern ein Mensch wohnen kann, braucht Erfindungsgeist.

«35KubikHeimat» zum Beispiel, eine silbern ummantelte Box, deren Inneres wie ein Zauberkasten eine Funktionen nach der anderen offenbart: Bett und Tisch lassen sich aus dem Boden aufklappen. Dusche, Küchenzeile und Waschbecken verstecken sich hinter doppelten Wänden. Oder die gnadenlos günstig hergestellte «100-Euro-Wohnung», ein schlanker Holzkubus auf Rädern, von dessen Stockbett sich Martin Lundfall schwingt. Der junge Schwede forscht hier über das bedingungslose Grundeinkommen.

«100 Euro Miete im Monat würden uns weit bringen.» Oder, sehr hübsch anzusehen, das Flower House, eine Art Riesenblüte aus weissen Luftkissen. Der Berliner Architekt Matthias Gorenflos hat die pneumatische Konstruktion auf einem elliptischen Stahlunterbau entworfen.

Im drei Quadratmeter grossen Inneren - Raum möchte man es eher nicht nennen - hat bereits der erste Bewohner seine sonnenblumengelbe Luftmatratze ausgerollt, Joachim Klöckner. Der asketische Mann im weissen, kurzbeinigen Overall ist eine Art Minimalismus-Guru, vor Jahren hat er sich eine Entschlackungskur verordnet. Seitdem besitzt er nur 50 Dinge, die alle in seinen gelben Rucksack passen. Klöckner ist begeistert von der Konstruktion, die sich wie ein Einkaufswagen überall hinschieben lässt. «Das ist wie für mich gemacht. Wenn man nachts hier schläft, kann man die Sterne sehen», schwärmt der 68-Jährige, der alle drei Monate umzieht.

Mit ein paar Handgriffen zur Minibibliothek

«Es gibt ein urbanes Nomadentum, das in den Städten nicht berücksichtigt wird», sagt Van Bo Le-Mentzel. Im Laufe eines Jahres soll vor dem Museum «eine Stadt entstehen, die besser ist».

Le-Mentzel ist handfester Utopist oder utopischer Handwerker, wie man das sehen will. Seine Projekte sind aus echtem Holz und fester Kante, etwa sein «1m2-Bauhaus-Archiv», ein mobiles Möbel, das sich mit ein paar Handgriffen wahlweise in eine Minibibliothek, einen Sessel oder eine Schlafgelegenheit umbauen lässt.

Gleichzeitig verbindet Le-Mentzel damit grosse Forderungen: «Wir brauchen andere Formen von Wohnungen für eine neue Gesellschaft.» Eine, die gerechter ist. Die Minderheiten nicht ausgrenzt und die den Wohnraum nicht nach Gehaltszettel vergibt. «Was ist zum Beispiel mit den Leuten, die gar keine Miete zahlen wollen?» Oder können. War der Wohnraum schon vor der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 in vielen deutschen Städten knapp und heiss umkämpft, ist das Dilemma nun nicht mehr zu übersehen: Umfunktionierte Bürotürme, in denen Geflüchtete einquartiert werden, oder Containersiedlungen zeugen von der akuten Raumnot - und von der Ideenlosigkeit, damit umzugehen.

Doch Wohnungen von der Stange und Häuser nach dem immer gleichen Bausatz-Prinzip werden das gewaltige Problem in unseren Städten nicht lösen. Dafür ist bereits zu viel Zeit verstrichen, in der Baugrundstücke versiegelt und Sozialwohnungen privatisiert wurden.

Wie eine Idee aussehen könnte, die aus der Not eine Tugend und aus wenig Raum mehr macht, zeigt ein Projekt in Wien. Dort hat das Büro gaupenraub zusammen mit Studierenden der TU Wien für eine Wohngemeinschaft mit acht Flüchtlingen eine Art räumlichen Sitzriesen entworfen.

Ein gerade mal zehn Quadratmeter grosses Zimmer für zwei Personen wurde durch einen Holzeinbau so zur Maisonette umgestaltet, dass unten ein lichter Raum und oben zumindest etwas Privatsphäre entstanden sind. «Ab 2,8 Meter kann man in die Höhe gehen», sagt der Wiener Architekt Alexander Hagner.

Das Denken und Planen in der dritten Dimension ermöglichten ganz andere Räume bei gleicher Miete, bezahlt wird nach wie vor pro Quadratmeter. Deswegen fordert Hagner die Mindestraumhöhe von 2,4 Metern auf 2,8 Meter gesetzlich festzusetzen. «Wenn man es den Bauherren überlässt, machen sie es sowieso nicht.» Warum auch? Bezahlbarer Wohnraum ist so knapp, dass alles einen Mieter findet.

Weniger Raum, mehr Platz für Gemeinschaft

Hagner sieht mit dem Prototyp «RefRef» die «Minimalstform von räumlichem Rückzug» geschaffen. Trotzdem betont er, dass so ein Zimmer für die Bewohner nur mittelfristig eine Lösung sein kann und auch dann nur, wenn wie hier in Wien, auch ein Innenhof, eine Terrasse und ein grosser Gemeinschaftraum zur Verfügung stehen. Beim einzelnen Raum sparen und dafür der Gemeinschaft mehr Platz geben, genau das könnte die Lösung sein, um die Wohnungsnot zu bekämpfen. Denn turmhoch gestapelte Mikroapartments für Alleinstehende, Arme und Alte, die effizient noch den letzten Quadratzentimeter ausnutzen, sollte sich keiner wünschen. Der soziale Sprengstoff wäre in die Grundmauern miteinbetoniert. Das Münchner Neubauquartier Domagkpark beweist, wie ein solches Weniger und gleichzeitig Mehr aussehen könnte. Auf dem Areal im Norden Schwabings werden einmal 4500 Menschen leben.

In den Häusern der Genossenschaften Wogeno und Wagnis wohnen die Mieter bereits seit einem Jahr. Aber was heisst schon wohnen? Wer in einem der fünf Passivhäuser von WagnisArt lebt, entworfen von bogevischs büro, der hat Musikzimmer, Ateliers, Sauna und eine weitläufige Dachlandschaft zur Verfügung. Der kann Yoga machen, bouldern oder nähen. Alles in separaten und dafür ausgestatteten Räumen und vor allem: an zentraler Stelle.

«Die prominentesten Plätze muss die Gemeinschaft erhalten», sagt Rut-Maria Gollan, Projektleiterin und Mitglied des Vorstands bei Wagnis. Sie wohnt selbst mit ihrer Familie hier. «Ich glaube, dass jemand in einem 200 Quadratmeter-Loft nicht so viele Möglichkeiten hat wie wir hier.» Die Schwiegereltern in externe Gästezimmer auslagern zum Beispiel. Oder die Waschmaschine abschaffen genauso wie das Auto. Es gibt ein ausgefeiltes Mobilitätskonzept mit Car-Sharing, Fahrradwerkstatt und E-Fuhrpark zum Ausleihen.

«Die Frage ist, ob ich alles privat besitzen muss oder ob es nicht reicht, wenn ich die Dinge bei Bedarf nutzen kann», sagt Gollan. Durch das Auslagern können die Wohnungen kleiner werden, ohne dass es ein Verlust ist. Hat in München im Durchschnitt ein Mensch 40 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung - deutschlandweit sind es sogar 47 -, sind es bei der Wogeno 33 Quadratmeter, bei Wagnis noch weniger.

Beengt fühlt man sich hier trotzdem nicht. Das Treppenhaus bei WagnisArt ist so licht und luftig gestaltet, dass Versammlungen der knapp 300 Bewohner dort stattfinden.

Von Japan lernen

In den Wogeno-Häusern, entworfen von Funk WA10 Architekten Zwingel Dilg Färbinger Rossmy, sind die Laubengänge nicht wie üblich 1,2 Meter breit, sondern weiten sich auf bis zu zwei Meter, eine Bank lädt zum Sitzen ein. Es hat nicht lange gedauert, bis die Bewohner dort Pflanzentöpfe aufgestellt haben.

Aufenthaltsqualitäten schaffen, wo andere nur eine Erschliessungsfläche sehen, kein Land könnte das Deutschland so gut beibringen wie Japan. «Kleine Raumwunder» nennt Christian Schittich, der lange Chefredakteur von «Detail» war, deswegen die Wohnkonzepte aus Japan, die er in seinem neuen Buch vorstellt.

Jedes Beispiel führt vor, wie kleinste Räume besser zu organisieren sind, und, dass sie sich weiten, wenn man eine Offenheit nach draussen gewährt. Wie dadurch oft auch eine neue Art von Gemeinschaft entsteht, zeigen die japanischen Beispiele, die in der Ausstellung «Together!» im Vitra Design Museum zu sehen sind.

Geradezu expressionistische Räume

Treppen, unter denen man sich trifft. Hauseingänge, die je nach Bedarf Terrasse, Freiluftküche oder Konferenzraum sein können. Was all diese Entwürfe eint, ist die Aufmerksamkeit, die der Architektur gewidmet wird. Eine Standardlösung gibt es nicht. «Was ein Problem ist, muss nicht zwangsläufig zum Scheitern führen, sondern kann auch der Grund für eine kreative Lösung sein», sagt Hannes Rössler. Der Münchner Architekt hat das japanische Büro Bow-Wow bei ihrem Entwurfsprozess für ein Studentenheim an der Isar begleitet, das gerade fertig geworden ist.

Nicht alles von den Ursprungsgedanken hat es bis zur Realisierung geschafft, aber was man doch sieht, wenn man durch das sechsstöckige Haus in Sendling läuft: Das Grundrissprofil ändert sich mit jedem Geschoss. Mal mehr, mal weniger herausspringende Erker schaffen individuelle Räume und unter dem Dach sind es geradezu expressionistische geworden.

Hingabe an das Projekt

Das braucht architektonisch nicht nur Mut, sondern auch Zeit. «Wenn ich alles lange genug hin- und herschiebe, findet sich eine Lösung», sagt Rössler. Hingabe an das Projekt nennt er das.

Wie selten deutsche Architekten dazu in der Lage sind, zeigen die ewiggleichen rosaroten, weissen oder gelben Neubaukisten unserer Städte. Im Vergleich zu den Winzighäusern in Berlin sehen sie ganz schön kleingeistig aus.