Dieser Architekt probt den Aufstand

Aus einer Lagerhalle für Sport-BH wird eine Antivilla. Arno Brandlhuber erklärt Ruinen zum neuen Fundament für das Bauwesen

Antje Stahl
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War dieses Haus früher mal eine Lagerhalle? Ja, und irgendwie sieht man das noch immer. Soll man auch. Als Warenlager ist das viel zu schön. (Bild: Michael Reisch)

War dieses Haus früher mal eine Lagerhalle? Ja, und irgendwie sieht man das noch immer. Soll man auch. Als Warenlager ist das viel zu schön. (Bild: Michael Reisch)

Wenn zwei Japaner ins staubige Brandenburg eilen und verstohlen Fotos von einem Haus am See machen, dann ist das: ein gutes Zeichen. Die ehemaligen Fabrikhallen, in denen Sport-BH für Frauen in der DDR geschneidert und gelagert wurden, sind zum Wallfahrtsort für Touristen aus der ganzen Welt geworden. Heute wohnt der Architekt Arno Brandlhuber hier. In Badehosen wartet er am See, die kleine Tochter auf dem Arm, und schaut hinaus aufs Wasser. In der Ferne ankern Segelboote. Hinter seinem Rücken steht die sogenannte Antivilla.

Löcher klaffen in den Häuserwänden, auf einer Abrissparty wurden sie mit einem Vorschlaghammer in das Mauerwerk geschlagen, die Fassade ähnelt einem zerfleischten, ach was, zerschossenen Gesicht. Vor ein paar Wochen bezeichnete ein junger Architekt die Antivilla sogar als «Denkmal der Gegenwart». Brandlhuber ist supergut gelaunt. «Schwimm doch eine Runde, es ist herrlich», sagt er. Das R rollt, in seinem Gesicht klebt noch ein bisschen Sonnencrème.

Arno Brandlhuber, 53, ist Professor für Architektur an der ETH Zürich – geworden. Dieses Semester tritt er die Stelle im Departement an. Brandlhuber, der kompromisslose, hippe Architekt, der dem bösen Gerücht nach nicht wirklich baut, ein Berlin-Phänomen, der die Lehren, die er aus der «Republik» gezogen hat (so nennt Brandlhuber Berlin gerne), ab sofort in die Schweiz exportiert. Das könnte so manches durcheinanderbringen. Die Architektur, für die er steht, kündigt das auf jeden Fall an.

«RGB 165/96/36 CMYK 14/40/80/20» heisst die Farbe der politischen Entdifferenzierung auf einem Plakat vor der Volksbühne Berlin 2011. Der Architekt Arno Brandlhuber und sein Büro protestierten damit gegen die Politik der grossen Parteien. (Bild: Brandlhuber+)
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Die Antivilla von Brandlhuber+ Emde in Krampnitz bei Potsdam. (Bild: Michael Reisch)
Auf einer Abrissparty wurden grosse Löcher in die Fassade der ehemaligen Lagerhalle geschlagen. (Bild: Lukas Beer)
Das Wohn- und Atelierhaus in der Brunnenstraße wurde auf dem Fundament einer Bauruine errichtet von Brandlhuber + Emde. (Bild: Erica Overmeer)
Das Neanderthal Museum in Mettmann, Nordrhein-Westfalen, von Günter Zamp Kelp und Julius Krauss, Arno Brandlhuber, gebaut 1994-1996. Zum Artikel

«RGB 165/96/36 CMYK 14/40/80/20» heisst die Farbe der politischen Entdifferenzierung auf einem Plakat vor der Volksbühne Berlin 2011. Der Architekt Arno Brandlhuber und sein Büro protestierten damit gegen die Politik der grossen Parteien. (Bild: Brandlhuber+)

Auf dem Grundstück in Krampnitz arbeiteten früher die Schneiderinnen des VEB Obertrikotagen Ernst Lück. Brandlhuber liess das Mauerwerk des Lagers stehen und erneuerte das Dach. Für den Innenausbau aus Sichtbeton entfernte er alle überflüssigen Wände und setzte Fenster vor die monströsen Löcher. Vor einer offenen Küchenzeile trinken wir Kaffee. Seine Tochter wird, wenn sie grösser ist, in einem Wohnmobilanhänger spielen, der mitten im Riesenloft bereitsteht. «Für Kinder braucht man plötzlich Raumtrenner», sagt Brandlhuber, der bekannt dafür ist, alles an einem Ort zu erledigen: schlafen, feiern, arbeiten, kochen, reden, rauchen, baden, telefonieren, saunen. Dann setzen wir uns aufs Dach, neben eine Dusche en plein air.

Ästhetischer Widerstand

2015 feierte die Fachpresse die Antivilla als «Monument gegen den Dämm-Wahn» und zählte fleissig auf, was Brandlhuber wieder einmal ausgeheckt hatte: nämlich ein Vorhängesystem, das den Raum im Winter verkleinert und so die Wärme speichert, die eine Sauna in der Wand spendet. (So sieht der Widerstand von Architekten gegen Energieeinsparverordnungen aus.) Diese Details erklären Brandlhubers Ruf aber kaum. Gerade erst tauchte die Antivilla als Filmkulisse in den deutschen Kinos auf – als Schauplatz von dysfunktionalen Familientreffen für das verlorene Grossstadtgirl in Helene Hegemanns Romanverfilmung «Axolotl Overkill». Kein Wunder.

In Berlin wiegt der Eskapismus-Vorwurf schwer. Jeder wünscht sich zwar die Seeidylle, kann sich aber eher mit einem Haus vor der Stadt identifizieren, dem das Kaputte ins Gesicht geschrieben ist und das den reichen Nachbarn ein Stück weiter bei Potsdam allein schon wegen seines Namens den – Entschuldigung – Mittelfinger zeigt. Auch Ruinen, das Found Footage der Architektur, sind das richtige Ausgangsgerüst für zeitgenössisches Bauen: Der Neubau, entworfen auf dem Reissbrett, ist in Berlin leider zu besetzt mit schlechter Investorenarchitektur – es vergeht ja kaum ein Monat, in dem nicht eine weitere Alexa-Shoppingmall geplant oder Wohnanlagen für Grossverdiener hochgezogen werden.

Nach dem Studium gewann Brandlhuber gemeinsam mit Günter Zamp Kelp und Julius Krauss, damals noch in Köln, einen Wettbewerb: Das Neanderthal Museum in der Nähe von Düsseldorf kritisiert er heute als «bildhaftes Objekt, ein abgeschlossenes System». Lieber sucht er dreissig Jahre später wie ein Trüffelschwein nach baufälligem Mauerwerk im Osten, in dem nach seiner Schönheits-OP theoretisch noch Näherinnen herumspuken und Geister-BH verpacken. «Man kann seine Austern auch mit Knäckebrot essen», sagte er einmal. Wenn Truman Capote den Champagner-Realismus begründet hat, ruft Brandlhuber mit Markus Emde in Krampnitz bei Potsdam den Austern-Brutalismus aus.

Bauruinen

Ein Galerie- und Atelierhaus in Berlin-Mitte beantwortete zudem die von allen gestellte soziale Frage: Dieses Brandlhuber-Gebäude wurde auf dem Fundament einer Bauruine in der Brunnenstrasse errichtet. «In den 2000er Jahren konnte ich die Investorenleiche günstig erwerben», erzählt er. «Die Förderung von Ateliers im Hinterhaus war weggefallen, wir wollten das ausgleichen und bauten bezahlbare Arbeits- und Ausstellungsräume.» Künstler und ein Magazin zählten zu seinen Mietern. Bis heute auch noch eine Galerie. Die Partys waren lang und laut, jeder konnte durch die Etagen über Treppen hoch in Brandlhubers Privatwohnung wandeln und sich wie sein Mitbewohner benehmen. Arno Brandlhuber trägt in solchen Nächten oft einen schwarzen Architektenanzug, er verhält sich ein bisschen flirtend-väterlich und schaltet sich mit Satzfragmenten ein, die immer richtig klingen. In Ballungszentren wie Berlin oder auch Zürich mit steigenden Mieten wird so ein Architektenhaus schnell zum Prestigeprojekt.

«Ich frage mich», sagte der Schweizer Architekt Christian Kerez einmal zu Brandlhuber, «ob du nicht als Bauherr zu deiner Bedeutung als Architekt gelangt bist.» Im Nordosten der Stadt, im Bezirk Lichtenberg, werkelt Brandlhuber an einem Betonturm herum, der zum ehemaligen DDR-VEB Elektrokohle gehörte und in den, jedenfalls so der Plan, sein Büro ziehen wird.

Viele Architekten bauen ihre eigenen Häuser, und Brandlhuber verantwortete mit diversen Partnern unzählige andere, auch Neubauprojekte. Aber sein Eigenregie-Auftreten und Arbeiten mit dem Bestand wird immer mehr zum Programm. «Die Welt ist kein White Cube», sagt er zu Recht.

David gegen Goliath

Strenggenommen ist er sogar mehr als Bauherr und Architekt: Brandlhuber interessiert sich immobilienentwicklermässig auch für Rohbauten auf Sizilien und will unfertige Häuser, deren Bau gestoppt wurde, so minimal verändern, dass etwa «eine Delle im Boden zur Duschwanne wird».

Seine Kritiker überholen Brandlhuber jetzt gerne von links: Der Badehosenmann aus Germany schlage Profit aus der armen Insel, heisst das dann. Aber das klingt, als würde Goliath David vorwerfen, dass er einen Stein vom Boden aufhebt. Ausserdem will Brandlhuber, dass seine Studenten ihm, dem Strassenköter, nacheifern. Seit 2003 lehrte er Architektur und Stadtforschung an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Nun könnte man sich ausmalen, was er gemeinsam mit seinen Mitarbeitern aus Orten wie den SBB-Arealen in Zürich machen würde, die auch für Wohnungsbau freigegeben werden sollen. Nur der klassische Entwurf am Computer interessiert ihn kaum. «Gemeinsam mit den Studenten an der ETH werden wir einen Fernsehsender bauen.» Werden Architekten dann Journalisten?

Aufgewachsen ist Brandlhuber in einem Einfamilienhaus bei Aschaffenburg. «Schrecklich. Zwei Kinderzimmer, Elternschlafzimmer, Bad, Wohnzimmer, Küche. Aber mein Vater hat immer angebaut: Garage verlängert, verbreitert, Arbeitszimmer angebaut.» Dann war da noch diese Kirche. «Ich war Ministrant, und diese Kirche hat mich immer verfolgt. Dominikus Böhm, in Dettingen am Main. Die erste moderne. Über die Fresken habe ich im Kunst-LK geschrieben.» In seinem Diplom an der Technischen Hochschule Darmstadt ging es bereits um einen Film: Wim Wenders' «Himmel über Berlin». «Der Engel will kein Engel mehr sein, sondern knutschen und Liebe. Um diese Entscheidung geht es auch in der Architektur.» Brandlhuber möchte, dass man sehr viel mehr investiert ins Bauwesen als Geld.

Agitprop erwünscht

In diesem Jahr würde, wenn es nach ihm ginge, der chinesische Investor Han Hao das Berliner Schloss übernehmen. Die Kosten für die Rekonstruktion seien explodiert, kalkulierte er bereits in einem Fernsehbeitrag 2012, und der Chinese sei bekannt dafür, gescheiterte Grossprojekte in Europa fortzuführen. Statt des sogenannten Humboldt-Forums würde also demnächst eine Shoppingmall hinter den barocken Fassaden eröffnen. 2011 plakatierte Brandlhubers Büro die Stadt in der «Farbe der politischen Entdifferenzierung». Sie ist erdmatschbraun und soll ein Mischton sein aus den Parteifarben von SPD, CDU, Grünen, Linke und FDP. So kurz vor der Wahl vermisst man solche Agitprop schon fast.

Bei seinen ersten Gastauftritten an der ETH Zürich stürzte sich Brandlhuber auch auf das politische System: Gemeinsam mit Christopher Roth und Antonia Steger publizierte er 2016 «Legislating Architecture Schweiz» zur gleichnamigen Ausstellung. Darin steht eine Chronologie von Abstimmungen, die im weitesten Sinne Architektur betreffen. Von der Kreditvergabe für den Umbau der Oper aus dem Jahr 1980 über das Minarettverbot 2009 bis zum abgelehnten Ausbau des Bahnhofs Stadelhofen 2014.

Die direkte Demokratie ist ja gewissermassen ein Fetisch für jeden politisch denkenden Menschen aus Deutschland: Entweder sie löst Angst vor von Populisten verführten Massen aus, oder sie fasziniert wegen der Möglichkeiten, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. In Brandlhuber schlummert, so wie er redet, beides: «Viele komplexe Sachverhalte werden verzerrt dargestellt, im Idealfall mischt man sich ein und kann die richtigen Projekte durchsetzen.» Allein wird er damit in Zürich nicht sein.

Vor knapp zwei Jahren probte bereits Christian Kerez mit Studenten den Aufstand und liess sie Initiativen konzipieren für Wohnungsbauprojekte. Sie gestalteten Plakate, drehten Image-Filme. Brandlhuber war Gastdozent, Roth filmte die Demonstrationen der Studenten in den Hallen der ETH. Ähnlich wollen sie gemeinsam auch den Fernsehsender angehen. Sie träumen davon, Aktivisten auf ihren Smartphones zu erreichen oder sie – wie früher die Familie – vor der Glotze zu versammeln. Das klingt auf dem Dach mit Ausblick auf den See, Zigarette rauchend, als sollte man den Sender einmal einschalten.