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dérive 69
Demokratie
dérive 69
zur Zeitschrift: dérive
Herausgeber:in: Christoph Laimer

DEMOKRATIE ≠ Demokratie

»What is to be done, what we all must do together, is to engage in a collective struggle and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.« (Mark Purcell)

6. November 2017 - Christoph Laimer, Elke Rauth
Es ist nicht zu übersehen: Die Demokratie hat ein echtes Problem. Weit verbreitete Korruption, der überbordende Einfluss von globalen Unternehmen, partikulare Machtinteressen und Vetternwirtschaft, post-demokratische Strukturen, eine offensichtliche Unfähigkeit zum Dialog mit dem Souverän und das augenscheinliche Unvermögen der Nationalstaaten, den anstehenden Problemen dieser Welt in adäquater Weise zu begegnen, lassen immer mehr Menschen an der Funktionsfähigkeit der herrschenden politischen Klasse und damit auch der Demokratie an sich zweifeln. Jahrzehnte der Durchsetzung einer neoliberalen Agenda mit konsequentem Abbau von hart erkämpften sozialen Rechten und der vorsätzlichen Diskreditierung von grundlegenden Werten wie Gleichheit und Solidarität haben unsere Welt in ein schlingerndes Schiff mit ungewissem Kurs verwandelt.

It’s the inequality, stupid!

In den Städten sind diese Entwicklungen längst angekommen: Betongold trifft auf Wohnungsnot, Armut und Obdachlosigkeit; Angstpolitik und umfassende Sicherheitsregime im öffentlichen Raum auf Abbau von Freiheitsrechten und Verdrängung; massive Eigentumskonzentrationen auf das Aussortieren von immer mehr Menschen am Arbeitsmarkt. »Cities are the places where austerity bites« hat Jamie Peck vor einigen Jahren in dérive geschrieben – eine Analyse, die immer mehr Menschen betrifft. Die 99 % dieser Welt bekommen die frappierende Ungleichheit der neo-feudalistischen Verhältnisse unter einem von Gier getriebenen, neuen Geldadel in immer bedrohlicherer Weise im Alltag zu spüren. Was bringt uns also dazu, einen Schwerpunkt zum Thema Demokratie und Stadt zu veröffentlichen?

Demos und Kratos

Während die abgehängten Klassen sich scheinbar in großen Zahlen von Angstdiskurs und rechtspopulistischen Milchmädchen-Rechnungen angezogen fühlen, was weltweit einen besorgniserregenden Aufstieg von neuen autokratischen Führerfiguren hervorbringt, wächst auch der Widerstand gegen Demokratie als hohle Phrase und die Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung von Gesellschaft. Zentrum dieses Widerstandes sind die Städte. Doch welches Potenzial birgt das Konzept Demokratie über den bekannten Status Quo hinaus? Ein möglicher Ansatz verbirgt sich in einer etymologischen Spurensuche: Die gängigste und einfachste Übersetzung von Demokratie ist Volksherrschaft. Sie ist grundsätzlich nicht falsch, meist fällt aber unter den Tisch, dass demos keinesfalls im völkischen bzw. ethnischen Sinne zu verstehen ist. Dafür verwendeten die Griechen den Begriff ethnos. Demokratie steht also keineswegs für ethnische Ausgrenzung zur Verfügung, wie es die von der wahren Volksherrschaft träumenden Wir-sind- das-Volk-Fraktionen verlangen.

In seinem Beitrag For Democracy: Planning and Publics without the State setzt sich Mark Purcell näher mit der Begriffsdeutung von Demokratie auseinander. Das Ergebnis seiner demokratietheoretischen und etymologischen Analyse: Demokratie bedeutet im Kern, dass Menschen ihr angeborenes Potenzial, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, so frei als nur möglich nutzen können sollen. Purcell interpretiert kratos (dt. Macht, Stärke) nicht als Macht über oder Herrschaft über, sondern als die Macht oder das Vermögen zu etwas, also als Fähig- keit Dinge zu bewegen, Entscheidungen zu fällen, Probleme zu meistern. So wie in der attischen Demokratie die Bürger der Polis ihre Angelegenheiten in Versammlungen selbst regelten, fordert Purcell dazu auf, uns die Macht wieder zu eigen zu machen, die wir in der repräsentativen Demokratie an den Staat abgegeben haben, und das jedem Menschen innewohnende Potenzial zu nutzen. Dass diese natürlichen Fähigkeiten bei den meisten heute eher verkümmert scheinen und wir als Gesellschaft erst wieder lernen müssen, sie zu entdecken, ist offensichtlich.

Change begins in the city

Die Lust dazu ist in den letzten Jahren auf jeden Fall spürbar im Steigen begriffen. Das beginnt bei Community-Gärten, Fab-Labs oder selbstorganisierten Hausprojekten und reicht bis zu Bestrebungen der politischen Selbstverwaltung, wie wir sie derzeit beispielsweise bei der kurdischen Bevölkerung in Rojava und in zahlreichen Städten weltweit beobachten können. Ähnlich wie David Graeber von »elementarem Kommunismus« spricht, unter dem er vorrangig alltägliche gegenseitige Hilfe versteht, ohne die keine Gesellschaft funktionieren kann, deutet Purcell auf zahlreiche bereits bestehende Initiativen und Aktionen hin, die heute als Möglichkeitsfenster in eine andere Gesellschaft den Weg in Richtung einer umfassenderen Demokratie weisen. Für Purcell ist Demokratie kein Stadium, das irgendwann in seiner höchsten Vollendung erreicht werden kann, sondern ein Horizont auf den man sich asymptotisch zubewegt. Dabei tauchen frühe demokratische Werkzeuge wie etwa die offene Versammlung immer wieder auf, was ihre Wichtigkeit für die demokratische Gesellschaft unterstreicht. Am eindrucksvollsten passiert das derzeit in Städten wie Barcelona, wo die Stadtteilversammlung (Asamblea) eine wichtige Rolle in der Stadtpolitik spielt. Dass diese Form der unmittelbaren demokratischen Auseinandersetzung derzeit für intensives Nachdenken sorgt, beweist auch die im Oktober erscheinende neue Publikation von Hardt/Negri unter dem Titel Assembly.

Die Occupy-Bewegung und die weltweiten Platzbesetzungen der letzten Jahre mögen von vielen als nicht erfolgreich betrachtet worden sein, aber sie haben gemeinsam mit erfolgreichen kommunalen Experimenten wie etwa in Porto Alegre Prozesse in Gang gesetzt und umfassende Lernerfahrungen ermöglicht. In Summe bilden sämtliche Bestrebungen der Selbstorganisation fruchtbare Keime einer sich noch unscharf abzeichnenden, aber durchaus hoffnungsvollen neuen munizipalistischen Bewegung. In Spanien haben sich die Indignados des spanischen Movimiento 15-M von 2011 zahlreich in Initiativen organisiert und sind bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2015 als Bewegungs-Plattformen angetreten. Im Gegensatz zu populistischen Top-down-Bewegungen, die alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen, sind sie tatsächlich bottom-up entstanden. Mit ihren Programmen für echten gesellschaftlichen Wandel, gegen Korruption und soziale Ungleichheit und für eine offene, solidarische Gesellschaft haben sie in einer Vielzahl von spanischen Städten aus dem Stand den Wahlsieg davongetragen. Sie regieren mit Ahora Madrid und seiner neuen Bürgermeisterin Carmen Carmela sowohl das politische als auch mit Barcelona en Comú (BComú) und der PAH-Aktivistin Ada Colau das ökonomische Zentrum Spaniens und arbeiten intensiv an einer Öffnung der politischen Institutionen und der Entwicklung von neuen demokratischen Werkzeugen zur Verbindung der Ebene von Nachbarschaft und Stadtteilversammlung mit der institutionellen Stadtpolitik.

Radical Cities

Wie kann also eine Demokratie aussehen, die nicht in der weit verbreiteten Form der repräsentativen Demokratie erstarrt? Murray Bookchin, der 2006 verstorbene Begründer eines libertären Kommunalismus, dessen Ideen heute von zahlreichen politischen Gruppen wieder aufgegriffen werden, verfolgt in seinem Buch Die Agonie der Stadt (1996) die These, dass eine lebendige Demokratie nur dann möglich ist, wenn Menschen auf lokaler Ebene miteinander über ihre Anliegen von Angesicht zu Angesicht diskutieren und diesen Prozess nicht an BerufspolitikerInnen delegieren.

Er spricht sich für eine Entprofessionalisierung von Politik aus, weist aber stets darauf hin, dass diejenigen die sich in einer Versammlung auf Maßnahmen einigen, nicht zwangsläufig die sein müssen, die sie auch umsetzen.

Auch der Idee der Städtebünde hat Bookchin viel Aufmerksamkeit gewidmet und mit zahlreichen Beispielen von der Antike übers Mittelalter bis in die Gegenwart ihr Potenzial für eine demokratischere Gesellschaft belegt. Heute spielen Städte-netzwerke auf vielen Ebenen (wieder) eine wichtige Rolle und man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass sich ihre Bedeutung in Zukunft weiter erhöhen wird. Städte sind mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen tagtäglich und direkt konfrontiert und können sich nicht in nationalstaatlichen Realitätsverweigerungen und Inszenierungen ergehen, zumindest dann nicht, wenn sie als lebendige und lebenswerte Orte für alle erhalten bleiben wollen. Benjamin Barber hat mit seinem 2013 erschienenen Buch If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities diese Entwicklung auf den Punkt gebracht.

Bookchins libertärer Kommunalismus hat sich zwar als Begriff nicht wirklich durchgesetzt, in der aktuellen munizipalistischen Bewegung stoßen jedoch viele seiner Ideen auf großes Interesse. Der Begriff des Munizipalismus geht dabei historisch auf eine Bewegung während der Römischen Republik des 18. Jahrhunderts zurück, in der einige Kommunen sich in Gänze vom neuen Staat loszusagen versuchten, mit den Werten Selbstbestimmung und Autonomie als Kern der Idee. Juan Subirats, einer der Gründer von Barcelona en Comú, beschreibt in seinem Beitrag in dieser Ausgabe die Entwicklung der munizipalistischen Bewegung im heutigen Spanien und die Werte und Ziele, die in den lokal organisierten Wahlkämpfen im Vordergrund standen: Die Wiederaneignung der Institutionen im Sinne der BürgerInnen, die Bekämpfung von sozialer Not und der Zunahme von Ungleichheit, eine direkte Einbeziehung der Bür- gerInnen in öffentliche Entscheidungsprozesse und das Wieder- erlangen einer ethischen, moralischen, politischen Perspektive nach Jahren der Korruption und privaten Bereicherung an den öffentlichen Institutionen.

Lessons to learn

So spannend und hoffnungsvoll sich das Projekt der munizipalistischen Bewegung darstellt, so stellt sich doch die Frage, ob und wie es langfristig möglich ist, die vorhandenen Strukturen der Stadtpolitik und Kommunalverwaltung so zu nutzen, dass am Ende des Tages nicht doch automatisch wieder nur eine repräsentative Demokratie übrig bleibt. Auch der Hamburger Autor und Stadtaktivist Niels Boeing weist im Interview in dieser Ausgabe darauf hin, dass sich die Strukturen der Verwaltung mitsamt ihrer Beamtenschaft in der Vergangenheit immer wieder als starke, bewahrende Kräfte erwiesen haben, die über viel Wissen und Erfahrung und damit über eine nicht zu unterschätzende Macht verfügen, mit der bei allen Ansätzen eines grundlegenden Wandels gerechnet werden muss.

Barcelona en Comú arbeitet jedenfalls hart daran, die Institution der Asambleas (Stadtteilversammlungen) als den Ort zu institutionalisieren, an dem von der Bevölkerung Themen aufgeworfen und Fragen diskutiert werden, deren Antworten schließlich von Politik und Verwaltung aufgegriffen und umgesetzt werden. Können die komplexen Probleme der urbanen Gesellschaft mit solchen Modellen tatsächlich gelöst werden? Ist es also möglich an Demokratie als Projekt einer aktiven Selbstermächtigung zu arbeiten, anstatt sie nur passiv zu konsumieren?

Die Fragen sind berechtigt, kommen allerdings zu früh, um sie ernsthaft und umfassend beantworten zu können. Der harte Pragmatismus (Kate Shea Baird) des neuen Munizipalismus ist es auf jeden Fall wert, einen genauen Blick darauf zu werfen und die Entwicklung zu verfolgen.

Dass Barcelona en Comú es tatsächlich ernst meint, zeigen Bertie Russell, vom Urban Institute der Universität von Sheffield, und Oscar Reyes, der am Institute for Policy Studies forscht und in Barcelona lebt, in ihrer Analyse 20 Monate nach der Wahl: Ada Colaus Credo Feminizing Politics setzt auf einen komplett anderen Politikstil, der Zweifel und Widersprüche offen thematisiert und gleichzeitig die Rolle der Gemeinschaft und des Gemeinwohls bei der Lösungsfindung stärkt. Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht eine Politik der Commons, der Vergesellschaftung von lebensnotwendigen Infrastrukturen und gemeinsamen Entwicklung von Stadt. Sein Wahlprogramm entwickelte BComú auf Stadtteilversammlungen in lokalen Nachbarschaften und durch technische Online-Werkzeuge gemeinsam mit tausenden Menschen. Die größten Gewinne hat BComú in den ärmsten Nachbarschaften erzielt. Nach dem Wahlsieg installierte die Plattform einen Notfalls-Plan mit Maßnahmen gegen Zwangsräumungen, Strafen für Banken, die ihren Immobilienbesitz leer stehen lassen, und Subventionierung von Transport- und Energiekosten für Arbeitslose und MindesteinkommensbezieherInnen. Statt rassistischer und xenophober Angst- und Sündenbockpolitik werden von BComú die wahren Gründe thematisiert, warum immer mehr Menschen immer weniger zum Überleben haben, und Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage gesetzt. Soziale Stadtteilprojekte werden aus einem Fonds unterstützt, den die Abgeordneten von Barcelona en Comú durch eine selbst auferlegte Gehaltsbeschränkung von 2200 Euro speisen. Bei aller Lokalität verliert die Plattform den globalen Rahmen aber nicht aus den Augen: BComú vernetzt weltweit Städte und hat ein Komitee gegründet, um die gemachten Erfahrungen international zu diskutieren und zu teilen. All diese Ansätze verfolgen nicht einfach eine klassische sozialistische Politik, im Glauben, die besten Lösungen für das Wahlvolk zu haben. Barcelona en Comú glaubt ganz im Sinne des Stadt selber Machens daran, dass Menschen ihre Angelegenheiten gemeinsam und selbstorganisiert am besten regeln können, und verbindet Alltags- und ExpertInnen-Wissen, um Lösungen für die tatsächlichen Probleme der Menschen zu entwickeln.

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Für den Beitrag verantwortlich: dérive

Ansprechpartner:in für diese Seite: Christoph Laimermail[at]derive.at

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