Mailand in den Alpen

Die bildhaften Bauten von Armando Ronca werden von Architekten verehrt und drohen trotzdem zu verfallen. Eine Ausstellung in Südtirol erinnert an das grosse Erbe des Baukünstlers.

Roman Hollenstein
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Das frühste Curtain-Wall-Gebäude Südtirols, das Ronca 1960 beim Bahnhof Bozen realisierte, soll einem Neubau von David Chipperfield weichen. (Bild: Werner Feiersinger)

Das frühste Curtain-Wall-Gebäude Südtirols, das Ronca 1960 beim Bahnhof Bozen realisierte, soll einem Neubau von David Chipperfield weichen. (Bild: Werner Feiersinger)

Die Zeit der minimalistischen Betonarchitektur, der sogenannten Schweizer Kiste, ist vorbei. Die schönsten Bauten, die unlängst in Zürich entstanden, zeugen von einer Auseinandersetzung mit dem reichen Formenschatz der lombardischen Nachkriegsarchitektur – etwa das in dunkelgrüne Kacheln gehüllte Mehrfamilienhaus Irispark von Edelaar Mosayebi Inderbitzin an der Plattenstrasse oder das Hochhaus an der Weststrasse von Loeliger Strub. So scheint es denn, dass Zürich derzeit Mailands Bauerbe weiterentwickelt, während zugleich die lombardische Metropole der anonymen und seelenlosen Architektur Dubais nacheifert, wie kürzlich die Architektin Astrid Staufer in einem Aufsatz über Luigi Caccia Dominioni in der NZZ konstatierte.

Sekundiert wurde die Begeisterung unserer kreativsten Baukünstler für die norditalienische Nachkriegsmoderne von Ausstellungen in Mailand und in der Galerie der Architekturakademie Mendrisio, die das Schaffen von Luigi Moretti, Vittoriano Viganò und anderen, fast schon in Vergessenheit geratenen Architekten neu beleuchteten. Vielleicht noch wichtiger aber war die Arbeit des Bildhauers und Architekturfotografen Werner Feiersinger, der zusammen mit seinem Bruder, dem Architekten Martin Feiersinger, jahrelang die aussergewöhnlichsten Nachkriegsbauten Norditaliens fotografierte und 2011 unter dem einprägsamen Titel «Italomodern» in einem Buch und einer international beachteten Innsbrucker Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich machte.

Seither sind die ungeschönten, nüchtern zwischen Sachlichkeit und Neorealismus oszillierenden Aufnahmen von Werner Feiersinger in Kunstkreisen Kult. Architekten hingegen regen sie zu eigenen Forschungen an. So dokumentierten 2013 Emanuel Christ und Christoph Gantenbein, die beiden Schöpfer der Erweiterungen des Basler Kunstmuseums und des Landesmuseums in Zürich, ihre Auseinandersetzung mit der modernen und anonymen Architektur Italiens in einem «Pictures from Italy» betitelten Buch.

Gebaute Italianità

Nirgendwo in Europa blühte die Architektur Mitte des 20. Jahrhunderts so üppig wie im Italien des Miracolo economico. Carlo Scarpa schuf im Veneto architektonische Kunstwerke, Carlo Mollino erneuerte Turin, das Büro BBPR und Gio Ponti krönten Mailand mit der Torre Velasca und dem Pirellone, dieweil der jüngst zum Architektenliebling avancierte Luigi Caccia Dominioni wie kein anderer die Möglichkeiten von Fassadengestaltung und Volumenkomposition auslotete.

Die Werke des Architekten Armando Roncas spiegeln die Baukunst der italienischen Nachkriegsmoderne wieder und können in einer Retrospektive in Meran neu entdeckt werden. – Zu seinen frühsten Werken gehören die 1937 an der Drusus-Allee in Bozen errichteten Wohnhäuser, denen weisse Gesimse und gekurvte Balkone Dynamik verleihen. (Bild: Werner Feiersinger)
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Eigenwillige Ecklösungen sowie Rahmenkonstruktionen und Volumenverschachtelungen, die noch an Giuseppe Terragnis Rationalismus erinnern, bestimmen das 1954 eröffnete Wohn- und Geschäftshaus mit Hotel an der Perathonerstrasse in Bozen. (Bild: Werner Feiersinger)
Das Eurotel Meran, wie es sich Ronca 1958 in einer perspektivischen Ansicht vorstellte. (Bild: Stadtarchiv Meran)
Diese Aufnahme zeigt nicht nur, dass der 1960 vollendete Bau des Eurotels Meran ziemlich exakt dem gezeichneten Entwurf entspricht, sondern auch wie weit gewöhnliche Architekturaufnahmen von den raffiniert neorealistischen Bildern Werner Feiersingers entfernt sind. (Bild: Roman Hollenstein)
Dieser spätrationalistische Rahmenbau von 1960 in Bozen veranschaulicht bereits Roncas Nähe zu den Fassadengestaltungen des Mailänders Luigi Caccia Dominioni. (Bild: Werner Feiersinger)
Beim Passagenhaus zwischen Freiheitsstrasse und Passer-Promenade in Meran liess sich Ronca in den Jahren 1960 bis 1963 erstmals auf Wright ein. (Bild: Roman Hollenstein)
Von Roncas Interesse an der Arbeit des einflussreichen Mailänder Büros BBPR zeugt der aus Hochhaus, flachem Wohntrakt und Ladenpassage bestehende Baukomplex von 1963 in Meran. (Bild: Roman Hollenstein)
Wie ein riesiges konkret-konstruktivistisches Relief wirkt die Strassenfassade des Hochhauses, das die Sassari-Wohnanlage aus dem Jahre 1961 in Bozen dominiert. (Bild: Roman Hollenstein)
Das 1965 im Meraner Villenvorort Obermais eröffnete Eurotel Astoria vereint Einflüsse von Frank Lloyd Wright und Le Corbusier mit Elementen der lombardischen Nachkriegsarchitektur. (Bild: Werner Feiersinger)
Armando Ronca plante die Interieurs seiner Bauten bis ins Detail, wie diese Aufnahme aus dem Treppenhaus des Eurotels Astoria beweist. (Bild: Werner Feiersinger)
Der Betonbrutalismus von Le Corbusier war eine wichtige Anregung für die 1969, ein Jahr vor Roncas Tod, geweihte Kirche San Pio in Bozen. (Bild: Roman Hollenstein)
Immer wieder anders präsentieren sich Roncas Wohn- und Geschäftsbauten, wie das dem Turiner Neo-Liberty verpflichtete Eccher-Gebäude von 1965 am Corso Italia in Bozen demonstriert. (Bild: Werner Feiersinger)
Roncas Bauten faszinieren immer wieder aufgrund ihrer höchst exzentrischen Assemblagen von unterschiedlichen Volumen und Fassaden – hier die 1963 fertiggestellte Erweiterung des Redaktionsgebäudes der Tageszeitung „Alto Adige“ in Bozen. (Bild: Werner Feiersinger) Zum Artikel

Die Werke des Architekten Armando Roncas spiegeln die Baukunst der italienischen Nachkriegsmoderne wieder und können in einer Retrospektive in Meran neu entdeckt werden. – Zu seinen frühsten Werken gehören die 1937 an der Drusus-Allee in Bozen errichteten Wohnhäuser, denen weisse Gesimse und gekurvte Balkone Dynamik verleihen. (Bild: Werner Feiersinger)

Ihm wesensverwandt waren Rino Tami und Armando Ronca. Während Tami mit lombardischer Formenvielfalt das Tessin belebte, wirkte Ronca als Vermittler der architektonischen Italianità in Südtirol. Dies in einer schwierigen Zeit, da die nördlichste italienische Provinz mitunter mit Gewalt nach Autonomie strebte. Das bekamen auch seine Bauten zu spüren, denn obwohl sie zum Besten zählen, was damals realisiert wurde, wollten sich die Südtiroler lange nicht für sie erwärmen.

Der 1901 in Verona geborene, aber im damals österreichischen Trento aufgewachsene Ronca liess sich 1935 nach Studien- und Wanderjahren in Bozen nieder, wo er im Bauunternehmer Carlo Vanzo einen Freund und Förderer fand. Für diesen baute er an der Drusus-Allee mehrere kubische, einem konservativen Rationalismus verpflichtete Mehrfamilienhäuser, denen er durch strukturelle Fassadenbänder und gekurvte Balkone eine expressionistische Dynamik verlieh. Den Höhepunkt seines Frühwerks markierte der 1940 am Corso della Libertà vollendete Palazzo del Turismo, der als wenig geliebter italienischer Import 1946 in ein Kino umgebaut und schliesslich abgerissen und durch einen banalen Glaskasten ersetzt wurde.

Organisches Bauen

Wirklich innovativ wurde Ronca, der seit Kriegsende zwischen Mailand, wo ihn verschiedene baukünstlerische Strömungen zu immer neuen Ausdrucksformen anregten, und dem Arbeitsort Bozen pendelte, erst in den 1950er und 1960er Jahren. Damals entstand ein Juwel nach dem anderen, etwa die Geschäfts- und Wohnhäuser an der Perathonerstrasse und am Siegesplatz. Während Roncas Markenzeichen, die eigenwilligen Ecklösungen, in diesen beiden Werken erstmals deutlich in Erscheinung treten, erinnern die Rahmenkonstruktionen und Volumenverschachtelungen noch an Giuseppe Terragnis Rationalismus. Doch die ätzende Kritik des grossen, vor Mussolinis Schergen in die USA geflüchteten Bruno Zevi, der als Gegengift gegen den von ihm als faschistisch empfundenen Rationalismus das organische Bauen Frank Lloyd Wrights propagierte, sollte auch Roncas Schaffen allmählich auf neue Wege bringen.

Nachdem Ronca 1960 an der Garibaldistrasse beim Bahnhof Bozen das erste amerikanisch inspirierte Curtain-Wall-Geschäftshaus Südtirols errichtet hatte, liess er sich beim Passagenhaus zwischen Freiheitsstrasse und Passer-Promenade in Meran erstmals auf Wright ein. In Meran entstanden Roncas schönste Bauten, darunter der dem Hochhaus von BBPR an der Piazza Statuto in Turin verwandte Wohnturm mit einer Ladenpassage am Rennweg und die beiden heiteren, frei komponierten und raffiniert durch Skelettstrukturen akzentuierten Eurotel-Bauten an der Passer und in Obermais. Bei diesen ist ein gewisser Einfluss von Le Corbusiers Unités d’habitation auszumachen, und bei der brutalistischen Chiesa San Pio in Bozen mit ihren zeltartigen, in der Vierung sich zu einem Oberlicht aufbäumenden Betonkissen auch eine Bewunderung für die Sakralbauten des grossen Schweizers. Im Bozner Spätwerk gelangen Ronca schliesslich am Corso Italia expressive Neuinterpretationen der New Yorker Bürohausarchitektur von SOM und der von BBPR kultivierten strukturellen Neugotik, des Turiner Neo-Liberty und der Wohnbauten von Caccia Dominioni. Es entstanden aber auch höchst eigenwillige Assemblagen von unterschiedlichen Volumen und Fassaden – etwa am Viale Duca-d’Aosta oder bei der Erweiterung des Redaktionsgebäudes der Tageszeitung «Alto Adige».

Bilder einer Ausstellung

All das vermag zu begeistern. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses geradezu abenteuerlich abwechslungsreiche Œuvre Roncas, das aus dem Stadtbild von Bozen und Meran nicht wegzudenken ist, überhaupt keinen Schutz geniesst. So dämmern die Ferienapartments der beiden Meraner Eurotels heute als Billigwohnungen vor sich hin. Noch weniger Glück hat das Geschäftshaus an der Bozner Garibaldistrasse, das zusammen mit dem ganzen, von Ronca geplanten Geviert einer banalen Überbauung David Chipperfields weichen soll.

Um noch schlimmeren Entwicklungen vorzubeugen und den 1970 verstorbenen, bis heute in Südtirol unterschätzten Baukünstler einem breiteren, auch internationalen Publikum näherzubringen, zeigt das Ausstellungshaus Kunst Meran eine fundierte Ronca-Retrospektive. Den künstlerisch und ästhetisch attraktiven Auftakt zur Ronca-Schau macht ein subtiler Fotoessay von Werner Feiersinger, der sich mit seiner distanzierten Ästhetik allen erhaltenen Ronca-Bauten angenähert hat. Diese Architekturen vereinen in sich all jene vom Wiener Architekturkritiker Otto Kapfinger einst ganz allgemein der «Italomoderne» zugeschriebenen «irritierend vielschichtigen, undogmatischen und alltagsbrisanten Qualitäten, die diese Werke und die Periode ihres Entstehens aus der blossen Nostalgie herausheben und in der geistigen wie in der gestalterischen Virulenz für unser Heute als Inspiration, als Massstab im besten Sinne provokant und lehrreich machen».

Anschliessend wird die Entwicklung des sich stets wandelnden Schaffens von Ronca mittels historischer Pläne und Fotos sowie mit originalem Mobiliar vergegenwärtigt und durch kleine Videoscreens belebt. Noch wichtiger als die Ausstellung selbst dürfte – wie schon bei der Innsbrucker «Italomodern»-Schau – der ebenso schöne wie wissenschaftlich vorbildliche Katalog sein. Er entführt die Leserinnen und Betrachter auf eine Entdeckungsreise. Dabei veranschaulicht er überdeutlich, warum heute die junge Architekturszene weit über Südtirol hinaus von Roncas Häusern ähnlich begeistert ist wie von den Werken Caccia Dominionis oder Gio Pontis und warum sie all die Bauten am liebsten durch das Kameraauge von Werner Feiersinger betrachtet.

Bis 14. Januar 2018 im Museum Kunst Meran. Katalog: «Armando Ronca. Architektur der Moderne in Südtirol 1935–1970» (dt./ital.). Hrsg. Kunst Meran. Park Books, Zürich 2017. 471 S., Fr. 49.– (€ 48.– in der Ausstellung).