Akteur

Rem Koolhaas
OMA - Rotterdam (NL)

Architekten, raus aus den Städten!

Der Architekt Rem Koolhaas gilt als Vordenker von Metropolen und als Meister der Urbanistik. Jetzt bereitet er eine Ausstellung für das New Yorker Guggenheim-Museum über die Landschaft vor. Im Gespräch haben wir ihn gefragt, wie es zu diesem Sinneswandel kam.

1. Dezember 2017 - Antje Stahl
In der Lobby des Bilderberg Garden Hotel in Amsterdam ist es um 6 Uhr 45 in der Früh noch dunkel. Der Nachtportier beendet gerade seinen Dienst, im Restaurant wird das Frühstücksbuffet aufgebaut. Der Zettel mit den Interviewfragen und ein Aufnahmegerät liegen auf einem Tisch in einer Ecke neben der Bar parat. «Ein Cappuccino und zwei Wasser, bitte.» Warten auf Rem Koolhaas. Aufwachen.

Eigentlich hätte das Gespräch mit dem Architekten am Vortag stattfinden sollen. In aller Ruhe war man angereist, aber am Gate des Amsterdamer Flughafens Schiphol kam die erste SMS: Vielleicht werde der Architekt die Reporterin abholen. Halbe Stunde, Stunde Interview im Auto, das geht mit Koolhaas, geboren 1944, auch. Später wurde man dann in ein kleines Büro im Süden der Stadt geschickt. Vier junge Männer sassen vor ihren Laptops um einen Tisch und schauten auf eine an die Wand projizierte Bilderserie: Viele Traktoren waren zu sehen, Felder und hässliche grosse Kastengebäude im Nirgendwo. In der Fahrerkabine einer Ackermaschine ein Fast-Food-Gericht: Pommes in einer Plasticschale. «Food Desert» nannte einer der Jungs das seltsame amerikanische Phänomen, dass inmitten der Felder, die die grossen Städte mit Nahrung versorgen, kein Diner oder Supermarkt steht, man weit und breit nichts zu essen bekommt.

In zwei Jahren eröffnet das New Yorker Guggenheim-Museum die Ausstellung «Countryside: Future of the World», nun ist das offiziell. Eine Pressekonferenz wurde diese Woche einberufen. Rem Koolhaas wird die Räume der Ausstellung über das Land gemeinsam mit Kuratoren einrichten, der Architekt, der mit seinem Rotterdamer Office for Metropolitan Architecture (OMA) und seinem Think-Tank und Designstudio AMO das Denken über die Stadt umgekrempelt hat.

Sein grandioses retroaktives Manifest für Manhattan, «Delirious New York», das er 1978 schrieb und das so schnell vergriffen war, dass es jahrelang als Raubkopie durch die Welt gereicht wurde, galt immer als paradigmatisch für Koolhaas' Begeisterung für die Metropole als «süchtig machende Maschine» – für die aufgetürmte Verdichtung, die Massen an Individualisten, die im Fahrstuhl in die Höhe rasen und auf die architektonische Kontrolle, die gut gemeinten Fassaden und Proportionen pfeifen. Warum kehrt ausgerechnet dieser Architekt den Metropolen den Rücken und widmet sich der «non-urban landscape»? Rem Koolhaas kommt mit Kappe und dunkler Kleidung durch die verglaste Eingangstür. Guten Morgen. «Einen Cappuccino, bitte.» Es geht los.


Rem Koolhaas, Sie sind mit «Delirious New York: Ein retroaktives Manifest für Manhattan» berühmt geworden. Nun bereiten Sie eine Ausstellung über das Land vor. Warum?

Ich war immer von Städten fasziniert, deshalb habe ich mich so viel mit ihnen beschäftigt. Nach zwanzig, dreissig Jahren lohnt es sich aber, in die andere Richtung zu schauen und sich auf das andere – das Land – zu konzentrieren. Hinter den urbanen Kulissen wohnen all die Dinge, die eine Stadt braucht, um zu überleben. Eine durchorganisierte und digitalisierte Agrarwirtschaft, gigantische Warenhäuser von Amazon, Datenzentren. Diese Gebäude sind viel zu gross, als dass man sie in Städte stellen könnte. Wenn man aber die Stadt und ihren Reichtum weiterhin unterhalten möchte, muss das Land, und das ist eine unserer Hauptthesen, zu einem Grad organisiert und strukturiert sein, der bis jetzt nicht seinesgleichen kennt.

Und das haben Sie in der Heimat der NZZ, der Schweiz, entdeckt?

Ich habe sehr viel Zeit in der Nähe von St. Moritz verbracht. Die Eltern meiner Partnerin Petra Blaisse besassen ein Haus in Celerina, dort konnte ich beobachten, wie stark sich das Dorf wandelte. Als ich das erste Mal dort war, roch es so penetrant nach Kühen, dass ich kaum schlafen konnte. Nach fünfundzwanzig Jahren war der Geruch jedoch verschwunden. Auch alles andere hatte sich verändert. Das Dorf war enorm gewachsen, gleichzeitig wohnten immer weniger Menschen dort. Viele Häuser sind das ganze Jahr unbewohnt, weil die Eigentümer nur ein paar Tage im Jahr anreisen, um Ferien zu machen.

«Das Dorf boomt, die Dörfer sterben.»

Das ist ein Zitat aus dem Sammelband «Imaginäre Dörfer», in dem es um Filmemacher wie Michael Haneke oder Schriftsteller wie Jan Brandt und Michel Houellebecq geht, die ebenfalls die überschaubareren Schauplätze aufsuchen, um grosse Geschichten zu erzählen. Rem Koolhaas kennt diese neue Vorliebe seiner Zeitgenossen für das Land natürlich. In einer Vorlesung sprach er über all die «Landlust»-Magazine, die es auf dem Markt gibt. Es sind sehr viele.

Würden Sie dem zustimmen?

Es gibt keinen einzigen Ort auf dieser Erde, auf den sich die Globalisierung nicht auswirkt. In unserer Vorstellung verändert sich das Dorf nicht, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Wir mussten im Rahmen unserer Recherche sogar feststellen, dass sich das Land viel schneller und dramatischer verändert als die Stadt. Wenn Sie sich hier umschauen …

Hotellobby. Glastür, Rezeption, hinter einer bepflanzten Sichtschutzstellwand eine Bar mit Barhockern. Heller Lederbezug, furchtbare Bilder an den Wänden. Wir sitzen in einer Ecke zwischen Ohrensesseln und Kamin. Schummeratmosphäre, obwohl das Licht mittlerweile angeschaltet wurde, und Klassik-Dudel-Musik, wie man sie aus Einkaufszentren kennt.

… hier wurde ein Holzboden verlegt, darüber liegt ein Teppich, überall stehen diese gemütlichen Sessel, alles dreht sich um Komfort. Städter sind abhängig geworden von einer Art Weichheit und Geschmeidigkeit, die im krassen Gegensatz zu dem steht, was die Landschaft heute ausmacht.

Auf dem Weihnachtsmarkt in Zürich direkt gegenüber der Oper steht eine Après-Ski-Hütte, und es werden handgemachte Waren von Bauern verkauft. Und regionale Produkte sind auch sonst en vogue. Oder gibt es ein hippes Restaurant, das auf der Speisekarte nicht mit «lokal», «Bio» oder «organic» wirbt? Wenn das Land in die Stadt zieht, muss man dann nicht davon ausgehen, dass sich die Sphären angleichen?

Der Wandel des Landes unterscheidet sich ganz wesentlich von dem Wandel der Stadt. In der Nähe von Reno, Nevada, steht die Tesla Gigafactory, das ist ein Gebäude von ein bis zwei Kilometern Länge, in dem nicht Tausende von Menschen leben, in dem sich nach der von Tesla geplanten Automatisierung nur noch ein paar Personen aufhalten sollen. Diese Bevölkerungsdichte kann man nicht als urban beschreiben, was dort stattfindet, ist etwas anderes. Es ist eine Zukunft der Architektur, die vornehmlich für Roboter bestimmt ist. Und als Architekten müssen wir über diese Zukunft nachdenken, uns fragen, wie Menschen und Maschinen miteinander leben können.

In der Vergangenheit verliessen Menschen die Stadt, um dem Gestank der Fabriken zu entkommen. Heute ist es umgekehrt? Die Reise aufs Land ist eine Reise zu den Fabriken?

Das Land gilt nur als attraktiv, weil es im Kontrast zu unserer städtischen Umgebung steht. Wir halten es für pittoresk, idyllisch, urig. Viele Gebiete aber werden so rational bewirtschaftet, dass sie diese Eigenschaften längst verloren haben. Bauern sind moderne Unternehmer, die den Ackerbau vom Computer aus steuern. Je länger die Städte wachsen, desto effizienter wird auch die Landwirtschaft betrieben.

Beschäftigen Sie sich auch mit ländlichen Gebieten, die aus diesem Raster fallen? Mit Wäldern, in denen Kokain hergestellt wird, Gebirgen, in denen sich Terroristen versteckten, Arbeitslagern, Gefängnissen?

Ironischerweise müssen sich kriminelle Netzwerke ebenfalls besser organisieren, um sich in der Gegenwart zu behaupten. Wir versuchen noch zu verstehen, was beispielsweise im Mittleren Osten, in Syrien vor allem, vor sich geht. Wir haben ja noch zwei Jahre, bis die Ausstellung eröffnet. Aber wir wissen bereits, dass viele Orte ganz in Vergessenheit geraten. In Sibirien etwa verändern sich die klimatischen Bedingungen so dramatisch, dass es keinen Dauerfrostboden mehr geben könnte. Bahngleise und Häuser, die darauf gebaut wurden, könnten in sich zusammenfallen. Es ist, als ob die Beschleunigung den einen Teil der Welt erfasst hat, während der andere sich zurück ins 19. Jahrhundert entwickelt.

Sie meinen, die Lebensbedingungen haben sich verschlechtert?

Einen Moment, mehr Cappuccinos werden bestellt.

Ich würde eher sagen: verkompliziert. Innerhalb der Sowjetunion flog die russische Fluggesellschaft Aeroflot über 350 Ziele an. Nachdem die Marktwirtschaft eingezogen war, waren es nur noch etwa 60 Städte. Das Fluglinien-Netzwerk musste schrumpfen, damit Aeroflot wirtschaftlich überleben konnte. Die Landbevölkerung muss damit jetzt umgehen. In Afrika werden Bahnstrecken für China gebaut, und die afrikanischen Arbeiter sprechen alle Mandarin. Das sind neue Verhältnisse, und wir sollten versuchen, sie zu begreifen. Ich verstehe mich in dieser Hinsicht nicht als Architekt, sondern eher als Anthropologe oder Soziologe.

Rem Koolhaas begann seine Karriere, daran muss man an dieser Stelle noch einmal erinnern, Mitte der sechziger Jahre als Journalist und schrieb Drehbücher für Science-Fiction-Filme. Sein Studium in London beendete er 1972 mit einem Aufsatz über die Berliner Mauer. Auch als Architekt schrieb er zahlreiche Essays und Bücher, in denen er die Soziotope der Gegenwart auseinandernimmt wie Derrida die Sprache. Besonders ansprechend sind diese Bücher für die Generation, die, wie das «Time Magazine» einmal schrieb, mit MTV und dem Poststrukturalismus aufgewachsen ist.

Genau deshalb haben Sie sehr viele Fans und, so wie es aussieht, auch neue Gegner. An der diesjährigen Architekturbiennale in Chicago bekommt man den Eindruck, es formiere sich eine Widerstandsgruppe, die gegen Ihre weitgefasste Praxis kämpft, nur ohne auf die Barrikaden zu gehen: Diese Architekten lehnen Manifeste und erst recht den Geniebegriff ab, sie orientieren sich an der Vergangenheit, bauen auf Tradition und Handwerk und legen Wert auf Details.

Ich habe immer versucht, die Auswirkungen der Marktwirtschaft zu beschreiben, aber ich habe sie nie befürwortet oder verteidigt. Vieles von dem, was ich gesehen habe, hat mich erschüttert, aber ich habe trotzdem weiter hingeschaut. Die Architektur, von der Sie sprechen, finde ich sympathisch. Architektur ist ein Instrument der Marktwirtschaft, als Architekt kann man nicht immer kontrollieren, wie es eingesetzt wird. Früher arbeiteten wir für Regierungen, Städte oder Kommunen und damit automatisch für die gemeinsame Sache. Heute bauen wir für Einzelpersonen und Unternehmen. Wir müssen uns entscheiden, wen wir unterstützen, das ist ziemlich hart, die Welt ist zynischer geworden. Ich war beteiligt, manchmal. Aber ich versuche andere Territorien zu finden.

Anhand seiner Architektur lässt sich diese Entwicklung auch ablesen: Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre baute Koolhaas zwei wunderschöne Privathäuser in Frankreich, dann folgten öffentliche Gebäude, Museen, Bibliotheken, Masterpläne für Städte. Ab den nuller Jahren realisierte er immer mehr Gebäude im asiatischen und im arabischen Raum – weltweit wurde über die Sendezentrale des staatlichen Fernsehens China Central Television (CCTV) in Peking diskutiert, die Koolhaas 2012 für die Volksrepublik fertigstellte: Doppeltürme, die durch einen Querriegel verbunden sind und wie ein grosses hohles Rechteck, Gesamthöhe 237 Meter, aus der Stadt herausragen. Gleichzeitig arbeitete Koolhaas immer mehr für die Privatwirtschaft, für Prada etwa baute er zahlreiche Shops und ein Museum in Mailand.

Aber wie erklären Sie sich die Architekten-Gegenbewegung?

Ich verstehe, dass Architekten sich in dieser Rolle unwohl fühlen. Ich persönlich glaube aber nicht, dass sie eine neue Rolle finden, sondern nur eine andere Art des Blicks. Er ist nicht steril und modern, er sucht nicht nach neuen Materialien, er orientiert sich am Handwerk, an ländlichem Material und ist auf seine Art moralisch. Ich bin mir nicht sicher, ob das die richtige Antwort auf die Gegenwart ist, aber ich unterstütze die Absicht, sich abzugrenzen. Gleichzeitig ist die Marktwirtschaft so stark, dass es unmöglich ist, sich von ihr abzuwenden, man muss sich in ihr bewegen. Als wir anfingen, uns im Rahmen des «Countryside»-Projekts die globale Situation anzuschauen, mussten wir feststellen, dass die Wirtschaft alles beeinflusst beziehungsweise infiltriert.

Spiegelt die Schweiz die globale Situation in besonderem Masse wider? Das Land ist berühmt dafür, die Natur zu kultivieren – sei es durch Bauern oder Touristenverbände, die Berge für Skifahrer und Wanderer aufbereiten. Gleichzeitig gibt es keine klaren Stadtgrenzen, fast jeder schimpft über die Agglomeration.

Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass mein Interesse für das Land in der Schweiz geweckt wurde. Jeder Quadratzentimeter zeigt den radikalen Wandel auf dem Land. In den Bergen war ich immer fasziniert von den Maschinen, die Schnee auf die Hänge blasen. Und von den Kühen. Nicht nur der penetrante Geruch ist ja verschwunden – es gibt diese wunderschöne braune Schweizer Kuh, die ich eines Tages schmerzlich vermisste. Auf der Wiese standen plötzlich Kühe aus Amerika mit hässlichen Gesichtern, aber ertragreichem Fleisch.

Ende September wurde in der Schweiz eine Initiative zur Ernährungssicherheit angenommen, mit der die landwirtschaftliche Produktion sichergestellt werden soll. Der Import von Lebensmitteln wird aufgrund der Verfassungsänderung natürlich nicht eingestellt, aber …

Der Wandel hat politische Folgen, das ist kaum überraschend. Wir versuchen auch das zu verstehen. In Amerika wurde die Wahl von Donald Trump auf dem Land entschieden. In Gebieten, in denen die Mechanisierung der Landwirtschaft so fortschrittlich ist wie nirgendwo anders und stark vom Staat subventioniert wird. Wie kann das sein? Warum wählen diese Menschen einen Präsidenten, der gegen den Staat ist?

Über das Stadt-Land-Gefälle wurde nach dem Sieg Trumps und den Erfolgen von AfD und Marine Le Pen immer wieder diskutiert. Alles, was ausserhalb von New York, Paris oder Berlin lebte, wurde zum grossen unberechenbaren Unbekannten erklärt.

Das Problem ist, dass die Stadt denkt, alles, was sie entwickelt habe, von der Staatstheorie auf der griechischen Agora über die Universitäten und Kulturinstitutionen bis hin zur städtischen Architektur, dominiere. Aber wie in der Dialektik führt das dazu, dass der andere Teil sich dagegen wehrt.

Wäre es nicht Aufgabe der Politik oder des Journalismus, die Belange der Nicht-Grossstädter zu ergründen?

Ich war ja Journalist und fühle mich auch nach wie vor wie einer. Als Architekt geniesse ich das Privileg, sehr viel zu reisen, wir sind viel in China, Russland, im Nahen Osten, in den Emiraten, und ich mag es nicht, mich irgendwo fremd zu fühlen, ich versuche, so viel wie möglich zu entdecken. Als Architekt nimmt man die Arbeiter wahr, die vom Land kommen – auch wenn es nicht immer einfach ist, in Kontakt zu treten, wird man mit den Lebensrealitäten konfrontiert.

Ich war gerade zur Eröffnung des Louvre Abu Dhabi in den Emiraten – die Kritik an den Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter war oft lauter als die Bewunderung für das Gebäude.

Das ist natürlich ein grosses Dilemma. Kann uns etwas gefallen, was unter schwierigen Bedingungen entstanden ist? Ich habe keine Antwort darauf. Leuten aus dem Westen fällt es immer sehr leicht, den moralischen Zeigefinger auf die Golfstaaten zu richten, ohne sich an die eigene Nase zu fassen – ohne an die Fabriken zu denken, die Billigwaren für ihre Discounter herstellen, oder an die Plantagen, von denen sie ihren Kaffee beziehen … Meinen Erfahrungen nach haben unsere Bauherren aus Katar und den Emiraten auf das Wohlergehen der Arbeiter geachtet.

Interessieren Sie sich auch für das Land, weil Sie eine neue Spielwiese suchen? Die Freiheit vermissen, sich auszutoben? In der Stadt gibt es ja weder Platz noch Risikobereitschaft, eigentlich nur Sicherheitsvorschriften und Wärmedämmungsauflagen.

Das ist ein Punkt, ja. Neues entdecken heisst die Parameter verlassen, die einen ohnehin langweilen. Die meisten Menschen wehren sich gegen das Neue aus moralischen Gründen, sie sind zu entrüstet, um zu sehen, was wirklich um sie herum passiert. Ich habe mich schon immer gefragt, wie die Moral unsere Sicht auf die Dinge beeinflusst. Als ich in den siebziger Jahren über New York schrieb, empörten sich die Leute, wie ich mich mit so einer dekadenten Stadt auseinandersetzen könne.

Und welche moralischen Vorstellungen halten uns davon ab, aufs Land zu schauen?

Bedenken gegenüber dem Wandel, Angst vor Maschinen, Technik.

Architekten und Menschen sind wie ein verheiratetes Ehepaar: Sie sind aufeinander angewiesen. Warum sollten Sie jetzt Häuser für Roboter bauen?

Gewächshäuser wurden in der Vergangenheit niemals in die Höhe gebaut, mittlerweile wurden Bewässerungsanlagen und Pflanzen aber so optimiert, dass Tomaten 40 Meter in die Höhe wachsen. Was macht diese Architektur mit der Landschaft? Ich interessiere mich für diese architektonischen Formen der Zukunft, ich werde ja kein Anti-Urbanist.

Werden Sie nicht?

Nein.

In den achtziger Jahren schrieben Sie, dass Zürich eine der wenigen Städte sei, die unterirdisch bauten. Sie wachse nicht in die Höhe, sondern in den Keller. Mittlerweile hat sich das Panorama verändert: Es entstehen mehr und mehr Hochhäuser. Was sagen Sie dazu?

Ich habe schon 2004 das Hochhaus ermordet, diese sterile Typologie.

Das stimmt. Im Buch «Content» gibt es einen Aufsatz mit dem Titel «Kill the Skyscraper». Auf dem Cover hält George Bush ein Kreuz in der Hand und trägt eine Pommestüte auf dem Kopf; vor ihm posiert der damalige Aussenminister Deutschlands Joschka Fischer mit Muskelkörper und Schwert, im Hintergrund ragt das CCVT-Gebäude in die Höhe. Koolhaas wollte damit dem Inhalt des Buches Ausdruck verleihen: «Go East». Das Buch erregte nach der Publikation 2004 grosses Aufsehen, da einige alternative Cover-Optionen im Internet kursierten und von der chinesischen Regierung als Beleidigung empfunden wurden. Das Buch ist nur noch über Antiquariate erhältlich.

Sie haben das Hotel Furkablick zwischen Realp und Rhonegletscher Anfang der neunziger Jahre renoviert, aber noch nie in der Schweiz gebaut. Warum eigentlich?

Gute Frage, wir haben an so vielen Wettbewerben teilgenommen, aber in der Schweiz gibt es zu viele gute Architekten.

Rem Koolhaas schaut auf die Uhr. Leider ist schon fast eine Stunde vergangen. Jetzt erst wird man langsam wach. Aber das war das Schlusswort. Er muss los. Vielen Dank. Auf Wiedersehen.
Rem Koolhaas, geboren 1944 in Rotterdam, gründete 1975 das Office for Metropolitan Architecture (OMA). Bereits 2000 erhielt er den renommierten Pritzkerpreis, 2014 kuratierte er die Architekturbiennale in Venedig mit dem Titel «Fundamentals». Er ist Professor in Harvard und arbeitet in Rotterdam.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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