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db deutsche bauzeitung 11|2017
Wohnen im Alter
db deutsche bauzeitung 11|2017

Raumgefüge

Pflegewohnheim »Ingrid Leodolter Haus« in Wien Rudolfsheim-Fünfhaus (A)

Deutlich größer als Pflegeheime in Deutschland, bietet der innerstädtisch gelegene Komplex Raum für 328 Pflegeplätze und einen Kindergarten. Er zeichnet sich durch eine ideenreiche Konzeption mit großzügigen Bewegungs- und Aufenthaltsflächen und ein Raumzonenprinzip mit kluger Zimmer- und Farbgestaltung aus.

2. November 2017 - Falk Jaeger
Es ist nicht die Namenspatronin Ingrid Leodolter (1919-86, Ärztin und ­verdienstvolle österreichische Gesundheitsministerin), die die Besucher im Eingangshof des Altenwohn- und Pflegeheims empfängt. Es ist Kaiserin Sisi, die von ihrem Denkmalsockel grüßt. Sie tut das schon seit 125 Jahren, denn auf diesem Grundstück unweit des Westbahnhofs stand zuvor das Kaiserin-Elisabeth-Spital. Im Zuge der Umorganisation der Wiener Krankenhäuser wurde das Spital 2012 im Rahmen des Wiener Geriatriekonzepts von 2007 in ein Pflegewohnhaus des Wiener Krankenanstaltenverbunds umgewidmet. Die Baulichkeiten waren dafür jedoch ungeeignet und mussten zum Großteil dem Bau eines modernen Pflegeheims weichen. Sisi durfte bleiben.

Der Neubau am Kardinal-Rauscher-Platz ist als Pflegeheim ein wirklich ­großes Haus mit immerhin 324 Wohn- und Pflegeplätzen, das einen ganzen Straßenblock einnimmt. Mit vier Geschossen und einer Staffelung nach ­Süden passt es sich in seiner Höhenentwicklung der geschlossenen Block­bebauung des 15. Bezirks Rudolfsheim-Fünfhaus an. Als Baukörper freilich tritt das Haus unmissverständlich auf den Plan. Die Architekten machten gar nicht erst den Versuch, 100 bzw. 115 laufende Meter Bewohnerzimmer zu ­kaschieren und die horizontal dahineilenden Fassaden in einzelne »Häuser« zu gliedern, um sich den Proportionsverhältnissen im Quartier anzupassen. Eigentlich ist man bei einem solchen Haus bemüht, das betreute Dasein der Bewohner und Patienten soweit als möglich der Normalität des Wohnens anzunähern. Doch weit, zu weit entfernt sich das Haus typologisch von der Wohnumgebung und wird, zumindest in der Außenansicht, eher als Krankenhaus gelesen.

Im Innern allerdings wandelt sich das Bild. Hier sind die großen ­Geschossflächen und langen Zimmerfluchten nicht durch serielle Ordnungsschemata auf übliche Weise bewältigt worden, sondern man hat sie als Chance für eine geniale Grundrissdisposition genutzt. Drei frei geformte, unterschiedlich gestaltete und bepflanzte Lichthöfe bilden ruhige Aufenthaltsbereiche und Orientierungsorte. Ein vierter Hof dient als geschützte Vorfahrt und ist mit Zugängen zum öffentlichen Café und zum Versammlungsraum eine der Schnittstellen zwischen Pflegeheim und Außenwelt.

»Keine Gänge, Marktplätze!« war das Credo der Architekten, und in der Tat gibt es im Normalgeschoss, das 100 Zimmer und zahlreiche Serviceräume umfasst, keinen einzigen herkömmlichen Flur, sondern ein offenes Raumkontinuum, in dem spielerisch Aufenthaltsbereiche und Ruhezonen organisiert sind. Wenige, unauffällige Glastüren unterteilen diese Erschließungs- und Kommunikationszone in Brandabschnitte und Stationen. Glasfronten zu den Innenhöfen sorgen für Transparenz, Durchblicke und eine großzügige Belichtung. Die Bewohner können stationsübergreifende, abwechslungs­reiche Rundgänge absolvieren und auf einer Etage einen halben Kilometer ­flanieren, ohne den Gebäudekomplex verlassen zu müssen. Zusätzlich gibt es nach allen vier Himmelsrichtungen gläserne Erker mit freiem Ausblick entlang der Straßen und in einem Fall bis hin zum Stephansdom.

Alle Patienten- und Bewohnerzimmer liegen an den Außenfassaden und haben durch die vorgelagerten Loggien ausnahmslos den Bezug zur umgebenden Stadt. Innen grenzen sie jeweils mit einer Nische, einem individuell gestaltbaren Verweilplatz vor der Wohneinheit (innere Loggia genannt) an die gemeinschaftliche Erschließungs- und Aufenthaltszone. So kommt ein sehr subtiles Raumgefüge mit unterschiedlichen Privatheitsgraden zustande, das den Bewohnern je nach Befindlichkeit die Wahl des Aufenthalts und unterschiedlich intensiver Kommunikationsmöglichkeiten freistellt, von der eigenen Loggia über das intime Zimmer, die etwas geschützte Innenloggia, die ­offenen Marktplätze bis zu den wiederum geschützteren, aber gemeinschaft­lichen Ruhe- und Aufenthaltsbereichen. Durch den offenen Bewegungs- und Aufenthaltsraum entstand ein in Nutzungsbereiche und Raumzonen unterschiedlichen Charakters gegliederter Lebensraum, der den Bewohnern je nach Wunsch Rückzugsorte bietet oder Teilhabe am sozialen Austausch ermöglicht. Die Betten in den Zimmern sind so positioniert, dass auch bettlägerige Bewohner durch Öffnen der Doppeltüren zur Loggia und zum Marktplatz hin am Stationsleben und am Stadtleben zumindest passiv teilnehmen können.

Ein ausgeklügeltes Farbkonzept, das auf den ersten Blick etwas unmotiviert bunt erscheinen mag, zoniert die Bereiche, erleichtert die Orientierung und sorgt für eine heitere und offene Atmosphäre, die den betagten Bewohnern gut tut und den Mitarbeitern bestmögliche Arbeitsbedingungen garantiert. Dies gilt v. a. für die Demenz-Station. Deren Freifläche im nordwestlichen ­Innenhof ist unter besonderen Gesichtspunkten der Orientierung und des Aufenthalts von Demenzkranken gestaltet worden (u. a. mit Rundweg und Buswartehäuschen), da viele von ihnen das Haus nicht verlassen können. Die Zuwendung der Architektur den Bewohnern gegenüber ist deutlich zu spüren und überträgt sich auch auf die Mitarbeiter.

Das Ingrid Leodolter Haus vereint unter einem Dach sozialmedi­zinische ­Betreuung, eine Station für Kurzzeitpflege, neun Stationen für Langzeitpflege sowie zwei Stationen für Demenzkranke. Es gab deshalb anfangs kritische Fragen wegen der Größe des Hauses und des »unpersönlichen Massenbetriebs«. Die Praxis zeigt jedoch, dass die Größe durch die architektonische Konzeption und die gestalterischen Mittel beherrscht wird. Und dass diese Größe andererseits den Bewohnern ein Maximum an Bewegungsraum, Lebensqualität und Abwechslung bietet, denn es ist immer viel los im Haus. Mit seiner innerstädtischen Lage, der leichten Erreichbarkeit für Angehörige, mit seiner integrierten Nutzungsstruktur und seiner Vernetzung mit dem umgebenden Wohnquartier u. a. durch Café, Friseursalon und den großen Kindergarten mit fünf Gruppen, der zum großen Teil von Mitarbeiterkindern besucht wird, ist es ein Musterbeispiel dafür, wie die Gesellschaft mit dem wachsenden Anteil an Senioren und Pflegebedürftigen umgehen kann, ohne sie auszugrenzen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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