Google baut in Toronto einen vernetzten, perfekten Stadtteil – der unsere Freiheit einschränken könnte

Der Vertrag mit Google ist unterschrieben. In Toronto soll eine Fläche, so gross wie die Zürcher Innenstadt, für rund 10 000 Menschen entstehen. Dank eines mächtigen und weitgehend unregulierten Überwachungssystems lebt man hier ohne Stau, Smog oder Müll.

Felix Simon
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Auf dieser Industriebrache im Hafengebiet von Toronto wird bald das neue Stadtviertel «Sidewalk Toronto» entstehen. (Bild: PD)

Auf dieser Industriebrache im Hafengebiet von Toronto wird bald das neue Stadtviertel «Sidewalk Toronto» entstehen. (Bild: PD)

Noch ist in Toronto kein «Hub für Innovation» und kein «Wegweiser für die Zukunft» zu sehen. Fabrikhallen, leere Lagerflächen und Industriebrachen säumen Torontos östliche Hafenseite. Quayside wirkt von der schimmernden Zukunft, die der kanadische Premierminister Justin Trudeau Mitte Oktober für das Viertel heraufbeschwor, noch so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Aber das wird sich ändern. Der Vertrag mit Eric Schmidt, CEO von Alphabet, Googles Mutterkonzern, wurde unterschrieben. Am vergessenen Zipfel der Metropole zwischen Autobahn und Lake Ontario wird eine Fläche, so gross wie die Zürcher Innenstadt, für rund 10 000 Menschen erschlossen.

«Sidewalk Toronto» heisst das Projekt, das wie einst Masdar City in Abu Dhabi ein Musterbeispiel werden soll, wie Kanada «Technologie nutzt, um unser tägliches Leben zu bereichern». Der Name klingt nach einer Stadt, in der der Mensch im Fokus steht – das bereitgestellte Werbematerial zeigt denn auch überaus glückliche Figuren, die durch eine moderne Fussgängerstadt mit Bäumen und Wiesen wandeln, in der Autos praktisch nicht mehr vorkommen.

Perfekt vernetzt

Ein von Grund auf vernetzter Stadtteil soll entstehen, in dem alles ineinander greift: ein Verkehrssystem, das die Daten von Smartphones, Sensoren und Kameras nutzt, um die besten Routen für selbstfahrende Autos zu bestimmen – nie wieder Stau, weniger Smog. Intelligente Ampeln werden Fussgänger erkennen, damit es weniger Verkehrstote und kein lästiges Warten mehr an roten Ampeln gibt. Frachtverkehr, Lieferdienste und Müllentsorgung werden von Robotern in Tunneln erledigt.

Ein Querschnitt durch die zukünftige Infrastruktur, visualisiert von Sidewalk Labs. (Bild: PD)

Ein Querschnitt durch die zukünftige Infrastruktur, visualisiert von Sidewalk Labs. (Bild: PD)

Wer jetzt an Planwirtschaft denkt, dem hält das Personal des zuständigen Sidewalk Labs entgegen, dass die Bürger Torontos die Stadtplanung mitbestimmen dürften. «Bottom up» heisst das Prinzip: Bürgerbeteiligung statt quasidiktatorische Planungskommission durch Masterminds. Und weil die Alphabet-Tochter nicht nur Torontos Wohlergehen im Blick hat, sollen die Ergebnisse auch anderen helfen: Toronto liefert als gigantisches Freiluftexperiment das Wissen, um später andernorts die Erfolge zu wiederholen. Und wer, wenn nicht Google, der Technikmagier aus dem Silicon Valley, könnte diese Utopie Wirklichkeit werden lassen?

«Die Idee für Sidewalk Labs kam uns, als wir voller Begeisterung darüber nachdachten, was für tolle Dinge man tun könnte, wenn uns nur jemand eine Stadt gäbe und uns einfach machen liesse.» Technologie und unternehmerisches Handeln, so das implizite Versprechen von Eric Schmidt, lösen Probleme, mit denen die Gesellschaft bisher nicht alleine fertig wurde.

Seit Jahren schwellen die Städte rund um den Globus immer weiter an. In manchen chinesischen Metropolen ist der Smog mittlerweile so dicht, dass die Regierung der Volksrepublik eine Quote für Elektroautos einführt. In London gerät die U-Bahn in der Rushhour so sehr an den Rand des Kollapses, dass Metaphern von Sardinen in der Dose nicht nur erlaubt, sondern als akkurate Zustandsbeschreibung geradezu nötig sind. Dass Tech-Firmen eine kränkelnde Welt heilen sollten, wäre jedoch zu bezweifeln.

Deregulierung ist der Preis

Damit das Stadtviertel Realität werden kann, müsse Toronto, so die Ankündigung, viele existierende Regulierungen in Bereichen wie dem Transportwesen und dem Baurecht aussetzen. Welche dies genau sind, teilt «Sidewalk Labs» fürs Erste jedoch nicht mit. Forderungen nach Deregulierung kennt man auch von den umstrittenen Firmen der Sharing Economy wie Uber und Airbnb. Am Ende profitieren immer die Unternehmen. Alphabet will im Gegenzug seinen kanadischen Hauptsitz zwar in das neue Viertel verlegen und 50 Millionen US-Dollar für die ersten Pläne springen lassen, doch nur zu den eigenen Bedingungen.

Weltweit buhlen Städte um die grossen Technologiefirmen, denn die versprechen Geld und Wachstum. Wo Google einen Campus errichtet, spriessen in kurzer Zeit neue Startups wie Pilze aus dem Boden. Diese wiederum locken eine zahlungskräftige Klientel an, die der Stadt auch andernorts Geld in die Kassen spült – für beide Seiten eine Win-win-Situation. Doch die Konkurrenz ist hart, und so wedeln viele Städte mit Steuererleichterungen und Deregulierung, dass es einem schwindelig werden kann, um die Amazons, Facebooks und Googles dieser Welt anzulocken. Wenn dann Google anruft, sagt Trudeau selbstverständlich nicht Nein. Wie der Deal allerdings im Detail aussieht, bleibt vorerst unter Verschluss. Bedenken werden nicht geäussert.

Schon jetzt sind wir jeden Tag von Systemen umgeben, die unsere Daten ohne explizite Zustimmung aggregieren, verknüpfen und auswerten. In einer vernetzten Stadt multiplizieren sich die potenziellen Datenquellen und erschaffen so ein mächtiges und weitgehend unreguliertes Überwachungssystem, in dem jedes kleine Detail urbanen Lebens messbar wird. Die Annehmlichkeiten, die damit einhergehen, haben ihren Preis: Wir und unsere Daten werden zur Ware. Irgendjemand wird mit dem Wissen, wo wir täglich unsere Brötchen kaufen oder welchen Weg wir zur Arbeit nehmen, schon etwas anfangen können.

Natürlich beteuert Alphabet, dass man in Toronto «Datenschutz und Sicherheit, die jeder verdiene» garantieren wolle, was dies konkret bedeuten soll, wird jedoch nicht formuliert. Eine «Opt-out-Option», also die Möglichkeit, bei dem geplanten Datensammelwahn nicht mitzumachen, besteht nicht. Auch werden keine Einblicke darüber gegeben, was, wie und warum gesammelt wird und was damit geschieht. Um das Projekt wirklich zum Laufen zu bringen, ist es ja sogar denkbar, dass Alphabet auf Daten der Stadt und des Staates zurückgreifen muss, die bisher nicht zu Verfügung stehen: Verkehrsdaten, zum Beispiel, demografische Informationen.

Grund zur Sorge

Sollten Alphabets Pläne nicht jedem Sorgen bereiten? Der Konzern gibt die Richtung vor, in die sich der digitale Kapitalismus in Zukunft entwickeln wird. Google macht sich daran, in der analogen Welt seine Muskeln spielen zu lassen. Und wer kann garantieren, dass der Staat die smarten Systeme nicht auch nutzt, um uns noch besser zu überwachen? Denkt man mit Huxley und Orwell, dürfte «Sidewalk Toronto» jedenfalls eine Vorlage für ein Überwachungssystem par excellence sein, in dem Verhalten mithilfe von Algorithmen sogar sanktioniert werden kann.

Jenseits von Kommerzialisierung und Datenschutz stellt sich in Toronto wohl auch die Frage nach der Sicherheit der Technik in einer solchen Stadt. Wenn die erfolgreichen Hacker-Attacken auf Staaten und grosse Firmen zuletzt eines bewiesen haben, dann, dass selbst Systeme mit den besten Sicherheitsvorkehrungen nicht unfehlbar sind. Kriminellen stünden in einer solchen Stadt der Zukunft plötzlich eine Vielzahl neuer Angriffspunkte zur Verfügung. Warum auch einen Computer hacken, wenn man eine ganze Stadt haben kann? Welche Folgen ein elaborierter Cyberangriff haben könnte, mag man sich gar nicht erst ausmalen.

Glückliche Kinder zwischen Waterfront und Park – so stellen die Planer sich «Sidewalk Toronto» vor. (Bild: PD)

Glückliche Kinder zwischen Waterfront und Park – so stellen die Planer sich «Sidewalk Toronto» vor. (Bild: PD)

Gleichzeitig fragt man sich, wer in Alphabets kühner Zukunftsvision eigentlich leben will. Fortschritt geschieht hier in Sprüngen und durch massive Umwälzung. Wie ein künstlicher Annex wird «Sidewalk Toronto» auf dem Reissbrett entworfen und als Testlabor an die kanadische Metropole geheftet. Menschen werden wie Samen in die Neubauten gesetzt, der urbane Raum wird wie eine Nutzerplattform inszeniert: Facebook in Analog, wenn man so will. Und auf der Plattform macht gemeinhin der Eigentümer die Regeln.

Facebook entscheidet über Kommunikationsformen, wer mitmachen darf und wer nicht, ändert die Nutzungsbedingungen, ohne nachzufragen (und ohne Möglichkeit zum Widerspruch), und führt an seinen Nutzern permanent heimlich Experimente durch – Gruppe A bekommt das neueste Feature, die Kontrollgruppe B hingegen nicht, am Ende wird das Ergebnis verglichen. Doch wie soll dies in einer Stadt aussehen? Entscheiden Alphabet oder die andern User, wer eine Wohnung bekommt und wer nicht? Am Ende vielleicht noch auf Basis der persönlichen Suchhistorie oder welche Produkte man einkauft, welche Zeitungsartikel man liest? Hält der Bus morgens an einer anderen Stelle, weil die bisherige Route nicht effizient genug ist? Und was, wenn einem die Nutzungsbedingungen gegen den Strich gehen? Muss man den Stadtteil dann verlassen?

System oder Freiheit?

Das Versprechen der Stadt war immer auch das der Freiheit; tun und lassen, was einem gefällt, kann man eher im Chaos, in dunklen Ecken und all den Zwischenräumen. Im Kern jedoch ist diese Freiheit – trotz gegenteiligen Beteuerungen – eine Bedrohung für die Vision von Sidewalk von einer durchoptimierten Stadt der Zukunft. Für die Planer sind städtisches Chaos, Unübersichtlichkeit und nicht zuletzt die Überraschungen, die in den Wirren von Metropolen entstehen, Elemente, die es zu bekämpfen gilt. In der Welt der Programmierer werden Systeme gefeiert, die schlank, elegant und vor allem frei von ungewollten Überraschungen sind. Alles andere macht nur Ärger.

Doch für eine Stadt kann und sollte ständige Kontrolle und Optimierung nicht die oberste Maxime sein. Denn Dysfunktionalität schafft auch Charakter. Berlin findet die halbe Welt ja nicht deshalb hip, weil alles so schön sauber, ordentlich und «smart» ist, sondern weil sich die Stadt wenigstens noch einige Reste an Schmuddeligkeit und Unordnung bewahrt hat. Die Berliner Verkehrsbetriebe machen sogar Werbung damit, was bei ihnen alles nicht funktioniert. In Frankfurt wiederum feiert ausser den Investoren niemand das grosszügig angelegte Europaviertel, weil diesem ganz einfach die Seele fehlt und dort neben dem Wind allenfalls der Geist des Grössenwahns durch die Strassen weht. Effizienz, Ordnung und Übersichtlichkeit mögen auf dem Papier schöne Ideen sein, doch es darf bezweifelt werden, dass die Bewohner von «Sidewalk Toronto» dies einmal genauso empfinden werden.

Glaubt man dem Werbefilm, werden Menschen aus allen Schichten in den neuen Stadtteil ziehen: Familien, alte und junge Leute, Schwule und Heteros, sogar ein Punker im Rollstuhl tritt als Testimonial für die bevorstehende Lebensqualität auf. Man muss deshalb davon ausgehen, dass Google Arbeitslosen, Alleinerziehenden oder Obdachlosen aus der Patsche helfen wird: Von ihnen fehlt in der «Sidewalk»-Zukunft nämlich jede Spur.