Wenn im Vorzeigeprojekt die Generationen aneinandergeraten

Die «Giesserei» in Winterthur ist das grösste selbstverwaltete Mehrgenerationenhaus der Schweiz. Bei seiner Eröffnung weckte es viele Hoffnungen, doch: Es harzt, wenn mehrere Generationen zusammenleben.

Katrin Schregenberger
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Familie Matter lebt im Mehr-Generationenhaus «Giesserei» in Winterthur. Auch sie müssen sich an der Freiwilligenarbeit in der Siedlung beteiligen. (Bilder: Karin Hofer / NZZ)

Familie Matter lebt im Mehr-Generationenhaus «Giesserei» in Winterthur. Auch sie müssen sich an der Freiwilligenarbeit in der Siedlung beteiligen. (Bilder: Karin Hofer / NZZ)

Es dämmert an diesem Dienstagabend früh über der «Giesserei», als Ursula Ruff die Kissen auf dem Sofa zurechtrückt und sagt: «Von aussen finde ich die ‹Giesserei› ja schrecklich.» Sie ist 84 Jahre alt, wohnt im vierten Stock, Ostflügel, und ist die zweitälteste Bewohnerin der Siedlung, in der rund 240 Erwachsene und 90 Kinder wohnen. Sie schaut aus dem Fenster und sieht auf der anderen Seite des Innenhofs die rötliche Holzfassade des Westflügels und in die Stube der Matters. Frau Matter hat seit neun Monaten ein Kind. Und während das Kind vis-à-vis auf dem Boden herumkrabbelt, fragt sich Ursula Ruff, wie sie hier gelandet ist. Hier, in einem Neubau, in dem ehemaligen Industriequartier, wo Sulzer einst Turbinen goss. Sie, die 60 Jahre im Tösstal lebte, im eigenen Haus mit eigenem Garten. Sie kommt zum Schluss: «So unbedarft wie ich ist vermutlich niemand hier eingezogen.» Und doch gehört Ursula Ruff zu den ersten Mietern dieser Siedlung, die 2014 fertig gebaut war. «Mein Mann ist gestorben, das Haus ist dann einfach zu gross geworden», sagt die ehemalige Lehrerin. «Es hiess, es sei wie ein Dorf – das konnte ich mir vorstellen.»

Überhaupt wäre diese Siedlung ohne die Sehnsucht nach einem Heim, wo man den Nachbarn kennt und sich mehr als nur grüsst, nicht entstanden. Es begann im Jahr 2005 mit einer Anzeige im «Landboten». Darin schrieb Hans Suter, Initiator des Mehrgenerationenhauses: «Veränderte Lebensumstände + Neue Interessen = neue Wohnbedürfnisse». Es war der Hilferuf eines Babyboomers, der sich und seine Frau vor einem Älterwerden in Einsamkeit retten wollte. Und es zeigte sich, dass er nicht alleine war mit seiner Angst. Kurz darauf gründete er mit 24 anderen den Verein Mehrgenerationenhaus.

Junge Leute sind rar

Der Verein wuchs und wuchs. Und so erging es auch der Vision: Aus einem ökologischen und selbstverwalteten Mehrgenerationenhaus mit rund 40 Wohnungen wurde eine autofreie, prämierte Riesensiedlung aus Holz, die der Genossenschaft Gesewo angeschlossen ist. Für eine 3½-Zimmer-Wohnung zahlt man hier netto 1650 Franken pro Monat, ausser man bekommt eine der 34 subventionierten Wohnungen. Es gibt Gemeinschaftsräume, eine Terrasse mit Hausbar, Werkstatträume, einen grossen Saal und einen Innenhof mit Spielplatz, den «Dorfplatz». Wichtigstes Organ ist die Mitgliederversammlung, die Gemeindeversammlung dieses – politisch eher links gerichteten – Dorfes. Die kleinsten Verbände, in denen sich die Bewohner organisieren, sind die acht Treppenhäuser. Die Siedlung soll die Schweizer Demografie abbilden. Das gelingt aber nicht ganz: Die 20–30-Jährigen sind rar. Das liegt einerseits an dem Pflichtdarlehen: Jeder Mieter muss 10 Prozent des Wohnungswertes aufbringen. Bei einer 3½-Zimmer-Wohnung sind das 52 000 Franken. Dieses Geld haben Junge oft nicht.

Unter den Bewohnern kursiert das Bonmot: «Wohnen in der ‹Giesserei› ist ein Beruf.» Denn hier gibt es weder Hauswart noch Verwaltung.

In der Wohnung der Matters, im Westflügel gegenüber von Frau Ruff, brennt inzwischen Licht. Brandneue Ikea-Möbel stehen im Raum. Christine Matter, 29, wartet auf ihren Mann und sagt: «Die älteren Leute sind schon eher die Zugpferde in dieser Siedlung.» Die Selbstverwaltung, also, «dass man nicht von einem Riesen abhängig ist, der Geld machen will», gefalle ihr gut. Einen «Giesserei»-Job zu finden, der ihr Spass mache, sei aber nicht einfach gewesen. Auch an die Mitgliederversammlungen gehe sie nicht mehr so häufig, seit das Kind da sei. Und bald wird sie zurückkehren in die Kommunikationsbranche.

In der «Giesserei» in Winterthur leben mehrere Generationen zusammen – natürlich kommt es da auch zu Konflikten.

In der «Giesserei» in Winterthur leben mehrere Generationen zusammen – natürlich kommt es da auch zu Konflikten.

Und dann ist da noch die Freiwilligenarbeit. Unter den Bewohnern kursiert das Bonmot: «Wohnen in der ‹Giesserei› ist ein Beruf.» Denn hier gibt es weder Hauswart noch Verwaltung, die Nebenkosten sind deshalb tief. Die meiste Arbeit in der Siedlung – vom Putzen über die Gartenarbeit bis zur Wartung technischer Anlagen – erledigen die Bewohner selber. Mit dem Einzug in eine Wohnung verpflichten sich Mieter nämlich zu 28 «Giessereistunden» pro Jahr. Genau diese Stunden aber sorgen für Diskussionen zwischen den Jungen und den Alten, wie die Begleitstudie zur «Giesserei», die 2016 abgeschlossen wurde, aufzeigt. Die Stunden spiegelten einerseits die Wünsche der Pensionierten, welche diese Siedlung geprägt hätten: Die «Giessereistunden» geben ihnen eine Aufgabe, Tagesstruktur und soziale Kontakte. Unter 40-Jährige hingegen sind anderseits mit ihrem «richtigen» Beruf und ihrer Familie viel mehr ausgelastet.

Dass Jüngere seltener in dieser Siedlung wohnen und sich weniger engagieren, ist ein Schönheitsfehler. Der eigentliche Erfolg dieser Siedlung sei aber, dass von Anfang an viele ältere Leute eingezogen seien, sagt Joëlle Zimmerli, promovierte Soziologin. Sie hat die Begleitstudie zum Mehrgenerationenhaus «Giesserei» durchgeführt. Ältere Leute winkten bei Neubauten – wenn sie sich die Mieten überhaupt leisten könnten – oft nur ab. Denn Babyboomer hätten hohe Ansprüche. Orte der Geselligkeit wie Terrassen, Balkone und einladende Aussenräume seien ihnen wichtig, so Zimmerli.

Vier bis fünf Prozent der Mieter greifen lieber in den Geldbeutel statt zum Besen. Gern gesehen wird das aber nicht: «Warum wohnt man dann hier?», sagt dann jemand.

«Ich bin keine gute Genossenschafterin», sagt Ursula Ruff und wendet den Blick wieder weg vom Fenster, weg vom Stubenlicht der Matters. Sie ziehe sich immer wieder zurück. Ausserdem würden die «Giessereistunden» für sie beschwerlicher: «Ich bin im Team des Gemeinschaftsraums und gehe in den Garten, solange ich das noch kann», sagt sie. Man könne sich ja offiziell dispensieren lassen, aber: «Ich käme mir minderwertig vor, wenn ich ein Gesuch stellen müsste, weil ich Rückenschmerzen habe.» Und dann gebe es noch die andere Möglichkeit: einfach zu zahlen statt zu arbeiten.

Weniger allein

«Giessereistunden» zu zahlen, das ist die Hintertür, die man den Arbeitsunwilligen – und Arbeitsunfähigen – offen gelassen hat. Vier bis fünf Prozent der Mieter greifen lieber in den Geldbeutel statt zum Besen. Gern gesehen wird das aber nicht: «Warum wohnt man dann hier?», sagt dann jemand, vielleicht nur einer, aber trotzdem weht der Vorwurf dann durch die Gänge. Denn hier wohnt man nicht einfach so. Man wohnt hier, weil man die Gemeinschaft sucht, so der Tenor. «Treppenhaus für Treppenhaus ist eine Gemeinschaft, die Anonymität des Städtischen hat man überhaupt nicht», sagt Ursula Ruff. Man sei weniger allein, man habe immer jemanden, der einem helfe bei Problemen mit dem iPad, der den Arm verbinde oder koche, wenn man krank im Bett liege. Eines aber bleibe: «Wenn ich am Abend nach dem Theater oder Konzert komme, dann habe ich auch hier niemanden, mit dem ich darüber reden kann.»

Ursula Ruff ist die zweitälteste Bewohnerin der «Giesserei».

Ursula Ruff ist die zweitälteste Bewohnerin der «Giesserei».

Ein Familienersatz ist die «Giesserei» also nicht. Auch bleibt der Glaube, dass eine altersdurchmischte Siedlung «das Verständnis zwischen den Generationen und die Solidarität unter der Bewohnerschaft fördert», wie es im Credo der «Giesserei» steht, eine Illusion. Denn neben dem Disput um die «Giessereistunden» gibt es hier die gleichen Generationenkonflikte wie in «normalen» Siedlungen auch: «Manchmal ärgere ich mich schon über den Schlamm, den die Kinder ins Treppenhaus bringen», sagt zum Beispiel Ursula Ruff und fügt an: «Ich bin froh, dass ich nicht mehr für die Kinder zuständig bin.» Auch Christine Matter erinnert sich an einen Streit, der im Sommer ausbrach: «Da war eines Tages dieses Trampolin im Innenhof, das natürlich genau vor dem Fenster eines kinderlosen Paares stand. Es hat von morgens bis abends gequietscht.» Auch feiernde Jugendliche auf dem Dach erregten in letzter Zeit die Gemüter. Und über den grossen Streit um Grösse und Aussehen des Spielplatzes wissen alle etwas zu erzählen.

Dass Generationen nahe beieinander wohnen, führt eben nicht unbedingt zu grösserem Verständnis untereinander: «Entgegen dem Klischee finden es ältere Leute nicht unbedingt erstrebenswert, Kinder im Haus zu haben, eher im Gegenteil», sagt die Soziologin Zimmerli. Deshalb gebe es derzeit bezüglich altersgerechten Wohnens in der Schweiz auch zwei Konzepte: jenes der Mischung der Generationen und jenes der Gleichgesinnten: Häuser, in denen sich ältere Personen zu einer Gemeinschaft zusammenschliessen, wie es sie zum Beispiel bei der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) gibt.

Gut vernetzt über Whatsapp

Die «Giesserei» ist also nicht für jeden geeignet. «Leute, die viel arbeiten und zu Hause nur schlafen, werden hier nicht glücklich», sagt Emanuel Matter, der mittlerweile nach Hause gekommen ist und nun in der Wohnung im Westflügel sitzt. Das Kind krabbelt nicht mehr herum, sondern lacht Papa an: Emanuel Matter ist 30 Jahre alt, ist Sekundarlehrer und trägt ein Piercing. Seine Frau sitzt mit dem Kleinen auf dem Boden, dort, wo die Spielzeuge liegen. «Ohne Kinder wäre das für uns nicht unbedingt eine attraktive Wohnform gewesen», sagt Herr Matter. Mit Kindern aber könne man hier auf enorme Ressourcen zurückgreifen, denn die Familien seien gut vernetzt, nicht zuletzt über einen Whatsapp-Chat. «Man vertraut sich hier. Das geht so weit, dass jemand spontan auf das Kind einer anderen Familie aufpasst.» Für die Matters ist die «Giesserei» zum Dorf geworden. Für ihn ist sie «ein sehr schönes Beispiel von Schweizer Demokratie», das er am liebsten seinen Schülern zeigen würde. Und Christine Matter erzählt, dass eine Familie hier ihre Ersatzgrosseltern gefunden habe. Wie im Märchen. Der Traum von der Gemeinschaft: Für den einen oder anderen geht er in dieser Siedlung tatsächlich in Erfüllung.