Das Anti-Trump-Haus in Liechtenstein

Ein neues Wohngebäude in Vaduz bewegt sich wie von Geisterhand und versorgt nicht nur seine eigenen Bewohner mit nachhaltiger Energie.

Ulf Meyer
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Das Plus-Energie-Haus, das sich bewegt, gebaut von Falkeis Architects. (Bild: Falkeis)

Das Plus-Energie-Haus, das sich bewegt, gebaut von Falkeis Architects. (Bild: Falkeis)

Wenn am Morgen die ersten Sonnenstrahlen auf das Häusermeer der liechtensteinischen Hauptstadt fallen, bewegen sich auf einem spektakulären Neubau wie von Geisterhand gesteuert eigentümliche schwarze Paneele. Wie Hasenohren strecken sie sich in verschiedenen Formen der Sonne entgegen, um möglichst viele Strahlen über der Dachlandschaft von Vaduz einzufangen. Alle fünf Minuten werden sie hydraulisch nachjustiert. Zwei neue Techniken im nachhaltigen Bauen sind in diesem sogenannten Plus-Energie-Haus am Werk: die automatische Nachführung von Paneelen je nach Sonnenstand und Wetter – auch «Solar Tracking» genannt – und erstmals in diesem Massstab «Phase-Change Materials» (PCM), auf Deutsch Phasenwechselmaterialien.

Bauherr des experimentellen Neubaus ist die örtliche Unternehmerfamilie Marxer, die ein Wohnhaus bauen lassen wollte, das «wegweisend einen Beitrag für die nächsten Generationen leistet». Hervorgegangen war der Entwurf vom Wiener Architekturbüro Falkeis aus einem geladenen Architekturwettbewerb. Ihr neues Öko-Gebäude soll mehr Energie produzieren, als es verbraucht. Es wurden keine Batterien installiert, sondern überschüssige elektrische Energie wird in das Stromnetz gespeist oder für Elektrofahrzeuge genutzt. Das Gebäude fungiert als «Versorgungsknoten in einem Gebäudeverbund» (Smart Grid). Mit seiner Hilfe können sich vier benachbarte Gebäude gegenseitig mit Energie versorgen – erneuerbaren Energien, versteht sich: Geothermie, Solarenergie und Photovoltaik. Öl, Gas oder Fernwärme kommen nicht ins Haus. Ein «Anti-Trump-Haus» nennt der Architekt sein Werk deshalb.

Gefrieren und verflüssigen

Neben der gestalterisch etwas überambitioniert wirkenden Fassade im Voronoi-Look sind es speziell die Paneele, die mit PCM gefüllt sind, Wärme- beziehungsweise Kälteenergie nutzbar machen und Energie im Gebäude speichern. Latentwärmespeicher speichern auf kleinem Raum viel Wärme oder Kälte. Für das Marxer-Haus in Vaduz haben sich die Planer für Paraffin entschieden. Es kann beim Übergang von einem in einen anderen Aggregatzustand Wärme aufnehmen oder abgeben und weist eine fünfmal höhere Speicherfähigkeit als Wasser auf. Der Punkt, an dem Paraffin gefriert und sich wieder verflüssigt, liegt bei 21 und 32 Grad Celsius. Bei dieser Temperatur findet der Übergang vom flüssigen in den festen Zustand statt. Die acht Kubikmeter Paraffin klappen sich je nach Heiz- oder Kühlbedarf auf und recken sich der Sonne oder dem nächtlichen Sternenhimmel entgegen – ein bizarres kinetisches Architekturschauspiel.

Wenn die Speicher geladen sind, legen sich die Flügel wieder an das Gebäude, und die gespeicherte Wärme wird beim Entladen an die Frischluft der Wohnraumlüftung abgegeben. Die Heizflügel arbeiten im Verbund mit der Wärmerückgewinnung der Lüftungsanlage. Im Hochsommer oder bei Föhn werden die Kühlflügel eingesetzt. Beim Entladen des PCM wird die Kälte an die Raumluft abgegeben. Die Kühlflügel auf der Ostseite des Gebäudes liegen tagsüber am Gebäude und werden nachts geöffnet. «Phasenwechselmaterialien» sind thermische Batterien, die Energie verlustarm und über lange Zeit speichern. Beim Schmelzen wird Wärmeenergie (Schmelzwärme) aufgenommen und beim Erstarren abgegeben. Latentwärmespeicher finden heute schon Einsatz bei Warmhalteplatten für die Gastronomie, für Funktionskleidung, in der Medizin und im Automobilbau.

Die Südseite des Marxer-Wohnhauses und das Dach sind mit Photovoltaikpaneelen bekleidet. Um die Stromgewinnung zu erhöhen, sind die Paneele an den «Solar-Tracker» angeschlossen, der die Sonnenstandskoordinaten der nächsten Jahrhunderte gespeichert hat und diese Daten an einen Motor weitergibt, der die Paneele in den optimalen Winkel klappt. Zusätzlich ist die Anlage mit einer Wetterstation verbunden. Ist die Sonne zu schwach oder der Wind zu stark, schaltet sich das System ab, das zusammen mit der Hochschule Luzern entwickelt wurde. Die Photovoltaikanlage ist im Ruhezustand in das Dach versenkt. Mit Sonnenaufgang heben sich die PV-Paneele und positionieren sich zur Sonne. Dabei werden automatisch nicht nur die Sonnenhöhenwinkel, sondern auch die Verschattung der Flügel untereinander berücksichtigt.

Für die Enkelgeneration

Nachhaltiges Bauen hat jedoch (hoffentlich!) nicht nur etwas mit immer ausgefeilteren Hightech-Lösungen zu tun, sondern dreht sich auch um bodenständige Fragen der Orientierung und Langlebigkeit. Im Falle des Plus-Energie-Hauses in Vaduz war der Grundstückzuschnitt mit einer schmalen Südseite ungünstig. Dem technisch innovativen Gebäude haben die Architekten zusätzlich eine überkomplexe Geometrie gegeben. Einen «echten Solitär» nennt der generöse Bauherr sein Haus. Es allen recht zu machen, sei nie sein Wunsch gewesen. Selbst wirtschaftlich würde «erst die Enkelgeneration» von dem Haus profitieren. Das Marxer-Haus ist eben ein gebautes Beispiel für «angewandte Forschung» – Fehler machen ist erlaubt! Die Architekten haben mit grosser Mühe in einem Akt des «Research by Design» mehr als 800 Details entwickelt. Der Grundriss kommt ohne tragende Innenwände aus und erlaubt entsprechend offene Raumsequenzen und Umbauten. Das skelettartige Tragwerk beruht allein auf A- und V-förmigen Stützen, die wie Bäume durch das Gebäude «wachsen». Die Form der Geschossdecken wurde nach der Spannungsverteilung optimiert, nicht erforderliche Teile in den Decken wurden entfernt, und die linsenförmigen Rücksprünge in den Decken werden für originelle Leuchtenpaneele genutzt.

Das Mehrfamilienhaus hat zwölf Mietwohnungen mit zwei bis sechs Zimmern. Die Mietpreise bewegen sich im für Vaduz üblichen Bereich, obwohl die Baukosten hoch sind. Das Wohnhaus wird zwei Jahre lang evaluiert. Die Energiedaten des Hauses werden in den Wohnungen über Touchscreens sichtbar gemacht, weil dieses Feedback die Nutzer zur Reduktion des Energieverbrauches motivieren kann. Dann wird sich zeigen, ob der hohe technische Aufwand gerechtfertigt ist. Die Ergebnisse werden mit Spannung erwartet. Eine Zertifizierung nach einer gängigen Rating-Methode für energiesparende Gebäude streben jedoch weder Bauherr noch Architekt an.

Noch bis zum 22. Januar 2018 ist im Austrian Cultural Forum in New York eine Ausstellung über das Haus zu sehen.