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Wohnen im Gewebe der Stadt
Spectrum

In guter Gesellschaft hält man Distanz und pflegt den Dialog. Das gilt auch für Stadträume: „In der Wiesen Süd“ in Wien-Liesing als gelungenes Beispiel.

15. Dezember 2017 - Christian Kühn
Wer eine Wohnung kauft, kauft einen Stadtraum mit. Dessen Qualitäten bestehen – neben dem Image, das ein Stadtteil über die Jahre erworben hat – in der Verkehrsanbindung, der Nahversorgung und dem Angebot an Grünflächen. Guter Stadtraum ist aber mehr: Er entsteht, wenn Bauwerke sich freundlich zueinander verhalten und eine Gebäudegesellschaft bilden, in der es respektvolle Distanz ebenso gibt wie intensiven Dialog.

In der traditionellen Stadt hat dieses Spiel von Distanz und Dialog Stadträume geformt, für die wir Namen haben: Straßen und Plätze, Höfe und Parks. Den Stadterweiterungsgebieten der 1960er- und 1970er-Jahre ist es nicht gelungen, auch nur annähernd so starke Begriffe zu prägen. Ihr Ideal war das Ensemble von Baukörpern, die frei in einem möglichst naturnah gestalteten Park stehen. In der Realität ist von dieser Vision in der Regel nur ein Abstandsgrün geblieben, für das sich niemand verantwortlich fühlt.

Die aktuelle Boomphase der Wiener Stadtentwicklung bietet Gelegenheit, nach neuen Formen von Stadtraum zu suchen. Der Trend geht derzeit in Richtung einer Variation des Modells der 1960er- und 1970er-Jahre, wie man es zum Beispiel am Bebauungsplan für das Areal an der neuen Endstelle der U1 in Oberlaa sehen kann, der auf einen Wettbewerb aus dem Jahr 2015 zurückgeht. Es ist eine Art „Zuckerwürfel-Städtebau“ aus eng gestellten, aber voneinander isolierten Baukörpern. Dass wir uns im 21. Jahrhundert befinden und nicht in den 1960er-Jahren, erkennt man bestenfalls daran, dass die Baukörper nicht orthogonal, sondern leicht schräg zugeschnitten sind und nicht im Raster stehen, sondern wie hingewürfelt wirken. Diese Bebauung mit unterschiedlich hohen Punkthäusern, die bis knapp unter die Hochhausgrenze wachsen dürfen, ist ideal für jene Bauträger, die ihre Projekte ohne viel Dialog entwickeln möchten. Dem Aufwand, aus dem Abstandsgrün zwischen diesen Häusernbrauchbare Grünräume zu machen, werden sie sich zu entziehen versuchen. Einen echten Park, den Kurpark Oberlaa, hat man eh gleich nebenan.

Auch wenn der Trend zu punktförmigen Strukturen derzeit dominiert, gäbe es Alternativen, die für Bauträger vielleicht weniger bequem sind, dafür aber besseren Stadtraum liefern. Ein Beispiel für eine solche Alternative, die auf eine ältere Planung zurückgeht, wurde gerade fertiggestellt: „In derWiesen Süd“ baut auf einem städtebaulichen Wettbewerb auf, den das Büro Atelier 4 im Jahr 2009 gewonnen hat. Auch hier gab die Verlängerung einer U-Bahnlinie, der U6 nach Siebenhirten, den Anstoß zur Entwicklung. Harry Glücks Terrassenhäuser in Alt-Erlaa liegen eine Station stadteinwärts.

Am südlichen Rand des Planungsgebiets, wo ein großes Industriegebiet angrenzt, sieht der Plan von Atelier 4 eine geschlossene Bebauung vor, eine Art dreigeschoßige Stadtmauer mit höheren Quertrakten, die auf diese Mauer punktuell weitere drei bis vier Geschoße aufsatteln. Diese Geschoßanzahl gibt auch die Bauhöhe in der nächsten Reihe hinter der Mauer vor, die dann kontinuierlich nach Norden abfällt. Dabei sind zuerst Punkthäuser vorgesehen, die in hofartige, niedrigere Strukturen übergehen. Öffentliche Einrichtungen sind entlang einer grünen Achse im Zentrum auf die Erdgeschoße der Wohnbauten verteilt.

In einem Bauträgerwettbewerb, bei dem die Bauträger sich jeweils mit zwei Architektenteams bewerben mussten, erhielt die Heimbau mit den Architekten Artec und Dietrich∣Untertrifaller den Zuschlag fürrund ein Drittel der im Gebiet vorgesehenen 900 Wohneinheiten. Artec übernahmen den Entwurf für einen Teil der Stadtmauer, Dietrich∣Untertrifaller für die Punkthäuser. Die Gestaltung der Freiräume stammt von Auböck & Karasz.

Die Planer verständigten sich auf einige gemeinsame Prinzipien: Da die Wohnungen „smart“ sein mussten, was im Wiener Wohnbaujargon ein Euphemismus für „kleiner als bisher“ ist, sollten die Außenfassaden voll verglast sein, um die Räume größer wirken zu lassen. Umlaufende, 80 Zentimeter tiefe Loggien, die sich vor den Wohnräumen zu gut nutzbaren Balkonen mit einem Maß von 2,5 Metern im Quadrat erweitern, bieten Sichtschutz: bei Artec mit Brüstungen aus verzinkten Stahlgittern, deren grauer Farbton je nach Lichteinfall variiert, bei Dietrich∣Untertrifaller durch anthrazitgrau gestrichene Stabgeländer mit integrierten Blumentrögen.

Beachtung verdient vor allem die Art, wieArtec die Stadtmauer umgedeutet haben. Sie sehen die Straße zum Industriegebiet als positiv besetzten Stadtraum mit Bäumen und Radwegen, zu dem es zwar eine Kante, aber nicht unbedingt eine Barriere geben muss. Die Mauer ist daher durchlässig ausgebildet, einerseits, indem sie mit einem Spalt durchschnitten wird, der Durchblick ermöglicht und Licht hinter die Mauer fallen lässt, andererseits, indem im Bereich der Mauer erst ab dem ersten Stock gewohnt wird. Das aufgeständerte Erdgeschoß wird damit zu einer Erweiterung des Straßenraums, inklusive Stellplätzen für Pkw, die vorrangig Nahversorgern wie einer Apotheke und einem Supermarkt dienen sollen. Das Lager von Letzterem wurde mit einem künstlichen Hügel überschüttet, über den man von der Gartenseite her bis ins zweite Obergeschoß wandern kann, wo ein Laubengang alle Bauteile miteinander verbindet und eine zusätzliche, halb öffentliche Stadtebene erzeugt. Zu den Nachbarbauten gibt es einige herausfordernde Schnittstellen mit Niveausprüngen, die sich auch in den Wohnungen finden. Diese Sondertypen gehörten zu den ersten, die einen Käufer fanden.

Mit diesem Projekt haben die Architekten bewiesen, dass der geförderte Wohnbau in Wien imstande ist, höchste Wohnqualität und zugleich reichhaltige Stadträume zu schaffen – zumindest bis jetzt. Das Korsett wird aber immer enger, sowohl finanziell als auch durch verschärfte Bestimmungen im Brandschutz und in der Bauphysik, die nicht immer nachvollziehbar sind. Die sorgfältige Weiterarbeit am Gewebe der Stadt muss nicht teurer sein als der Aufmarsch freistehender Objekte im Abstandsgrün. Sie braucht aber deutlich mehr Präzision, Erfahrung und Einsatz, nicht zuletzt an der Schnittstelle zwischen der Stadtplanung auf der einen und der Gebäude- und Freiraumplanung auf der anderen Seite. Die Fördergeber haben es in der Hand, die Richtung vorzugeben.

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