Nach Hitler kam Bob Dylan – In Nürnberg stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem Nazi-Erbe

In Nürnberg werden Touristen in Bussen zum einstigen Reichsparteitagsgelände gefahren. Braucht es solche Stätten wie die baufällige Zeppelinbühne, die einem den Kitzel gönnt, dort zu stehen, wo «der Führer» gestanden hat?

Bernd Noack
Drucken
Das dem Pergamonaltar nachempfundene Zeppelinfeld war einer der ersten Bauten Albert Speers für die nationalsozialistischen Machthaber. (Bild: Roger Cremers/laif).

Das dem Pergamonaltar nachempfundene Zeppelinfeld war einer der ersten Bauten Albert Speers für die nationalsozialistischen Machthaber. (Bild: Roger Cremers/laif).

Auffällig drückt sich der junge Mann herum. Auf den endlosen Steinstufen der Tribüne vor dem Zeppelinfeld in Nürnberg, wo die Nationalsozialisten ab 1933 ihre monströsen Reichsparteitage abhielten, nähert er sich langsam dem Mittelpunkt des längst bröckelnden Bauwerks: Hier stand damals Adolf Hitler und sprach zu seinem Volk, hunderttausendfach vor ihm versammelt. Der Mann wähnt sich unbeobachtet und betritt die ehemalige Rednerkanzel. Eine Weile steht er dort unschlüssig, dann schiesst er schnell in irgendwie strammer Haltung ein Selfie von sich, einsam vor dem mächtigen Hintergrund. Und vor ihm nur der weite, leere, nackte Ort, über den scharf der Wind pfeift an diesem Wintermorgen.

Man kann solch ein Bild oft beobachten in Nürnberg, an dieser geschichtsträchtigen Stelle. Meist sind es in die Jahre gekommene Amerikaner, Veteranen auf gruseliger Sightseeingtour zum «in Stein gemeisselten monumentalen Wahnsinn», wie ein Reiseveranstalter diese Vergangenheitsbesichtigung bewirbt. In Bussen werden sie herangekarrt zum einstigen Reichsparteitagsgelände und gönnen sich den seltsamen Kitzel, einmal dort zu stehen, wo «der Führer» stand, auch wenn der Ausblick auf den Platz, wie es in einem Prospekt heisst, «sicher nicht (mehr) ganz so gigantisch wie zur damaligen Zeit» ist. Sie wenden sich dann um zur Fassade der Tribüne und blicken nach oben: Am 22. April 1945 sprengten amerikanische Soldaten nach einer Siegerparade das riesige, goldfarbene Hakenkreuz, das sich dort zentral befand, weg.

Die Nürnberger sind sich uneins

Seitdem steht der Bau, von Albert Speer nach dem Vorbild des Pergamonaltars entworfen, relativ unversehrt in der kahlen Landschaft. Freilich nagt der Zahn der Zeit an dem aus Beton und Ziegelsteinen erstellten, mit Muschelkalk verblendeten Monument nationalsozialistischer Selbstüberschätzung: Manche Stellen sind alles andere als tausend Jahre haltbar, wie die NS-Propaganda es prophezeite. Sie sind einsturzgefährdet und dürfen nicht mehr betreten werden. Trotzdem ist diese Tribüne heute eine der meistbesuchten touristischen Attraktionen, die Nürnberg zu bieten hat. Und nach dem Willen der Stadt soll das auch so bleiben.

Nur müsste eben etwas getan werden, damit die einschüchternde Kulisse demnächst nicht gänzlich in sich zusammenfällt. Oder sollte gerade das, der Verfall eines ideologisch kontaminierten Bauwerks, das von Größenwahn und absoluter Machtausübung zeugt, von Hybris und gleichzeitig doch auch vom brutalen Scheitern, die künftige, sinnvollere Bestimmung sein?

Seit Jahren wird in Nürnberg, der Kommune, die sich lange mit ihrer früheren Rolle als «Stadt der Reichsparteitage» schwergetan hat, über die Nutzung der architektonischen NS-Hinterlassenschaften leidenschaftlich diskutiert. Auf der einen Seite stehen, mit Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) an der Spitze, die Befürworter des originalgetreuen Erhalts: Sie unterstellen dem gesamten Gelände eine «praktische Erfahrbarkeit der Topografie», die die Wirkungsmechanismen nationalsozialistischer Propaganda und der dafür eingesetzten Architektur deutlich mache. Das Zeppelinfeld solle ein «Lernort» sein und bleiben. Daneben gibt es aber auch ganz unhistorische Argumente, die gegen einen baulichen Eingriff in dieser Gegend sprechen: Das Grundstück liegt in einem wichtigen Naherholungsgebiet; auf ihm werden unter anderem auch Rockkonzerte und Autorennen veranstaltet.

Nichtssagende Leere: Zeppelinfeld mit Blick auf die Haupttribüne. (BIld: Stefan Meyer)

Nichtssagende Leere: Zeppelinfeld mit Blick auf die Haupttribüne. (BIld: Stefan Meyer)

Gegner der Bewahrung der steinernen Relikte gehen mit ihrer Kritik weiter. Sie äußern überhaupt ihr Unbehagen an «einer scheinbar immer reibungsloser ablaufenden und unkritischen Gedenkkultur», und namentlich der Historiker Norbert Frei fordert: «Einstürzende NS-Bauten», also den wie auch immer kontrollierten Verfall des Gebäudes. Es wäre an der Zeit, so Frei, «einmal innezuhalten und sich zu fragen, wo man eigentlich hinwill mit dieser infrastrukturell immer weiter perfektionierten, gedanklich jedoch zusehends leerlaufenden Erinnerungspolitik, die keine Gegner mehr kennt, niemanden mehr berührt – und in Gefahr ist, bestenfalls noch gehobene Unterhaltung, medial gesprochen: Infotainment, zu produzieren.»

In einem Punkt treffen sich die beiden Fraktionen dann freilich: Sie erschrecken (und mit ihnen grosse Teile der Bevölkerung) über die gerade neu kalkulierten gigantischen Sanierungskosten in Höhe von 73 Millionen Euro. . .

«Schattenorte» der Nationalsozialisten

Es hat sich für städtische Problemzonen, wie das Zeppelinfeld eine darstellt, in jüngster Zeit ein Begriff eingebürgert: Man nennt sie «Schattenorte» und findet sie überall dort, wo die Nazis ihre architektonischen Spuren hinterlassen haben – in Weimar oder Berlin, am Obersalzberg oder eben in Nürnberg. «Schattenort», das klingt fast ein wenig poetisch für etwas, was der Historiker Martin Sabrow eine «heimliche Leitkategorie unserer Erinnerungskultur» nennt. Solche «Schattenorte» spiegeln, so Sabrow (in dem gleichnamigen Buch, erschienen im Wallstein-Verlag), «zum einen den Willen zur Vergangenheitsüberwindung durch politische Distanzierung, wissenschaftliche Erhellung und erkenntiskulturelle Aufbereitung», zum anderen aber nähren sie gleichzeitig «die Sehnsucht nach einer Vergangenheitsvergewisserung, die aus der Nähe zum Gestern identitätsstiftende Geborgenheit bezieht». In diesem Sinne versuchen die Kommunen oft verzweifelt, ihr Stadtimage und den Umgang mit Vergangenheitslasten irgendwie in – naturgemäss widersprüchlichen – Einklang zu bringen.

Diese «Orte der Schande» (gemeint sind nicht etwa die Stätten des Mordens, sondern die Monumente der Macht) sind längst schon eingespeist in das touristische Hauptprogramm der Städte und gelten als lukrative Anziehungspunkte. Aber kann man ihnen daher noch wirkliche Aufklärungsfunktion attestieren? Findet kritische Auseinandersetzung statt? Oder geht es tatsächlich nurmehr um «geschichtstouristische und symbolpolitische Vermarktung»?

Alexander Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am hervorragend konzipierten und jährlich von 250 000 Menschen besuchten «Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände» in Sichtweite der Tribüne. Mit seiner umfangreichen historischen Darstellung quasi ein aufklärendes Regulativ für die Sinnentleertheit des ganzen Un-Ortes. Schmidt bemerkt nicht ohne Zynismus, wie in touristischen Pauschalangeboten die Besuche der historischen Stätte in Nürnberg gleichgesetzt werden mit dem Christkindlmarkt und der Biergeschichte.

Doch auch er zeigt sich unentschlossen, wie künftig mit dem Erbe umzugehen sei. Das Belassen als mahnende Ruine sieht er skeptisch: «Diese grosse Geste der Zerstörung, das symbolische Besiegen eines nationalsozialistischen Baus durch Verfall, erscheint so viele Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus (. . .) wenig schlüssig. Der Blick über den Zaun auf eine romantisch überwachsene Ruinenlandschaft kann eigentlich nicht die Antwort des 21. Jahrhunderts auf diese Architektur und die Geschichte der Reichsparteitage sein.» Andererseits dürfe aber auch die braune Vergangenheit Nürnbergs nicht in einem vermarktbaren Stadtimage aufgehen. Vielmehr müsse man das Zeppelinfeld als Areal ernster nehmen, es demokratisch besetzen und dies auch deutlich zeigen: nicht durch den Totalverfall, «aber vielleicht durch ein architektonisches Zeichen oder eine besondere Umgangsweise mit dieser Architektur», so Schmidt.

Im Innenraum der Zeppelintribüne, dem Goldenen Saal, 2015. (Bild: Stefan Meyer)

Im Innenraum der Zeppelintribüne, dem Goldenen Saal, 2015. (Bild: Stefan Meyer)

Entscheidungsnotstand allenthalben. Und verunsichert ist man ja schliesslich auch selber, wenn man die Stufen der Zeppelintribüne betritt, ihre 360 Meter Länge abschreitet, von hoch oben über ein Feld blickt, auf dem vor 85 Jahren Menschen in Reih und Glied den rechten Arm zum Hitlergruss emporstreckten, auf dem aber vor genau 40 Jahren auch Bob Dylan stand und vor nicht viel kleineren Massen von veränderten Zeiten sang. Die Profanierung des Geländes vollzog sich ohne Probleme, irgendwie stillschweigend. Schwieriger wird es schon, wenn aus einem Baudenkmal von zweifelhaftem Wert auf einmal mit dem verbissenen Willen zur unzweifelhaften Gesinnung ein Mahnmal gemacht werden soll.

Was der Lernort lehren kann

Denn was sagt uns dieser Bau heute, und was lehrt uns dieser «Lernort» eigentlich? Ein Haufen gefährlich bröckelnder Steine, das dürftige, architektonisch lächerliche, auseinanderfallende Imitat eines antiken Kunstwerks – es ergibt nur einen Sinn, wenn man sich die Szenerie von damals dazu vorstellt. Aber was nutzt uns das? Das leere Gebäude ist nur schiere Grösse, es protzt heute mit Sprachlosigkeit. Denn es erzählt nichts über die Anfälligkeit der fanatisch jubelnden Massen, nichts vom blinden Gehorsam, mit dem die Vernichtung von Millionen gebilligt und vorangetrieben wurde, nichts von den menschenverachtenden Beweggründen der Funktionäre, die sich hier in Jubel und gleissendem Scheinwerferlicht sonnten, wo man sich nun Jahrzehnte später verunsichert an einen «Schattenort» zurückzieht. Diese Steine der Täter am Ort ihrer Triumphe schweigen dumpf und verstockt – im Gegensatz etwa zu den dünnen Mauern der KZ-Baracken in Buchenwald oder Auschwitz, zwischen denen die Stille von den Leiden der Opfer unentwegt erzählt.

Im Inneren, genau in der Mitte der Zeppelintribüne, befindet sich noch immer der unversehrte sogenannte «Goldene Saal». Acht Meter hoch ist der Raum mit seinen über 300 Quadratmetern. Wenn die ganz oben hinter umlaufenden Verblendungen angebrachten Leuchtkörper angehen, fällt der Blick in ein diffus helles Nichts. Die Schritte verhallen, jedes Wort, das man spricht, bricht sich an den Wänden und kehrt für einen winzigen Moment wie ein fremdes Echo zurück. Sehr klein fühlt man sich hier, aber da ist nichts, nur die hohle Grösse und erdrückende Höhe.

An der Decke ein Mosaik mit antikisierenden Stilelementen: mäandernde Ornamente, in denen sich ineinander verschlungene Hakenkreuze ausmachen lassen, durchbrochen von silbernen Sternen, die wie ein eingefrorenes Feuerwerk blitzen. Glanz und Gloria, ein stummer Paukenschlag oder endloser Trommelwirbel, ein Raum, geschaffen für Pomp und Ehrfurcht, für Popanze und Angst.

Wenn aber das Licht gelöscht wird, scheint die riesige Halle auf einmal zu schrumpfen, verliert auf einen Schlag ihr imponierendes Gehabe und bleibt zurück wie ein nutzloser Abstellraum für Irrtümer. So wie einem nun draussen das ganze Zeppelinfeld nur noch wie eine Müllhalde fataler Grösse und konservierter Ratlosigkeit vorkommt.