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anthos 2018/01
Schweizer Bauerngärten
anthos 2018/01
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Ein einziger grosser Gemüsegarten aus Hügeln und Tälern

Die traditionelle Tessiner Landwirtschaft zeichnete sich durch kleine Anbaubetriebe für Nahrungspflanzen aus, deren zahlreiche mit Mischkulturen bewirtschaftete Kleinparzellen die Region in einen einzigen grossen Gemüsegarten verwandelten. Durch die Ausdehnung von Siedlungen und eine ungeordnete Wiederaufforstung erlebte die Kulturlandschaft im Laufe der letzten siebzig Jahre eine regelrechte Banalisierung.

23. Februar 2018 - Daniele Ryser
Die Tessiner Landwirtschaft wurzelte auf kleinen Betrieben für den Anbau von Nahrungspflanzen, deren Anbauflächen sehr zersplittert und deren zahlreiche Parzellen oftmals über das gesamte Gemeindegebiet verstreut waren. Die landwirtschaftliche Produktion reichte nicht aus, um den Bedarf einer ganzen Familie zu decken, sodass die meisten Männer gezwungen waren, die Heimat mehrere Monate im Jahr zu verlassen, um in verschiedenen Städten Europas Arbeit zu finden. Die Anzahl fruchtbarer Flächen war im Tessin sehr beschränkt. Die topografischen Gegebenheiten mit Hügeln und Bergen, gepaart mit einer von sehr ausgiebigen Regenfällen charakterisierten Niederschlagsverteilung, zwang die Menschen, an den Hängen Kulturterrassen anzulegen, um sie überhaupt bewirtschaften zu können. Je nach Hang und Struktur des Bodens wurden Kulturterrassen durch Modellierung des Geländes oder durch Trockenmauern gebildet.

Die beschränkte Verfügbarkeit produktiver Böden erforderte eine intensive Nutzung. Bevorzugt wurden Mischkulturen, welche auch durch die extreme Zersplitterung des Besitzes begünstigt wurden. Auf allen kultivierbaren Flächen waren im Grunde Gemüsegärten angelegt worden, auf denen die typischen Pflanzenarten des Ackerbaus (beispielsweise Roggen, Mais, Weizen) sowie Gemüse angebaut wurden. Weinreben, Maulbeerbäume (zur Fütterung der Seidenraupen) und einige Obstbäume füllten die Freiräume am Rande der Parzellen aus und überragten manchmal die Kulturen (als Laubengänge). Diese Struktur mit vielfältigen Kulturen wiederholt sich auch in unmittelbarer Nähe der Dörfer und auf den eingezäunten Parzellen innerhalb der Dörfer.

Die Tessiner Landschaft entstand demnach auf der Grundlage einer intensiven landwirtschaftlichen Bodennutzung, die sich fast über die gesamte Fläche bis auf 2500 Meter Höhe erstreckte. Kultivierte und terrassierte Grundstücke wechselten sich mit Kastanienhainen ab, die als Weiden und Wiesen genutzt wurden. Lediglich die weniger zugänglichen Flächen blieben bewaldet (Misch- oder Niederwald). Oberhalb von 1000 bis 1500 Metern wurde das Land durch saisonale Wanderweidewirtschaft genutzt (Maiensässe und Almwiesen). Diese vor über 2000 Jahren entstandene landwirtschaftliche Praxis integrierte verschiedene Höhenlagen und prägte die Tessiner Landschaft bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts entscheidend.

Radikale Änderung vor siebzig Jahren

Ab 1950 begann der grosse Garten rund um die Dörfer und kleineren Städte an Bedeutung zu verlieren. Die Gründe liegen in der Landflucht und der Aufgabe landwirtschaftlicher Flächen, versursacht durch Industrialisierung und Tertiärisierung in den Ballungszentren des Tessins. Seit den 1950er-Jahren vollzog sich aufgrund fehlender spezialisierter und mechanisierter Betriebe sowie durch eine sehr starke Ausweitung der Bauaktivitäten – sei es im Bereich des produzierenden Gewerbes oder der Erst- und Zweitwohnungen – eine massive Aufgabe landwirtschaftlicher Flächen.

In den 1970er-Jahren lagen die Dörfer inmitten von vollständig brachliegenden landwirtschaftlichen Flächen, auf denen sich schnell Dornen und Gestrüpp breitmachten. Darauf folgte eine Wiederaufforstung mit nicht immer einheimischen Arten. Auf diesen Flächen kam es oftmals zu Bränden.

Zwischenzeitlich erreichte der Baumanteil im Tessin die höchste Rate in der gesamten Schweiz. Zusammen mit der unstrukturierten Entwicklung der Siedlungen führte dies verstärkt zum Verschwinden der traditionellen anthropogen geprägten Landschaft.

Erst zu Beginn der 1980er-Jahre kristallisierte sich ein gewisses Bewusstsein in Bezug auf die ­Notwendigkeit der landschaftlichen Pflege des Gebiets heraus. Auf institutioneller Ebene hatten die Unterstützungsmassnahmen für die Landwirtschaft bedeutsame Auswirkungen, insbesondere in den Alpentälern.

In den etwas entfernteren Randgebieten trugen die neu zugezogenen «Neo-Ruralen» zur Aufwertung der ländlichen Gegenden bei, und es ist davon auszugehen, dass sie langfristig auch das Bewusstsein der Tessiner Bevölkerung für ihre Kulturlandschaften sensibilisieren.

Seit einigen Jahren hat das Thema Gemüsegarten selbst Eingang in den Schulunterricht gefunden. Man beginnt ausserdem, von nachhaltigem Gartenbau zu sprechen (beispielsweise durch Permakultur).

Erzeugnisse des Tessiner Bauerngartens

Die Produkte aus den Tessiner Gärten unterscheiden sich wenig von denen anderer Schweizer Regionen. Der Gemüsekorb enthält stets Zwiebeln, Möhren, Knoblauch, Mangold, grüne Bohnen, Gurken und Zucchini sowie Tomaten und Auberginen. Dicke weisse Bohnen und Grünkohl sind unverzichtbar für eine richtige Minestrone, die traditionelle Gemüsesuppe, die zum Grundnahrungsmittel der Bauernfamilien zählt. Bei den Salaten setzen sich die Endivien gegenüber allen anderen Salatsorten durch. Die Hausgartenrebe (Americano- oder Tessiner-Rebe) sowie einige Obstbäume (insbesondere Pfirsich- und Feigenbäume) sind fast immer vorhanden.

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

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