Wo bleiben die guten Ideen der jungen Architekten?

Die junge Generation versucht sich an Europas Zukunft. Die vorgestellten Visionen können einen das Fürchten lehren.

Manuel Müller
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Im Europa der Zukunft badet keiner mehr im Mittelmeer. Zwar liegen die Strände unter einer heisseren Sonne. Doch nur wenige Touristen bringen noch den Mut auf, den Fuss in den Sand zu setzen. Selbst die Flüchtlinge meiden ihn. Da, wo die Leute früher in kleinen Cafés ein Bier tranken – steht nun die EU-Aussengrenze: eine gigantomanische Grenzmauer. Der Streifen zwischen Meer und Mauer ist zum Niemandsland geworden. Genau wie die Grenze zwischen Schweden und Russland, dort durchschneidet ein klaffender Betongraben die arktische Tundra. Ähnliches findet sich auf dem Balkan; auf einem Wachturm schiebt ein Grenzwächter gelangweilt Dienst – und sieht den Esel nicht, der zu seinen Füssen dahinstolpert . . .

Eine Gruppe junger österreichischer Architekten zeigte diese Bilder kürzlich auf der «Future Architecture Platform» in Ljubljana. Dort treffen sich europäische Architekturinstitutionen – und stellen sich die Frage: Wie sieht die europäische Architektur der Zukunft aus? Zugegeben, diese Frage drängt in einem Europa, dem kaum Aufregenderes einzufallen scheint als: dieselfreie Innenstädte und die endlose Verstädterung zwischen Manchester und Milano. Mittels Ideenwettbewerb holt «Future Architecture Platform» die neuste Generation nach Slowenien. In einem alten Schloss präsentieren die jungen Architekten ihre besten Projekte und Ideen. Dabei lauschen ihren Vorträgen Museums-, Event- und Hochschulvertreter aus ganz Europa – angereist von der Architektur-Triennale Lissabon, dem Schweizerischen Architekturmuseums oder dem Strelka-Instituts in Moskau.

Hoffnungsvolles Scheitern der Architektur

Verstädterung, demografischer Wandel, industrieller Niedergang, Klimawandel – die Herausforderungen, mit denen sich Europa konfrontiert sieht, sind enorm und meist konkreter als die eingangs geschilderte Grenzposten-Dystopie: An der Adria häufen sich verlassene Touristensiedlungen, in Deutschland greift die Landflucht um sich, die Plattenbauten verfallen. In Kosovo und in der Schweiz wuchert die Agglomeration, Rechtspopulisten ziehen Mauern um ihre Häuser.

In den Augen junger Architekten könnte so die Zukunft Europas aussehen. Zwischen Skandinavien und Russland imaginiert das «TAB Collective» einen Betongraben. (Bild: zVg / TAB Collective)

In den Augen junger Architekten könnte so die Zukunft Europas aussehen. Zwischen Skandinavien und Russland imaginiert das «TAB Collective» einen Betongraben. (Bild: zVg / TAB Collective)

Kein Wunder, dass man in Ljubljana den Architekten als Aktivisten versteht. Aber auf die nächste Le-Corbusier-Generation trifft man hier leider trotzdem nicht: Im Alltag sehen sich die jungen Architekten eingeschränkt von den üblichen Problemen. Sie reden von ökonomischen Zwängen, Willkür der Bauherren, ideenloser Ausbildung und mangelnder Kreativität. Dem versuchen sie ihre netten, aber bescheidenen Ideen entgegenzuhalten: Blockchain-basierte Eigentumsverhältnisse preisen sie als Mittel gegen die Gentrifizierung. Industriebrachen wollen mit Happenings beleben, sie bauen Apps für die lokale Selbstversorgung mit Strom, zielen auf den Amateurhandwerker, der mit Youtube baut. Wird das unsere Zukunft sein?

Schweizer Ideen für Russland

Die Verschränkung von Problem und Chance sowie die fehlende Vorstellungskraft kritisierte Anastassia Smirnova, Programmdirektorin am Strelka-Institut, gleich in ihrem Eröffnungsvortrag. Russland braucht in den kommenden Jahren neue Wohnbauten für rund 30 Millionen Einwohner. Das entspricht fast einem Viertel der russischen Bevölkerung. Putin kündigte kürzlich an, bis 2025 müssten pro Jahr 120 Millionen Quadratmeter für 5 Millionen Familien gebaut werden. Allein in Moskau verlieren mit dem Abriss der Chruschtschowski-Plattenbauten aus den fünfziger und sechziger Jahren 1,6 Millionen Einwohner ihre Wohnungen.

Angesichts solcher Zahlen startete Strelka auch einen offenen Ideenwettbewerb. Gesucht war ein neuer Standard für den russischen Wohnungsbau. Die Ergebnisse enttäuschten Smirnova. Die Hochschule erntete generische Visionen nach Schema F. Laut Smirnova nahmen die eingereichten Projekte kaum Rücksicht auf die örtlichen Gegebenheiten, historische Zusammenhänge, gesellschaftliche Gepflogenheiten. Das kommunale Wohnen der Sowjetzeit oder die Lagererfahrung, die selbst nach dem Ende des Kommunismus noch ein Fünftel der russischen Männer machen – sie fanden in den Entwürfen keinen Eingang. Die eingereichten Projekte könnten überall stehen.

Die Avantgarde sollte mehr bieten

Als Gegenbeispiel zog Smirnova einen Schweizer Genossenschaftsbau heran. Die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich vereinigt in ihren Augen, was den Projekteingaben in Russland abgehe: lokales Engagement, innovative Eigentumsstruktur, neues gemeinschaftliches Wohnen, Zusammenarbeit von öffentlicher Hand und Privaten, diverse Nutzung auf kleinem Raum. Es ist erstaunlich, dass in Ljubljana über die Zukunft der europäischen Architektur diskutiert wird und dabei ein Zürcher Bau als Leuchtturmprojekt geadelt wird. Gerne würde man das als Zeichen für die Grösse der Schweizer Architektur deuten, aber es wirkt eher wie ein Armutszeugnis. Eine europäische Avantgarde jedenfalls sollte doch mehr zu bieten haben.

Die österreichischen Architekten von «TAB» machen Albträume wahr: Auf der «Future Architecture Platform» in Ljubljana zeigten sie ihre Vision der künftigen Grenzen Europas. – In der arktischen Tundra zwischen Russland und Skandinavien imaginieren «TAB» einen klaffenden Betongraben. (Visualisierung: PD)
5 Bilder
Über kargen Alpentälern thronen künftig einsame Trutzburgen. (Visualisierung: PD)
Die Strände des Mittelmeeres werden zu entvölkerten Streifen zwischen Wasser und Mauer. (Visualisierung: PD)
Keinen Blick ist der Esel vor dem Wachturm im Balkan wert. (Visualisierung: PD)
Lichter und ein Tor zeigen nach einem Zerfall Grossbritanniens die Grenze zwischen England und Schottland an. (Visualisierung: PD) Zum Artikel

Die österreichischen Architekten von «TAB» machen Albträume wahr: Auf der «Future Architecture Platform» in Ljubljana zeigten sie ihre Vision der künftigen Grenzen Europas. – In der arktischen Tundra zwischen Russland und Skandinavien imaginieren «TAB» einen klaffenden Betongraben. (Visualisierung: PD)

Wegen Klimawandel und Flüchtlingen in Europa die drohende Apokalypse heraufzubeschwören, bringt die Gefahr, sich lächerlich zu machen. Der kroatische Gastredner Srecko Horvat erinnerte berechtigterweise daran: Was den einen droht, ist anderenorts bereits Realität. Dem Sahel und in Kapstadt geht das Wasser schon heute aus, den Malediven und Bangladesh steht es bis zum Hals. Gut, treffen sich Architekten mitten in Europa und fragen: What about the future? Auch wenn die Antworten 2018 noch spärlich ausfallen – nächstes Jahr fragt die «Future Architecture Platform» erneut danach.