In London sind die Grenzen zwischen öffentlichem Raum und privatem Platz fliessend geworden

Immer mehr öffentliche Plätze werden in London privatisiert. Ist das ein Ausverkauf an demokratischen Rechten oder ein Zuwachs an Freiheit? – Eine Erkundungstour.

Marion Löhndorf
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In London verschwimmen langsam die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Grund. (Bild: Reuters)

In London verschwimmen langsam die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Grund. (Bild: Reuters)

Sie trinken Kaffee unter Jalousien, lehnen mit ihren Zigaretten oder Bieren vor den Pubs: In englischen Städten hat sich der Aufenthalt im Freien durchgesetzt. Auch bei kühleren Temperaturen – Engländer kennen kein Frieren, oder sie geben es nicht zu. Italienische Lebensart wird hier auf eigene Weise interpretiert. Ob bei Sonne oder Regen: Auf der Insel sind Ausläufer kontinentalen Lebensgefühls längst angekommen. Auch wollen die Menschen vielleicht einfach öfter wieder den Blick vom Computerbildschirm heben und die wirkliche Welt intensiver erleben.

Das bedeutet auch, dass der Aufenthalt im Freien auf den Trottoirs, den Strassen und Plätzen immer wichtiger wird. Kaum jemand aber fragt sich dabei, auf wessen Grund und Boden er gerade unterwegs ist. Wir glauben, die Strassen gehören allen. In Wirklichkeit ist in den vergangenen Jahrzehnten jedoch fast jedes grosse Stadtentwicklungsprojekt mit der Privatisierung von öffentlichen Plätzen einhergegangen: einschliesslich der Flächen um das Olympiastadion und des Sitzes des Bürgermeisters selbst, der City Hall. Die Freifläche vor dem Bürgermeistersitz gehört dem Land Katar. Diese fast unsichtbare Entwicklung wird in den kommenden Jahren dramatisch zunehmen. Findet sie Fürsprecher oder Gegner? Und welche Auswirkungen wird sie auf die Gemeinschaft haben? Experten haben da sehr verschiedene Ansichten.

Zwischen privat und öffentlich

«Manchmal ist es nur eine Messingplanke im Boden, die diskret darauf hinweist, dass man dort die Schwelle von der Stadt London zu Privatbesitz überschreitet. Die Stadtreinigung weiss dann, bis wohin sie zuständig ist», beschwert sich Landschaftsarchitekt Günther Vogt, dessen Schweizer und Londoner Büro für die Gestaltung und Begrünung des Platzes vor der Tate Modern zuständig waren und der Professor für Landschaftsarchitektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich ist. Er selbst bekam die Undurchsichtigkeit der Verhältnisse am eigenen Leib zu spüren. Bei der Recherche für ein neues Projekt in London erteilten ihm Sicherheitskräfte auf einem Gelände, das er für öffentlichen Raum gehalten hat, ein Fotografierverbot.

Die Grenzen zwischen öffentlichem Raum und privatem Platz sind oft fliessend geworden, trotzdem gelten auf diesen Flächen andere Gesetze: Die neuen Besitzer können Proteste und Demonstrationen verhindern, die Redefreiheit verwehren und potenziell lästige Mitbürger wie Fahrradfahrer, Skateboarder, Strassenmusiker und Obdachlose ausschliessen. Privat angestelltes Wachpersonal kümmert sich um die Einhaltung dieser Regeln, über die sich aber überraschenderweise nicht alle beschweren – in unserem Zeitalter der Angst verheissen sie Sicherheit: In London und ganz Europa werden die ohnehin schon knappen Freiflächen noch zugebaut mit Pollern und Betonschwellen, um sie gegen Terrorismus zu sichern.

Patrik Schumacher, Architekturtheoretiker und Direktor des Londoner Architekturbüros Zaha Hadid, vermutet, dass viele Besucher und Passanten, anrainende Geschäfte und Gewerbetreibende sich mehr Sicherheit im öffentlichen Raum sogar wünschen. Denn Security-Guards auf Plätzen verursachen Kosten für die Betreiber: «Vielleicht ist es sogar suboptimal, dass es anderswo weniger Sicherheitskräfte gibt.»

Kein Geld

Günther Vogt bleibt trotzdem skeptisch gegenüber diesen neuen Entwicklungen:«Die Stellvertreter der Bürger, die wissen, was die Menschen in ihrem Bezirk brauchen, gibt es nicht mehr.» Für lokale Verwaltungen in London sei das Budget extrem zurückgefahren worden, so Vogt. Stattdessen sprängen private Immobilienentwickler in die Bresche, denen die Bedürfnisse der Anlieger fremd seien. Dabei redet Vogt nicht nur von Problembezirken, sondern auch von Wohnvierteln für die Mittelklasse. Jim Eyre vom Architekturbüro Wilkinson/Eyre, zuständig für die künftige Neugestaltung von Londoner Bahnhöfen wie Euston und Liverpool Street, fasst zusammen: «Die Lokalbehörden haben kein Geld, und sie haben auch kein Geld, die Plätze zu pflegen und zu unterhalten.»

Spricht deshalb nicht doch einiges für die Übernahme des öffentlichen Raums durch private Betreiber? «Sie haben mehr Geld für bessere Materialien, bessere Sitzgelegenheiten und bessere Bepflanzung», zählt Jim Eyre auf. Die öffentliche Hand diktiere bestimmte Materialien, die später leicht zu ersetzen seien. Darum müssen sich Privatleute mit grösseren finanziellen Ressourcen nicht kümmern. Im Design gebe es ebenfalls mehr Freiheit. Auch Patrik Schumacher begrüsst die Entwicklung: «Bei den jetzigen öffentlichen Plätzen gibt es die Idee, dass für den Durchschnittsbürger ein gemeinsamer Nenner da sein muss, indem man sie auf eine bestimmte, vereinheitlichende Weise reguliert, anlegt und möbliert. Ich vermute, dass man mehr experimentieren und variieren kann, wenn private Anbieter einsteigen.»

Immer schon gab und gibt es in London eine Grauzone semi-öffentlicher Bereiche, die georgianischen Plätze in wohlhabenden Bezirken zum Beispiel, die nur von den Bewohnern der umliegenden Häuser genutzt werden können. Einige der jüngst privat gestalteten öffentlichen Plätze, die keine sind, waren vorher überhaupt nicht zugänglich, sondern Industriebrachen: Canary Wharf, King‘s Cross und Paddington. Privatisierung öffnet also im besten Fall Aussenräume, fördert die Qualität, Kreativität, Vielfalt im Design und mehr Sauberkeit und Sicherheit – wenigstens für die, denen der Zutritt erlaubt ist.

Politischer Widerstand

Und doch gibt es entschiedenen politischen Widerstand gegen den Ausverkauf des öffentlichen Raums in der englischen Hauptstadt, getrieben von einem Gefühl zunehmender, von der Wirtschaft getriebener und von der Politik und den Bewohnern der Stadt nicht mehr steuerbarer Fremdbestimmung. Der Autor Bradley L. Garrett beschreibt die Privatisierung von öffentlichem Raum als einen «Angriff auf unsere fundamentalen Bügerrechte» und meint warnend, dass der Ankauf von öffentlichem Eigentum ein rasant fortschreitender Prozess sei. «Öffentliche Plätze sind die Organe einer gesunden Stadt», sagt er, «Bühnen für soziale und politische Partizipation.» Sie dürften keinesfalls auf Immobilienware reduziert werden.

Das findet auch Claudia Schwalfenberg, die Verantwortliche für Baukultur beim Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein. Sie erinnert daran, dass der öffentliche Raum in Europa ein wichtiger Teil des Gemeinwesens sei, in dem nicht nur in der Vergangenheit öffentliche Angelegenheiten geregelt wurden: «Heute, mit einer wachsenden Kultur der Nutzung von Aussenräumen in Städten, in denen immer mehr Verdichtung stattfindet, werden gut gestaltete Freiräume immer wichtiger. Auch als Gegenpol zum virtuellen Raum des Internets mit seiner viel stärkeren Zielgruppenorientierung.» Auf Plätzen und Strassen, die für alle zugänglich sind, seien Zufallsbegegnungen möglich, die auch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen zulassen: Das sei toleranz-, aber auch innovationsfördernd: «Denn Innovation bedarf auch immer des anderen.» Auch hier gibt es Einspruch von der Gegenseite: «Es muss ja nicht jeder alles überall machen können, kann er sowieso nicht», findet Patrik Schumacher und schlägt «Plätze für Hippies, andere für Familien oder Subkulturen» vor mit ihren je eigenen Regelwerken. «So wie es ja auch verschiedene Bars und Restaurants gibt für verschiedene Gruppen.»

Claudia Schwalfenberg – und mit ihr die Gegner der Privatisierung –sieht genau da die grösste Gefahr: «Wenn jeder seinen Einzelinteressen nachgeht, lebt sich eine Gesellschaft auseinander, dann werden Städte unsicherer. Dann geht viel an Lebensqualität verloren und viel von dem, wie wir uns als demokratische Gemeinschaft verstehen.» Die Frage ist auch: Werden wir künftig nur noch als Gäste von Privatleuten oder als Kunden unterwegs sein, immer auf der Hut vor Regeln, die wir nicht kennen – und kaum mehr als mündige Bürger? Jim Eyre, ein Fürsprecher der Privatisierung, sagt: «Die Privatisierung der Plätze verstärkt das Gefühl von ‹us and them› – ‹wir und die anderen›. Das ist die Sorge.» Sie ist berechtigt.