Zeitschrift

TEC21 2018|12-13
La Seine Musicale
TEC21 2018|12-13
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Preziose auf Betonfuss

25 Jahre nachdem dort der letzte Renault vom Band rollte, hat die bei Paris in der Seine gelegene Île Seguin eine neue Funktion: Im Frühjahr 2017 wurde nach dem Entwurf von Shigeru Ban und Jean de Gastines das Musikzentrum Seine Musicale eröffnet. Blickfang ist das Auditorium aus Glas und Holz.

23. März 2018 - Hubertus Adam
Nach Museen und Bibliotheken sind es in den letzten Jahren verstärkt neu gebaute oder eingerichtete Konzert­gebäude, die als kulturelle Ikonen und urbane Leuchttürme gelten. Die Hamburger Elbphilharmonie war nur die Spitze des Eisbergs. Ein Blick allein auf Polen und Deutschland: Kattowitz und Stettin, Dresden, Berlin und selbst das Dorf Blaibach im Bayerischen Wald erhielten in den letzten drei Jahren spektakuläre neue Musiksäle, in München konnte sich unlängst das Bregenzer Büro Cukrowicz Nachbaur mit seinem Entwurf für das neue Konzerthaus durchsetzen. Für prognostizierte 360 Mio. Euro wird einer der teuersten zeitgenössischen Kulturbauten der Bundesrepub­lik Deutschland errichtet.

In der Metropolitanregion Paris sind in dichter Folge gleich drei neue Konzertsäle entstanden: 2014 das Auditorium von AS Architecture Studio in der Maison de la Radio, 2015 die Philharmonie von Pritzker-­Preisträger Jean Nouvel am Parc de la Villette und 2017 die Seine Musicale von den Architekten Shigeru Ban und Jean de Gastines auf der Île Seguin. Die in der Seine gelegene Insel gehört zum südwestlichen Vorort Boulogne-Billancourt und beherbergte bis vor einigen Jahren einen der eindrucksvollsten Industriekomplexe Europas.

Volumen mit verschiedenen Funktionen

Von der Metro-Endstation Pont de Sèvres her kommend passiert man zunächst die 1979 fertiggestellte Grossüberbauung Quartier Pont-de-Sèvres, die sich mit ihrem Parkhaussockel wie ein Sperrriegel Richtung Fluss schiebt, und dann das «Trapèze» genannte Areal des ehemaligen Renault-Werks. Hier wurde in den vergangenen Jahren um den zentralen, von Agence TER geplanten Parc de Billancourt ein vollständig neues Wohn- und Geschäftsviertel aus dem Boden gestampft, das in Blockstrukturen gegliedert ist; aus der Schweiz sind auch Meili Peter sowie Diener & Diener mit Bauten vertreten. Jean Nouvels Tour Horizons fungiert als vertikale Dominante an der zentralen Achse, in deren Fortsetzung der Fussgängern vorbehaltene Pont Renault auf die Île Seguin führt.

Während der grösste Teil der 11.5 ha messenden Insel noch der Bebauung harrt, erstreckt sich die Seine Musicale von der Brücke aus Richtung Norden und füllt mit ihrem keilförmigen Grundriss von 280 m Länge die gesamte Inselspitze aus. Wände aus hellem Sichtbeton, in die diverse Öffnungen eingeschnitten sind, umhüllen das komplexe Raumprogramm und vereinheitlichen das Volumen, das auf einer breiteren Terrassensub­struktion aus dunkelgrauem Beton ruht.

Wohlwollend mag man diese Gesamtkonfiguration als Reminiszenz an die steinerne Fabrikinsel verstehen; auf architektonisch überzeugende Weise bewältigt wurden die schieren Baumassen jedoch nicht. Das gilt insbesondere für den eigentlichen Vorplatz an der der Insel zugewandten Schmalseite: Zu den mächtigen Betonmauern treten hier die Glasfronten der Eingangsbereiche; eine Freitreppe pharaonischen Zuschnitts führt hinauf zur Dachlandschaft, die als öffentlicher Park gestaltet wurde, und auf einem Riesenscreen werden die Veranstaltungen angezeigt. Er kann auch dazu genutzt werden, die Events auf den Vorplatz zu übertragen.

Ein riesiges Glas­portal, 12 m breit und 10 m hoch, wird zu den Veranstaltungen aufgeklappt und emporgefahren, sodass die Besucherinnen und Besucher direkt in das Foyer eintreten können. Von hier gelangt man in die verschiedenen Sektoren des grossen Saals «Grande Seine», der primär auf Rock- und Popkonzerte zugeschnitten ist und je nach Verhältnis von Sitz- und Stehplätzen zwischen 4000 und 6000 Besucher aufzunehmen vermag. Der steil ansteigende Zuschauerraum ist fächerförmig dimensioniert, sodass eine grösstmögliche Nähe zur Bühne entsteht. Diese gilt mit 35 m Breite, 40 m Tiefe und 17 m lichter Höhe als die grösste Frankreichs. ­Hydraulische Hubelemente erlauben es im Sinn einer salle modulable, unterschiedliche Bühnenkonfigura­tionen umzusetzen. Helle Stühle bestimmen das Bild des robust anmutenden Zuschauersaals, die Wände sind verkleidet mit einer schwarz-grauen Schachbrettstruktur aus Akustikelementen; der Saal wurde von Nagata Acoustics für die Darbietung elektronisch verstärkter Musik optimiert.

Vom Foyer der Grande Seine aus durchmisst die Grande Galerie auf einer Länge von 230 m das gesamte Gebäude. Diese innere Mall wird von Shops und Restaurants flankiert, erlaubt durch Fenster Einblicke in die tiefer liegenden Proberäume oder Aufnahmestudios und führt schliesslich zu einem weiteren Foyer, von dem man über Rolltreppen nach oben zum Auditorium befördert wird, dem Saal für klassische und zeitgenössische Musik mit 1150 Plätzen.

Dieser Raum ist die eigentliche Preziose der Seine Musicale: Das Volumen des Konzertsaals ist umhüllt von einer Tragwerkstruktur aus sich wabenförmig schneidendem Brettschichtholz, die aussen verglast ist und aus der Ferne wie ein gigantisches Ei erscheint, das auf dem breit gelagerten, sich Richtung Norden abtreppenden Betonsockel ruht. Die segelartig wirkende, mit 800 m² Solarzellen beplankte Metallstruktur, die sich auf Schienen um den Saal her­um bewegt, steigert die Ikonizität.

Meister des kleinen Formats

Die Rohheit des Sockels weicht, sobald man in den ­Wandelgängen zwischen der gläsernen Haut und dem Volumen des Auditoriums steht, der Liebe zum Detail. Irisierende Fliesen schaffen in den organisch fliessenden Aufgängen eine geheimnisvolle Atmosphäre, die Ausblicke auf die Hügel von Meudon oder auf den Trapèze und Paris in der Ferne sind fantastisch. Und dann das Auditorium: Wabenförmige Akustikelemente aus Abachi-Holz und Pappröhren bilden die ondulierend geschwungene Deckenuntersicht, eine geflochtene Textur von Buchenholzstreifen umspielt die Wände, die rot bezogenen Stühle bestehen aus hölzernen Wangen, in die Pappröhren für Sitzmulden und Lehnen eingelassen sind. Die Atmosphäre ist sinnlich, warm, intim; die Anzahl der Zuschauerplätze beträgt nur etwa die Hälfte der gros­sen Säle, wie sie in der Pariser Philharmonie oder in der Elbphilharmonie entstanden sind. Der ebenfalls von Nagata Acoustics perfektionierte Raumklang ist deutlich sanfter und gnädiger als die eher trockene und analytische Akustik in Hamburg.

Harte Schale, weicher Kern: Die gestalterischen Ambitionen Shigeru Bans haben sich ganz auf das Auditorium konzentriert. Das ist einerseits konzeptionell verständlich, denn es bedarf in einem Haus, das für ganz unterschiedliche Konzertformate und heterogene Publika ausgelegt ist, nicht überall des gleichen Grads an Verfeinerung. Und das wäre auch angesichts des begrenzten Gesamtbudgets nicht möglich gewesen.

Andererseits beweist die Seine Musicale nach dem Centre Pompidou Metz aufs Neue, dass Shigeru Ban ein Meister in kleinen Formen ist, Präzision und Poesie im gros­sen Massstab aber deutlich nachlassen. Und der Japaner ist eben kein Architekt, der angesichts von Druck und Beschränkung für Rauheit einen adäquaten Ausdruck findet. Gäbe es das mirakulöse Ei mit dem Auditorium nicht, niemand käme auf den Gedanken, in Shigeru Ban den Autor des Sockelbauwerks zu sehen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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