Welche Schweizer Architektur sollte abgerissen – und welche unter Denkmalschutz gestellt werden? Über diese Fragen streiten sich Heimatschützer und Bauherrn heftig. In der NZZ beziehen Architektinnen und Architekten Stellung.
Der Wille zur Zerstörung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Architektur in Europa, sofern sie denn auf dem Bau von neuen Gebäuden oder gar einer neuen Stadt besteht. Allein in Zürich müsste man den See trockenlegen, um ein Baufeld für neuartige Wohnhäuser in aufregenden Quartieren zu schaffen. Häuser stehen dicht an dicht. Und dort, wo es noch Freiraum gibt, kämpfen Bäume und Wiesen um ihr Daseinsrecht oder entscheiden die falschen Investoren über die Architektur von morgen.
Wir haben im Feuilleton deshalb einmal Platz geschaffen, damit Architekturbüros einen grossen Abrissplan für die Schweiz festlegen können. «Bestimmen Sie die Architektur, die Sie gerne abreissen lassen wollen», lautete die Anfrage quer durchs Land und die Generationen – an Peter Zumthor, Roger Diener, Annette Gigon und Mike Guyer, Elli Mosayebi, Anne Kaestle, Manuel Herz und viele andere (Die Links zu den Beiträgen finden Sie unten). Vielleicht, dachten wir uns, muss der Vorschlaghammer nicht gleich so weit geschwungen werden, dass er die Zürcher Oper, den Hauptbahnhof und das Ausflugsrestaurant auf dem Üetliberg treffen würde, aber der Phantasie wollten wir einmal keine Grenzen setzen.
Wenn man zurückschaut, rufen wild gewordene Baumeister unter Umständen auch gemischte Gefühle hervor. Unter Kaiser Napoleon III. plante Georges-Eugène Haussmann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Gemächern des Palais des Tuileries die Verwandlung der mittelalterlich geprägten Stadt in eine Metropole mit den weitläufigen Boulevards und klaren Achsen, über die man heute so gerne flaniert. Der Gedanke an die Pariser, die dafür aus ihren Häusern vertrieben und umgesiedelt wurden, löst aber unweigerlich Beklemmungen aus: Zwölftausend Gebäude liess Haussmann abreissen, um Paris das Elend, den Gestank, die Cholera, die Dunkelheit und Enge auszutreiben. Die Faszination für Architekten, die im grossen Massstab dachten, ist trotzdem geblieben.
Etwa fünfzig Jahre nachdem Paris unter den Händen Haussmanns zerstört worden und wiederauferstanden war, folgte Le Corbusier seinen Spuren und grenzte sich zugleich radikal von ihm an, indem er vorschlug, sich der gesamten Pariser Rive-Droite-Bebauung zu entledigen. Zwischen Notre Dame und Montmartre sah der ebenfalls berühmte Plan Voisin statt Marais, Sandsteinfassaden und kleinen Geschäften grosse kreuzförmige Türme in geometrischer Ordnung und rasanten Verkehr vor. Auch Le Corbusier wurde nach der Ausstellung des neuen Pariser Nachbar-Plans auf der Exposition des Arts Décoratifs 1925 angefeindet, die Mehrheit allerdings hält ihn für den letzten Visionär, der keine Angst hatte, einen Entwurf über die Geschichte und Architektur einer Weltstadt zu stellen.
In der Gegenwart ist von dieser Radikalität kaum mehr etwas zu spüren. Architekten schlagen sich mit Bauverordnungen und Sicherheitsvorschriften herum und müssen auf couragierte Bauherren manchmal ihr ganzes Leben warten. Hinzu kommt ein überengagierter Heimatschutz, der die Vergangenheit oftmals über die Zukunft und Erinnerung über die Bedürfnisse der neuen Generation stellt. Die Non-Profit-Organisation besteht zwar darauf, «auch zeitgemässe, gute Architektur bei Neubauten zu fördern»; in der Regel werden die fast dreissigtausend Mitglieder aber immer dann mobilisiert, wenn 700-jährige Holzhäuser, wie jüngst in Steinen im Kanton Schwyz, den Plänen der Zeitgenossen weichen sollen. Oft reicht auch erst einmal nur eine Aufsichtsbeschwerde, um wie jüngst in Chur den Abriss eines Gutshofes und den Bau einer neuen Fahrrad- und Busspur zu stoppen. Für Architekten, die neue Häuser bauen sollen, ist so ein Vorgang der grösste Albtraum, weshalb ihnen einmal Gelegenheit geboten werden sollte, nach freiem Herzen die Schweiz abzureissen.
Viele Büros sind der Einladung gefolgt und verändern mit ihren Beiträgen den Blick auf die Schweizer Stadt- und Landkarten. Wenn es nach Urban-Think Tank ginge, dürften Architekturstudenten jedenfalls nicht mehr in der ETH-Dépendance am Hönggerberg die Schulbank drücken – «die Interaktion zwischen Architektur, Stadt und Studenten geht hier völlig verloren», schreiben Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner. Schon in dieser Formulierung deutet sich an, welchen Wert Architekten der gebauten Stadt aber auch zuschreiben.
Für den fiktiven Rahmen dieser Feuilleton-Seiten wollte sich denn auch kein Büro auf grossspurige Abrisspläne à la Le Corbusier einlassen, etwa die gesamte (von der Unesco beschützte) Berner Altstadt oder die Kapellbrücke in Luzern wegsprengen. Man denke nur an den Slogan «Nieder mit den Alpen. Freie Sicht aufs Mittelmeer!» – und die Proteste, die sich ja auch gegen ein zentrales Monument, die Zürcher Oper, richteten. Diejenigen, die schon etwas länger in der Branche arbeiten, hielten die Anfrage wegen Abrissplänen für zu aggressiv. Psychologisch könnte man das natürlich so auslegen, dass die Rebellion eher zur Jugend gehört – und der Schweizer gerne auf einen Frontalangriff auf die eigene Zunft verzichtet. Aber mit dem 20. Jahrhundert im Nacken hat sich eben auch ein vorsichtigerer Umgang mit der gebauten Umwelt herausgebildet.
Der grosse Bruder des Heimatschutzes, die Unesco, hält seit dem Zweiten Weltkrieg seine schützende Hand über das sogenannte kulturelle Erbe. Allerdings werden in der Liste des Weltkulturerbes kaum Helden aus der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts geführt. Le Corbusiers architektonisches Werk ist die eine grosse Ausnahme, die in gleich sieben Ländern der Welt von der Behörde geschützt wird. Das mag paradox klingen – immerhin legte Le Corbusier auf die Pflege des Bestandes nicht so viel Wert –, ist aber zugleich ein Muster dafür, wie schlecht es global um die Baugeschichte bei der Unesco bestellt ist.
Exemplarisch kann man das am Schweizer Kulturerbe ablesen. Aufgelistet werden hier natürlich nicht die Emmentaler Bauernhäuser, deren Dächer alle wie wunderschöne, grosse Schlapphüte in der Landschaft liegen, oder die Siedlung Seldwyla, die unter anderen Rolf Keller in den siebziger Jahren entwarf. Neben einem Stück Alpenland sind laut Unesco die Klosterkirche von St. Gallen und die Burg- und Maueranlage von Bellinzona schützenswerter. So eine Auswahl nährt leider den Verdacht, dass es sich hier um Beamte im Dienste längst verstorbener Machthaber handelt. Sie pfeifen genau wie Haussmann, so lautet jedenfalls die Kritik, auf die Hütten kleiner Leute und ebenso die Architektur vieler grosser Architekten.
Wir haben deshalb ebenfalls nach Gebäuden und Orten in der Schweiz gefragt, die die Architekturbüros für unbedingt erhaltenswert erachten. «Welche Architektur möchten Sie unter Denkmalschutz stellen?», lautete die Frage konkret. Nicht nur Behörden oder Heimatschützer sollten den architektonischen Kanon definieren, den wir Tag für Tag vor Augen haben. Ob in Genf oder Basel, Zürich oder Chur – manchmal läuft man blind an Gebäuden vorbei, obwohl man vor einem «Denkmal» steht. «Hol den Vorschlaghammer», singt die deutsche Pop-Band Wir sind Helden zwar. «Sie haben uns ein Denkmal gebaut / Und jeder Vollidiot weiss, dass das die Liebe versaut / Ich werd die schlechtesten Sprayer dieser Stadt engagieren / Die sollen nachts noch die Trümmer / Mit Parolen beschmieren.» Aber im Gegensatz zu in Stein gemeisselten Menschen kann so manche Architektur lebendiger werden, als man denkt – und sollte ganz unbedingt bewahrt werden.
Viele Architekturbüros plädieren hier für den Erhalt und im gleichen Atemzug auch für den Umbau und die Umnutzung von Gebäuden. So verhindert man einerseits, einer Stadt die Geschichte zu rauben, andererseits aber auch den Stillstand, der so oft mit dem Denkmalschutz einhergeht. Zugleich setzen sich die Architekten für alte ästhetische und damit auch konzeptionelle Kriterien ein. Die Architektur der 1970er und frühen 1980er Jahre etwa mag nicht den klassizistischen oder barocken Geschmacksstandards entsprechen; sie ist aber, wie Emanuel Christ und Christoph Gantenbein schreiben, «aus einem unerschrockenen, vielleicht etwas naiven, aber immer optimistischen Denken heraus entstanden – die grosse Geste!» Und sie sollte auf jeden Fall erinnert und bitte auch öfter wiederholt werden. 2b Architectes schlagen hier vor, das Gebiet rund um den Genfersee als «Métropole Léman©» zu definieren und die urbanen Qualitäten der Postkartenidylle über die Landes- und Kantonsgrenzen hinweg weiterzuentwickeln. Es muss dem nichts im Wege stehen.
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