Bauwerk

Kinderhaus Braike
Roland Gnaiger, Gerhard Gruber - Bregenz (A) - 2001

Sultan stimuliert Schogun

Beherrschung des Raums ist nicht nur eine Kategorie militärischer Taktik, sondern erzeugt auch in der Architektur Wirkung. Das Kindertagesheim „In der Braike“ von Gnaiger & Gruber in Bregenz: eine Lagebeurteilung.

1. Juni 2002 - Walter Chramosta
Die Regeln der Kriegstaktiker sind alt, bewährt, oft universell; die Grundregeln der Baukunst sind ebenso tradiert und fast zeitlos. Die Traktate der einen Disziplin kann die andere mit Erkenntnisgewinn lesen, weil sie verallgemeinerbar systematisches Handeln bei der Beherrschung des Raums, bei der Beurteilung der Lage und des Geländes, bei der analytischen Aneignung des Orts erklären. Das Ethos der Samurai ist heute noch genauso essentiell wie das Lehrmittel „Vom Kriege“ des Carl von Clausewitz - Epochen, Kontinente und Kulturen übergreifend.

Roland Gnaiger und Gerhard Gruber haben „In der Braike“ in Bregenz - nach gewonnenem Wettbewerb im Frühjahr 2000 - binnen einem Jahr einen kommunalen Kindergarten mit fünf Gruppen sowie einem Ortsteilzentrum errichtet. Über militärisches Gedankengut haben sie nie gesprochen. Aber ihre Auslassungen über dieses im Randstadtgefüge vorerst wenig auffällige, nichtsdestoweniger für den Gang der architektonischen Dinge markante Bauwerk zeugen von präzisem taktischem Dispositiv in der Baukörper- und Freiflächenanordnung. Den Motivenbericht zu Wahl und Stellung ihrer „Waffen“ kann man einer ambitiösen Lagebeurteilung vergleichen, wie sie jedem Auftrag zu einer militärischen Aktion vorangehen sollte. Das „starke Gelände“ zu erkennen und mit eigenen Kräften so zu besetzen, daß es gehalten werden kann oder gar Einflußsphären erweitern hilft, ist taktisches Kerngeschäft. Es zu erledigen ist umso herausfordernder, je enger die „Feindlage“ das Aktionsfeld einschnürt, je spärlicher Versorgung und Kommunikation mit dem freundlichen Hinterland sind.

Gnaiger & Gruber haben sich erwartungsgemäß von der Lage herausfordern lassen. Sie kommen über die Kunst der räumlichen Anordnung und inhaltlich begründeten Aufstellung bestimmter „Kräfte“ zu einer schlüssigen städtebaulichen Wirkung, die sich im architektonischen Detail relativ leicht bestätigen läßt. Die Komplexität des Projekts wurzelt mehr in der Analyse der Stadt am und um den Bauplatz und der abgeleiteten Parameter für den Baukörper als in einer reichen materialen Ausstattung. Es ist ein sparsames Bauwerk, das die rigiden Kostenlimits der Stadt Bregenz für Sozialbauten nicht gesprengt hat. Wenn es doch anziehend und fast opulent im Äußeren, wohnlich und inspirativ im Inneren wirkt, dann resultiert das aus der maximalen Ausnutzung des Stadtraums und des minimierten, aber beherzten Einsatzes von Bauformen und -stoffen.

Das Kindertagesheim zeigt sich eindeutig als zentrale Einrichtung der öffentlichen Hand, weil es Raum in der Stadt freihält, begründete Distanzen zu anderen Funktionen der Stadt herstellt und zugleich interne Nutzungen komprimiert und dem Bürger keine vereinfachende architektonische Illusion über die Schwierigkeit der erbrachten Dienstleistung aufdrängt. Das ist kein Werk, das man rasch unter „Vorarlberger Einfachheit“ ablegen kann; es weist vielmehr intelligent über erstarrende regionale Tendenzen der Reduktion zu einer zeichenhafteren, undogmatischeren, ihre humanen Prinzipien leichter vermittelnden Architektur. Die Gebrauchstüchtigkeit des Hauses bestätigt die Vermutung, daß moderne Architektur ihre gesellschaftliche Wertschätzung nur wird erhöhen können, wenn sie implizit bessere Nutzwerte bereit- und sie explizit mit feineren, vielfältigeren Mitteln darstellt. Das Minimum als architektonische Strategie ist längst in einer Krise; der Kindergarten von Gnaiger & Gruber erscheint schon als Teil der Gegenbewegung.

Die urbanistische Ausgangslage „In der Braike“: Der Bauplatz ist eine peripher wirkende Lage in Ufernähe des Bodensees fünfzehn Gehminuten von der Stadtmitte. Hart treffen zehn-geschoßige Wohnhäuser der sechziger Jahre auf Siedlungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die Nutzungs-mischung ist vorstädtisch, unkoordiniert liegen Gewerbe und Wohnen neben noch schlecht genutzten Freiflächen. Im Norden grenzt ein Campingplatz mit Pferdekoppel an den Bauplatz, im Westen und Süden bilden zumindest dreigeschoßige Wohnbauten der neunziger Jahre einen respektablen, aber engen Rahmen. Über eine kurze Stichstraße erschlossen, aber von der Erschließungsstraße des Quartiers nicht zu erkennen, war der Kindergarten hinter der Wohnbebauung im zweiten Glied zu errichten. Das nur 2300 Quadratmeter große Grundstück bedingte eine hohe Bebauungsdichte, die für Kindergärten von öffentlichen Trägern selten akzeptierte Zweigeschoßigkeit.

Die städtebauliche Antwort: Durchgesetzt haben sich Gnaiger & Gruber mit der Bereitstellung attraktiver Freiräume, vor allem mit dem gegen Süden offenen Gartenhof, anders gesagt: mit der Situierung eines winkelförmigen Baukörpers im äußersten nordwestlichen Eck. Südseitig mit einer Pergola und eingangsseitig mit einer Mauer ist der Hof auch an den anderen Seiten geschlossen. Räumliches Ergebnis ist ein durch einen mächtigen Ahorn zentrierter, introvertierter Freiraum, der durch die an japanische Gärten erinnernde Kiesdecke einen Anflug von Askese zeigt. Die durch den langgestreckten Hauptbau, den niedrigeren Saaltrakt und einen Nebenbau markierten Grundstücksecken bilden zum Quartier Wohnstraßen: freiräumliche Ordnung in einem zusammengewürfelten Siedlungsgefüge. Der Kindergartenbezirk ist durch deutliche Schwellen von der Straße getrennt. Der Mehrzwecksaal hat einen Nebeneingang, gelegen in der Achse des Hauptportals, verbunden vom Vorbereich der Gartenhalle.

Die architektonischen Folgerungen: Der auf die ganze Grundstückslänge ausgedehnte Gebäudeschenkel beherbergt im Erdgeschoß eine Kindergartengruppe und eine zum Garten orientierte Halle, einen „Boulevard“ mit Küche, Verwaltung, Lager; nur einmal stößt der Südhof durch das Gebäude zur Nordloggia mit Seevorahnung, Pfänderblick und Morgensonnenwonne durch. Neben Hof, Loggia und Spielplatz auf dem Dach des quartierbezogenen Mehrzwecksaals bilden die Terrassen vor den vier Gruppenräumen im Obergeschoß die vierte Freiraumsituation. Um der Verschattung durch die Südnachbarn zu entkommen, liegen die Gruppenzonen bewußt auf der oberen Ebene, das Innere ist von oben nach unten entwickelt, gegenläufig zum konzeptiven Eindringen des Außenraums.

Jede Gruppe verfügt, wie im Reihenhaus, über eine eigene Garderobe, von der man über eine nach Norden auskragende Stiege eine Naßzelle und den Wohnraum erreicht. Sachlich gehaltenes Sperrholzmobiliar unterteilt die großen Tagesräume in gut angenommene Spielzonen. Als Rückzugs-nischen dienen gruppenweise niedrige Räume mit umlaufendem Diwan, die von feinsten feudalen Kiosken über dem Bosporus träumen lassen. Auf den geometrisierten Kiesgarten blickend, auf den westöstlichen Diwan im dichten Sperrholzgehäuse niedersinkend, ist man dankbar für das architekturtaktische Kalkül, schärfste „Raumwaffen“ des Sultanats und des Schogunats zusammenwirken zu lassen. Das ist kein Kindergarten, sondern ein altersunspezifischer, urbaner Ort.

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