Bauwerk

Tate Gallery of Modern Art
Herzog & de Meuron - London (GB) - 2000
Tate Gallery of Modern Art, Foto: Margherita Spiluttini
Tate Gallery of Modern Art, Foto: Margherita Spiluttini
Tate Gallery of Modern Art, Foto: Margherita Spiluttini

Wien mitten in London

Ein Rundgang durch die in jeder Hinsicht beeindruckende Tate Modern Galerie in London und die Ausstellung „Century City“, in der leider auch Wien ein Kapitel gewidmet ist.

11. April 2001 - Jan Tabor
Wien wurde zwischen New York und Tokio gelegt, in die Mitte des vierten Stockes, die auch die Mitte der weitläufigen Ausstellung „Century City“ ist. Ein Ehrenplatz, meint man, steht man vor der Orientierungstafel. Mit der Tate Modern wurde im Mai 2000 das größte Museum moderner Kunst der Welt eröffnet. Vermutlich ist es auch das Museum mit dem größten Foyer überhaupt. Eine Orientierungstafel braucht man dennoch kaum: Man tritt ein und kennt sich aus. Es ist ein Museum ohne Schwellen, weder wirklichen noch mentalen. Sogar eine neue Fußgängerbrücke wurde errichtet, um das neue Museum mit St. Paul's Cathedral am anderen Ufer der Themse zu verbinden.

Die Tate Modern hat zwei Entrees. Das eine befindet sich gegenüber dieser unübertrefflich filigran-elegant konstruierten Themse-Fußgängerbrücke. Das andere, seitliche, ist der Haupteingang. So breit wie die ganze Westwand und so beschaffen, als würde die Straße in das Haus geführt - über eine riesige, flach abfallende, also rollstuhlgerechte Rampe. (Im Wiener Museum moderner Kunst - kurz Mumok - im Muqua gibt es eine vier Meter hohe Treppe, der Eingang für Rollstuhlfahrer ist irgendwo hinter ihr versteckt.) Das Tate-Foyer ist groß wie ein Flugzeughangar. Die einstige Turbinenhalle wurde leer geräumt und frei belassen. In Massen strömen die Menschen hinein und hinaus. Schüler aller Altersstufen, unzählige. (In Wiener Museen sieht man sie kaum, die Eintrittskarten sind zu teuer.) Über sechs Millionen Besucher erwartet die Tate im ersten Jahr. (Im Mumok rechnet manmit 150.000 Besucher jährlich, im ganzen Muqua mit 1,1 Millionen.)

Ein Arbeitstag in der Tate Modern, und man spürt einen Hauch von Fritz Langs „Metropolis“. Kaum Gedränge, nicht einmal im Eingangsbereich. Nur in den beiden Cafes (200 und 240 Sitzplätze) und in der Buchhandlung, obwohl sie groß ist wie ein Turnsaal. Der Eintritt ist frei, ausgenommen die Wechselausstellung, die aber trotzdem voll ist. Alles ist so geräumig hier, so großzügig bemessen! (Im Mumok ist die Decke vor der Garderobe nur 2,20 Meter hoch. Niedriger hat es die Bauordnung nicht erlaubt.)

Gleich am Eingang beginnt die Jahrhundertwende-Rückschau „Century City - Art and Culture in the modern Metropolis“. Es ist die erste Wechselausstellung nach der Eröffnung. Exemplarisch für die ganze urbane Welt des 20. Jahrhunderts werden neun Städte in „einem für sie charakteristischen Zeitabschnitt“ vorgestellt. Jedes der Städteporträts hat einen anderen - oder mehrere - Kurator, sodass sowohl die Interpretationen als auch die Gestaltungen der Ausschnitte unterschiedlich bis konträr sind - von einem schöngeistig-romantisch verschleierten Blick bis zur beinharten sozialkritischen Analyse der urbanen Lagen.

London selbst ist die Jetztzeit, 1990-2001, und der Eingangsbereich - und damit der Anfang und das Ende der Ausstellung - vorbehalten. Das wäre nicht unbedingt ein Vorteil, wäre das Konzept „City as found object“ nicht so genial: Künstler agieren in den Straßen von London; der London-Teil der Schau ist eine Fortsetzung des Draußen. Im Hineingehen wird die Wirklichkeit der Stadt zu Kunst. Beim Hinausgehen ist es umgekehrt: Die Kunst wird zur Stadt. Nach London kommt, ebenfalls in der Halle, Mumbai/Bombay („Transforming the City. 1992-2001“). Mumbai ist die am schnellsten wachsende Stadt der Welt; 1993 lebten hier zwölf Millionen Einwohner, 2005 werden es 27,5 Millionen sein. In einer Filmreportage über eine gemeinsame Demonstration von Moslem- und Hindufrauen gegen den religiös motivierten Terror hört man eine Rednerin rufen: „Our religion is humanism!“

Die Schausammlungen der zeitgenössischen Kunst sind auf zwei der sechs Besucherebenen verteilt, auf die dritte und die fünfte - zusammen 6000 Quadratmeter für permanente Ausstellungen. Dazu kommen 2400 Quadratmeter für Wechselausstellungen auf Ebene vier sowie mindestens 3000 Quadratmeter im Foyer. (Mumoks Ausstellungsfläche beträgt 5400 Quadratmeter.) Die Tate Modern geht von der üblichen Gruppierung der Exponate nach Chronologie und Ismen ab und stellt die Kunst in sachlich-inhaltlichen, kausalen beziehungsweise formalen Zusammenhängen wie „Nacktheit/Action/Körper“ oder „Geschichte/Gedächtnis/Gesellschaft“ aus. Die Öffnungen nach außen, Fenster und Loggien mit Sitzmöbeln, stellen einen unerlässlichen Zusammenhang zwischen der Großstadt und moderner Kunst her. „Die Kunst der Moderne ist die Kunst der Metropolen“, meinte Documenta-Leiter Okwui Enwezor kürzlich in einem Interview. (Im Mumok gibt es keine Ausblicke. Dort gibt es bloß kleine fensterartige Scharten - als würde sich die moderne Kunst in Wien noch immer in einem Belagerungszustand befinden. Das einzige Fenster, aus dem man hinausschauen kann, bis etwa zum Ballhausplatz hin, befindet sich im Obergeschoß, das wie ein groß geratener Dachboden zum Wäschetrocken aussieht.)

Die vierte Ebene ist denWechselausstellungen vorbehalten; sie liegen also zwischen den permanenten Schausammlungen und werden auf diese Weise integriert. Es fängt mit „Moscow 1916-1930. Revolutionary City“ an: leider nur Wohlbekanntes. „Lagos 1955-1970. Highlife in the City“, von Enwezor kuratiert, zeigt hingegen eine unbekannte Großstadtkultur zwischen Kolonialismus und Befreiung. Über „New York 1969-1974. City as Stage“, „Tokyo 1967-1973. Provoking the City“ und „Paris 1905-1915. City as Modernity“ führt die Städtereise nach „Rio 1950-1964. Rhythmic City“, wo die willkürlich aneinander gereihte und im Ganzen ungemein spannende Neun-Metropolen-Synopsis mit den „very hot Rhythms of Bossa nova“ bekömmlich und zukunftsfroh abschließt. Diese Musik ist 1950 entstanden, genau inmitten des kakophonischen Jahrhunderts. Manchmal dringen aus dem Wiener Cafe Karl Kraus' authentische Antikriegsschreie bis hierher durch.

In „Vienna 1908-1918. City in Analysis“ singt die „Lulu“ um die Wette mit Karl Kraus, der die Klagelieder aus seiner musiklosen Zeitungszitatenoper „Die letzten Tage der Menschheit“ in die Welt hinausdeklamiert. Wien liegt zwischen New York und Tokio und hängt dort wie ein zum Leben erweckter Todespatient zwischen zwei mit ihrer rebellischen Vitalität protzenden Kerlen. Weshalb, ist nicht gleich durchzuschauen, jedoch bereits in New York zu riechen. Frischer Wiener Kaffee! Der Duft der Heimat hier, in der Power Station Tate Modern! Klar: Wien, Gugelhupf, viele Zeitungen, „demolirte Literatur“, jede Menge von Dichtern und Denkern aller Art, Freud, Psychoanalyse, Libido, Lulu, Altenberg, kleine süße Mädchen, Karl Kraus, „Versuchsstation Weltuntergang“, Todessucht, Wiener Cafe um 1900.

Neben den Toiletten und neben einer großen Loggia befindet sich eine kleine Cafeteria. Sie dürfte Richard Calvocoressi und Keith Hartley, die schottischen Wien-Kuratoren, dazu inspiriert haben, in London wieder einmal ein echtes Wiener Cafe aus der Zeit nachzuempfinden - als exponat trouve sozusagen. Entsetzlich! Die Repliken des Thonet-Bugholzmöbels sind plump und unbequem. Der Kaffee ist miserabel. Keine Mehlspeisen. Keine Zeitungen.

Es ist nicht die einzige lebensnahe Rekonstruktion des Wiener Geisteslebens. Auch die legendäre, mit einem Perserteppich überworfene Couch des Professors Freud wurde aus dem Londoner Freud-Museum geholt, um eine Ecke seiner Wiener Wohnung wirklichkeitsnah nachzubilden. Die Wände rundherum sind mit Schiele-Grafiken, meist Leihgaben des Museums Leopold, regelrecht tapeziert. Sie sind so ausgewählt, dass das Wien-Bild von einer Metropole der lustvollen Nekrophilie eindrucksvoll bestätigt wird. Das Klischee der liebenswürdigen Pädophilie erhärtet die Sammlung mit Bildern kleiner süßer Mädel, die einst Peter Altenberg an der Wand seines Dauerdomizils im Hotel am Graben erfreute. Die seltsame Kollektion beeindruckt, wo immer sie als Exponat auftaucht, verlässlich. „Deine Seele, Albina, ist vollkommen wie dein geliebter Leib!“, zitiert Jörg von Uthmann genussvoll, was Altenberg unter der Aktaufnahme eines vierzehnjährigen Mädchen dichtete, und beendet seinen Bericht für Die Zeit mit dem Seufzer: „Ein Beitrag zur Sexualgeschichte: Was einem Dichter zu Beginn des Jahrhunderts nachgesehen wurde, hätte ihn, als es zu Ende ging, ins Gefängnis gebracht.“ Von Wien in London war der Mann aus Hamburg restlos begeistert. Alles andere: unverständlich.

Das masochistische Wien-Bild ist eine kulturelle Katastrophe. 1985 in Wien, in der Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“ hergestellt, wird es seither, zerstückelt und modifiziert wie eine mumifizierte Erbsünde, herumgereicht. Die österreichische Regierung sollte ihren Kunstinstitutionen sofort untersagen, Exponate zum Thema Wien um 1900 ans Ausland zu verleihen.

Der Aufenthalt im unwirtlichen Viennese Coffee House ist dennoch ein metropolitanes Erlebnis sondergleichen. Durch das Panoramafenster blickt man auf die unwirklich erscheinende Skyline der coolsten Stadt der Welt und auf die graziös gespannte Konstruktion der Millennium Bridge. Die kongeniale Gemeinschaftsarbeit des Architekten Norman Foster, des Bildhauers Sir Anthony Caro und des Statikers Ove Arup ist allerdings ein Werk des Bausurrealismus: Die fantastische Brücke ist gesperrt, weil sie so filigran dimensioniert ist, dass sie - von Menschen oder dem Wind bewegt - lebensgefährlich zu schaukeln beginnt.

Die Schweizer Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron hingegen haben die Aufgabe, die funktionslos gewordene Power-Station für Elektrizität in eine Power-Station für moderne Kunst zu transformieren, vorbildlich bewältigt. Das Power Station Bankside ist ein Spätwerk von Sir Giles Gilbert Scott (1880-1960), einem der berühmtesten unter den unbekannten Architekten (er ist der Schöpfer der legendären roten Londoner Telefonhütten). Das aus dunkelroten Ziegeln gemauerte Kraftwerk war als bewusst kraftvoll gestaltete Stadtdominante gegenüber der Wren-Kathedrale überaus populär, sodass sein Umbau am Anfang ähnlich umstritten war wie die Umgestaltung der Hofstallungen in Wien.

Vorige Woche wurden Herzog & de Meuteron für Tate Modern mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet. Beide sind 51 Jahre alt und damit die bisher jüngsten Träger dieser Ehrung, die man als den Nobelpreis für Architektur zu bezeichnen pflegt. In Wien hat man die außerordentliche Qualität der beiden Architekten aus Basel früh erkannt. Bereits 1989 errichteten sie in Wien-Aspern, zusammen mit Adolf Krischanitz und Otto Steindle aus München, die 200 Wohnungen umfassende Reihenhaussiedlung Pilotenweg.

Wien, die Stadt in der Psychoanalyse. Beim Wiener „Jahrhundertprojekt“ Museumsquartier (Muqua) setzten die Politiker auf die bewährte Qualitätsarbeit heimischer Baukünstler und den überall beliebten alten Genius loci Wiens. Das neue Museum Leopold ist ein im Muschelkalkstein petrifizierter Ausdruck dieser Obsession. Das in dunklen Basalt gekleidete Museum moderner Kunst (Mumok) sieht so toll aus, dass sogar Lenins Mumie sich alle zehn Finger abschlecken würde.

Die Ausstellung „Century City“ läuft noch bis 29.4. in der Tate Modern, London.

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