Bauwerk

Bezirkshauptmannschaft Murau
Wolfgang Tschapeller, Friedrich W. Schöffauer - Murau (A) - 2002
Bezirkshauptmannschaft Murau, Foto: Veronika Hofinger

An der Rotglut der Idee

Erst wenn geschmiedetes Eisen erkaltet ist, wird esprüfend in die Hand genommen. Freilich lohnt es, dem Schmied bei der Arbeit zuzusehen, um das Werk besser zu verstehen. Auch manche Architektur ist als heißes Eisen vielsagend, aber die Kritik zieht Ausgekühltes vor. Ein Baustellenbesuch im steirischen Murau.

23. Juni 2001 - Walter Chramosta
Unikatarchitektur hat, anders als das serielle Industrieprodukt, eine Eigenart: Ihre Idee vergeht fast regelmäßig im fertiggestellten Werk. Der Bau löscht als Kompromißleistung die Idealvorstellung des Architekten - ohne Chance auf Rehabilitierung in einem gleichgelagerten Versuch - und ersetzt ihn durch eine in vielem unkalkulierte Realwirkung. Das abgeschlossene architektonische Konstrukt entläßt den Entwurf in eine für Kritik und Wissenschaft interessante Parallelexistenz, in der die gebaute Architektur die vorgezeichnete häufig unterbietet, manchmal bestätigt oder selten übertrifft. Allein betrachtet kann der fertige, aber konzeptiv als Torso errichtete Bau über die Intention des Architekten in die Irre führen und mehr über die Verfassung des Bauherrn und des Bauhandwerks berichten. Der Rohbau erlaubt dagegen einen unmittelbareren Zugang zur architektonischen Absicht, er ist Ort einer analytischen Architekturbetrachtung. Nicht grundlos gehört der freizeitliche Marsch über fremde Baustellen zur Fortbildung des praktizierenden Architekten, weil sich frühzeitig untrügliche Belege über den Stand der Technik gewinnen lassen und sich im Halbfertigprodukt die Haltung des Architekten oft radikaler abzeichnet als im Endprodukt. Nichtsdestotrotz ist der Baustellenbericht keine etablierte Form der Architekturpublizistik, das Desideratum ist die Erstdokumentation neuer Bauten. Der groteske Formen annehmende Wettlauf der Zeitschriften um das erste Bild führt oft auf fragwürdige photographische Belege, eigentlich zeigen die meisten dieser finalen Schnelligkeitsbeweise keine Endprodukte. Nebenher sind die tatsächlichen Bauzustände aus dem architekturkritischen Blickfeld geraten. Wenn einer behandelt wird, dann als marginaler Appendix am Premierenrummel oder unter rein ingenieurwissenschaftlichen Prämissen. Provisorische Sachverhalte werden von den Medien für zu wenig ästhetisiert, zu wenig handschriftlich markiert und marktgängig gehalten.

Der Neubau für die Bezirkshauptmannschaft Murau nach dem siegreichen Wettbewerbsprojekt der Wiener Architekten Wolfgang Tschapeller und Friedrich Schöffauer rechtfertigt als bedeutender öffentlicher Bau grundsätzlich interessierte Blicke in jeder Phase. Da der Entwurf den seinerzeit noch als dauerhaft gefestigt anmutenden Bahnen der steirischen Baukultur entspringt und jetzt wie ein einsamer Nachzügler einer gloriosen Ära des Architekturgeschehens dasteht, ist die Art seiner Umsetzung doppelt bedeutsam. Das beste Argument für die Betrachtung dieser Baustelle ist die besondere Wechselwirkung zwischen beschnittenem Berg und schnittigem Bau.

Die Baustelle zeigt jetzt komplette Primärkonstruktionen wie Hangsicherungen, geschoßtragende Stahlskelette mit Betondecken, die Murstegverlängerung und weitgehend abgeschlossene Fassadenarbeit. Der Innenausbau ist teils im Gang, teils ist der Rohbau noch nackt. Die Wunden in der Landschaft beginnen zu heilen, auch wenn der Graben, zu dem sich die Bürobereiche nun öffnen, als „Verletzung“ beabsichtigt ist und freigehalten wird. Der Lokalaugenschein stellt klar, daß die drei Baukörper der Bezirkshauptmannschaft mit dem Mursteg eine innige räumliche Interaktion eingehen, die hochgesteckte Erwartungen wohl noch übertrifft. Mursteg und Neubau sind in einer architektonischen Schicksalsgemeinschaft verbunden und können durchaus als Ensemble wahrgenommen werden. Die Bezirkshauptmannschaft Murau wird eine multireferentielle, originäre Schöpfung, die einen radikal neuen Ort erzeugt.
Der Neubau liegt strategisch richtig nahe dem Bahnhof der Murtalbahn am Weg zum Stadtzentrum, teils im zum Fluß steil absteigenden Hang. Tschapeller/Schöffauer haben sich als fundamentale Randbedingung zurechtgelegt, dem Gelände Substanz zu entnehmen und diese im Rahmen einer volumenskonstanten Dislozierung als Baumassen wieder aufzuführen. Die durch Stützmauern gut nachvollziehbare Landschaftsverformung ist eine logische Maßnahme auf einem Berg, der sich als nicht autochthon erwiesen hat, nämlich aus einer Deponie besteht. Die Sanierung dieser Altlast war politisch angenehm korrekt, um das in spitzem Winkel zu Mur angelegte Tal zu motivieren, in das der größte Bauteil flankierend eingefügt ist. Das stärkere und am Ort bestätigbare Argument für die Perforation des Berges ist das tiefgehende Spiel mit Positiv und Negativ, mit der Massivität des Felsens und der Leichtigkeit der Stahlkonstruktionen, mit Licht und Schatten: Es entsteht ein künstlicher Berg, Murau erhält neben Schloß und Kirche eine weitere artifizielle Stadtkrone. Die Umlagerung der Körper ist mit einer Veränderung der Dichten, ihrer Aggregatzustände verbunden: Aus abgetragenen Lockermassen formiert sich nach der architektonischen Metamorphose als größter Bauteil eine turmartige Nutz- und Luststruktur mit hochdichten Tragelementen und weitläufig gespannten Räumen auf. Das dem Berg abgerungene Volumen wird nicht leichtfertig aufgefüllt, sondern tendenziell freigelassen: Vor allem der sieben Geschoße zusammenfassende, von der gestützten Felswand begrenzte Fiktionalraum ohne eindeutige Funktion außer der Vertikalerschließung sucht als maximiertes Innenraumkontinuum seinesgleichen. Wolfgang Tschapeller: „Etwas leer halten bedeutet eine Anstrengung, etwas aufzufüllen ist eine geringere Anstrengung.“ Das 22 Meter hohe Foyer berichtet vor allem in seinem Bauzustand mit den nur von Torkret-Beton überzogenen Felsen, mit den unregelmäßig gesetzten Bohrpfählen, mit den variantenreich eingehängten Stiegenläufen, den vielfältigen Ober- und Seitenlichteinfällen, mit Ein- und Ausblicken von einer konsequenten Anstrengung der Architekten. Dieser Ertrag wird so im geglätteten Endausbau nicht zu erhalten sein: nun eine wahrhaft piraneske Raumerfahrung, die Rotglut einer noch roh dastehenden architektonischen Absicht. Solch eine Wechselwirkung zwischen Himmel und Erdscheibe, zwischen Sonnenlicht und Schatten, zwischen Zonen der Bewegung und Ruhe, zwischen der latent spürbaren Schwere des Hanges und der Stahl-Beton-Glas-Konstruktion des Hochbaus ist eine Sonderheit. Die reiche, sich dem Betrachter nicht im einzelnen, sondern als Ganzes eröffnende Bauelementik erscheint als Teil eines schwierigen Spiels: Die Figuren dieses Brettspiels auf sieben Ebenen sind die tatsächlich vorgefundenen oder die selbst mühsam entworfenen Zwänge, die Pragmatismen und die funktionalen Willkürfestlegungen der Nutzung, die finanziellen Ressourcen der Bauherrschaft, die Hemmnisse (Statik . . .) und Katalysatoren (Bauphysik, Bauleitung des Landes . . .) der personellen Konstellation und so weiter. Die Regeln dieses Spiels wurzeln in der Weltanschauung der Architekten, die aktuellen Züge in letzten Einsichten. Der Spielerfolg besteht letztlich in der Eleganz, eine poetische Gesamtkonstellation zwischen Figuren und Figurengruppen zu erreichen, gewissermaßen das selbst zur Unübersichtlichkeit gesteigerte Problem in paradoxer Einfachheit matt zu setzen. In Murau steht ein erfolgreiches Spielende knapp bevor. Es macht Freude, den Spielern bei ihrer konzentrierten, sogar vergnügten Anstrengung beizuwohnen: Die letzten Züge erfolgen nicht in Konkurrenz zu den hohen Ansprüchen dieser Architektur, sondern in seltener Kongruenz. Das Eisen ist folglich noch sehr heiß.

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