Bauwerk

Bibliothek von Alexandria
Snøhetta - Alexandria (ET) - 2001

Ein Punkt im All

Noch heuer wird ein Bauwerk eröffnet, dem nicht nur die weltweite Aufmerksamkeit aus Architekturfachkreisen gelten wird: die neue Bibliothek von Alexandria, Ägyptens geschichtsträchtiger Stadt am Mittelmeer. Ein Spitzenrang in der Architekturgeschichte scheint ihr schon jetzt sicher.

19. Mai 2001 - Karin Tschavgova
Der Mythos der bedeutendsten Sammlung von Schriften der Antike wird auch aus der Tatsache genährt, daß bis heute die Ursache ihres Untergangs nicht geklärt ist: Wurde die Bibliothek von Alexandria 48/47 v. Chr. von einer verheerenden Feuersbrunst zerstört - oder 640 n. Chr. bei der Eroberung der Stadt durch die Araber?

Sicher ist, daß der antike Glanz Alexandrias in den siebziger Jahren zur Idee führte, eine neue Bibliothek zu errichten. Die Unesco, die die Initiative wesentlich unterstützte und 1989 gemeinsam mit der ägyptischen Regierung und der Internationalen Union der Architekten einen Wettbewerb ausschrieb, sah in der Neuerrichtung ein Bekenntnis Ägyptens zur Alphabetisierung und zum Anschluß an westlichen Standard, die erhoffte gemeinsame Finanzierung durch die arabischen Länder als Symbol der arabischen Einheit.

520 Teilnehmer aus 52 Ländern machten den Wettbewerb zu einem der größten der Architekturgeschichte. Nicht nur das Thema und der Ort - das Areal liegt am östlichen Ende des antiken Hafens in Sichtweite zum Ort des legendären Leuchtturms - sowie die Aussicht auf internationale Reputation machten ihn lukrativ, sondern auch die Vorgabe eines großzügigen Raumprogramms. Gefordert war eine moderne Forschungsstätte mit Lesesaal und Einzelstudiereinheiten, mit Konferenzräumen, ausreichend Lagerraum für bis zu 8 Millionen Schriften und Bücher, mit einem Kalligraphie- und einem Wissenschaftsmuseum, einem Planetarium und der räumlichen Anbindung an ein bestehendes Konferenzzentrum. Gewinnen konnte die Konkurrenz ein bis dato unbekanntes Team von fünf jungen Architekten aus Norwegen, den USA und aus Österreich, das unter dem Namen Snohetta in Norwegen registriert war.

Reüssieren konnte Snohetta mit einer gleichermaßen simpel wie komplex wirkenden Großform, dem Kreis, besser gesagt, einer zylindrischen Form von 160 Metern Durchmesser. Als Antwort auf das Halbrund des Hafenbeckens, aber auch als eine dem geschichtsträchtigen Thema adäquate Form, die mannigfache Assoziationen zuläßt - etwa zum Sonnengott Ra und der orangefarbenen Scheibe in seiner Hand, zur Erforschung der Planeten und ihrer sphärischen Charakteristika, zu Begriffen wie Kontinuität und Unendlichkeit, zur Idee von Zeit. Mit einem Kunstgriff brachten die Architekten Dynamik in die an sich statische, in sich geschlossene Form: Sie kippten sie. Durch diese Bewegung hin zur Uferstraße wurde das Dach zur dominanten Fassade, das Kippen zu einem gefrorenen Moment in einer Serie von Bewegungen. Zusätzlich zum Kanon mehr oder weniger metaphorischer Bedeutungsebenen - versunkene Vergangenheit, aufragende Zukunft - erzeugt dieses Kippen einen wesentlichen städtebaulichen Effekt.

Monumentalität wird vermieden, das Bauwerk wird zum niedrigsten und dadurch auffälligsten entlang der Corniche, die von Hochhäusern gesäumt ist. Zum Nachbarbau hin ist die zylindrische Form geradlinig gekappt und von einer Brücke durchstoßen, die vom naheliegenden Universitätsgelände zur Uferpromenade führt beziehungsweise künftig führen soll.
Dem solitären Körper dieses bei den Alexandriern beliebten Konferenzzentrums, das in seiner kristallinen Form eigentlich ein Fremdkörper ist, stellt sich die Bibliothek selbstbewußt, aber nicht dominant zur Seite. Mit der Lage des Planetariums und dem mit Sorgfalt gestalteten Platz gelingt den Architekten sogar eine Ensemblewirkung. Die Dachscheibe der Bibliothek mit ihrem enormen Durchmesser ist von der Uferstraße aus vollständig einsehbar, sie ist die „fünfte Fassade“ und wurde folgerichtig einer besonders differenzierten plastischen Gestaltung unterzogen. Das Dach ist strukturiert in 120 Module in der Größe von je zirka 9 mal 14 Meter. Diese einzelnen Elemente, plastisch geformt wie Tragflächen von Flugzeugen, sind in der Diagonale, genau nach Norden, durchschnitten und ergeben ein regelmäßiges Gefüge von vertikalen Oberlichten - ohne direkte Sonneneinstrahlung, mit optimalem Lichteinfall in den monumentalen Lesesaal. Den gigantischen Raum mit 18.000 Quadratmetern Nettofläche und einem Volumen von 172.000 Kubikmetern, der mehr als 2500 Leseplätze enthält, dominieren das einzigartige gleichmäßige Naturlicht des schrägen Daches, die vielen schlanken Säulen in den Kreuzungspunkten der Dachmodule und sieben gestufte Hauptebenen.

Der Lesesaal von Alexandria wird einer der größten weltweit sein. Seine Höhe variiert von wenigen Metern an seiner tiefsten Stelle bis 18 Meter und ist bestimmt von der Neigung des Daches, die wiederum aus der optimalen Höhe zwischen Buchlagern und öffentlichen Bereichen errechnet wurde. Es ist erstaunlich, wie es Snohetta geglückt ist, bei diesen Ausmaßen intime Bereiche zu schaffen. Diese sind definiert durch die dichte Säulenstellung, die Höhenabstufung und die optische Wärme der Sperrholzpaneele, die die Brüstungen der Galerien und Treppen überziehen. Ebenso überraschend drängt sich die Assoziation mit einer Moschee auf. Eher festlich als sakral wirken die stilisierten knospenförmigen Kapitelle der Säulen, die Lichtpunkte der stark kontrastierenden Decke und die Reihen blauer und grüner Gläser entlang der Deckenträger.

Damit kein Mißverständnis entsteht: Nichts an diesem Raum ist historisierend, nichts wirkt überladen. Im Gegenteil: Die Beschränkung auf wenige Materialien und Farben - das Grau des Sichtbetons für Säulen und Umfassungswand, das helle Birkensperrholz, der Eichenboden, die beigefarbene Dachuntersicht und der Black Zimbawe (Granit) für die große Wand, hinter der die Serviceräume liegen - lotet den Raum aus, gibt ihm Homogenität. Kontraste verschmel- zen wie selbstverständlich zu einem Ganzen, im Inneren wie im Äußeren: Modernität und Glätte der hochtechnologischen Sandwichelemente des Daches aus Aluminium vertragen sich wunderbar mit der Archaik der gekrümmten Außenwand. Diese besteht aus zwei Wänden, einer konvexen über dem Grund und einer nach innen gewölbten Negativform unter Terrain. An ihrer höchsten Stelle ragt sie 32 Meter auf. Mit mehr als 5000 Quadratmetern ist sie vermutlich die größte zeitgenössische Steinskulptur. Ihre handbearbeiteten Platten in zwei Formaten, deren Oberflächen nicht glatt geschnitten, sondern rauh belassen wurden, bilden eine Unzahl von Schriftzeichen und Symbolen aller Weltalphabete sowie musikalische und mathematische Notationen ab. Der Effekt ist überwältigend: Die Wand, ein unerschöpfliches Reservoir immer wieder von neuem zu entdeckender Bildzeichen, erhält einen samtig weichen, lebendigen Charakter.

Alexandrias neue Bibliothek kann aus mehreren Gründen in Frage gestellt werden. Die Kosten von annähernd 200 Millionen Dollar müssen zu zwei Dritteln vom ägyptischen Staat aufgebracht werden, eine enorme Summe für ein Einzelbauwerk in einem Land, in dem nur drei Viertel der Kinder die Grundschule beenden. Auch ist fraglich, wie die Bibliothek gefüllt werden kann. Bis jetzt gibt es 500.000 Bücher und Schriften und Appelle um Dotationen.

Den Architekten daraus einen Vorwurf zu machen ist nicht statthaft. Jeder Wettbewerbssieger hätte die Chance ergriffen, sich mit diesem Projekt einen Platz in der Architekturgeschichte zu sichern. Und die Gruppe um Christoph Kapeller, den Steirer, der die Arbeiten vor Ort mit einem ägyptischen Partner leitet, hat ihre Arbeit, im Gegensatz zu manch „Großen“ der Architekturszene, die sich keinen Deut um menschenwürdige Arbeitsbedingungen in ihren Prestigeobjekten kümmern, sehr gut gemacht. Deshalb ist Alexandria eine Reise wert.

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