Bauwerk

Viadukt Millau
Michel Virlogeux - Millau (F) - 2004

Eine Wunderharfe über dem Wolkenmeer

Der Viaduc de Millau als neuer Höhepunkt europäischer Brückenbaukunst

Schrägseilbrücken erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Arbeiten von Christian Menn, Santiago Calatrava und Ben van Berkel haben in jüngerer Zeit die skulpturale Ausdruckskraft dieses Brückentyps vor Augen geführt. Der neue Viaduc de Millau ist demgegenüber weniger ein architektonischer Wurf als ein Emblem der französischen Tradition des staatlichen Verkehrsbaus. Freilich eines mit gewaltigen Dimensionen.

27. Dezember 2004 - Marc Zitzmann
Von einer Anhöhe aus überblickt man Millau, 23 000 Einwohner, die Unterpräfektur des französischen Département Aveyron. Ein pittoreskes Gewirr aus Ziegeldächern, in der klaren, kalten Winterluft das leichte Sfumato rauchender Schornsteine - und rechts über der Kirchturmspitze, weit im Hintergrund, die weisse Silhouette einer Art Wunderharfe, wie von Geisterhand zwischen zwei Hügel gezaubert.

«Viele Leute hier haben nichts», sagt Claudine Amat, die freundliche Taxifahrerin, die uns bei unserer Besichtigung des Viaduc de Millau zu den besten Aussichtsorten bringt. So seien grössere Gelegenheiten für die wirtschaftliche Entwicklung der armen Gegend mutwillig verpatzt worden: etwa die Niederlassung der Computerfirma IBM oder der Bau eines Militärlagers auf dem Plateau du Larzac. Das pompös Route nationale betitelte einspurige Strässchen zieht sich endlos den Berg hinauf. Die «RN 9» ist landesweit bekannt für ihre Staus im Sommer, wenn es die Touristen aus dem Norden ans Meer zieht - bis zu 26 Kilometer!

Der serpentinenartige, steil ansteigende Weg ist tatsächlich schwer zu bewältigen: «Sobald hier ein Wohnmobil stecken bleibt», erklärt Amat, «ist die Hölle los.» Die Verlängerung der Autobahn A 75 durch den Viaduc de Millau dient just der Behebung dieses Problems - und der Erschliessung der Gegend. Die A 75 verbindet Clermont-Ferrand mit Béziers, das Massif central mit dem Mittelmeer - oder, im europäischen Zusammenhang gesehen, Amsterdam mit Barcelona.
Eine «hohe» Lösung

Nachdem der Verlauf des neuen Autobahnabschnitts 1989 festgelegt worden war, boten sich der Direction des Routes du Ministère de l'Equipement zwei Alternativen an, um die beiden hohen Kalksteinhügel, zwischen denen der Tarn fliesst, zu überbrücken. Die «niedrige» Lösung sah den Bau einer 600 Meter langen Brücke über den Fluss vor, an die sich ein 2300 Meter langer Viadukt mit vielen Pfeilern sowie ein Tunnel angeschlossen hätten. Die «hohe» Lösung bestand aus der heutigen, 2500 Meter langen und bis zu 275 Meter über dem Tarn gelegenen Brücke. Laut Michel Leyrit, dem damaligen Directeur des routes, «ging es nicht darum, einen Rekord aufzustellen. Die beiden Alternativen waren ähnlich teuer.» Gewählt wurde die «hohe» Lösung, weil sie für Automobilisten sicherer ist und sich harmonischer in das Tal einfügt.

Wir stehen auf der «Aire de vision Viaduc de Millau», einer Aussichtsplattform oberhalb des Bauwerks. Die Brücke ist hier in ihrer ganzen Länge zu sehen. Sieben Lichter, auf jeder Pylonspitze eines, blitzen rhythmisch auf. Die Schrägseile, vom Tal aus wie weisse Kreidestriche auf einer hellblauen Tafel, verschwinden hier fast im Himmel. Was von fern grazil aussah, wirkt hier imposanter. Der Viadukt zieht Touristen an, es ist in der ganzen Stadt zu merken.

Im Vergleich zur herkömmlichen Vorgehensweise der französischen Strassenverwaltung weist der Entstehungsprozess des Viaduc de Millau zwei Besonderheiten auf. Zum einen wurden nach zweijährigen Studien durch ein Team um den Ingenieur Michel Virlogeux 1993 fünf Tandems aus je einem Ingenieur- und einem Architektenbüro beauftragt, Pläne für jeweils eine vorgeschriebene Viaduktform auszuarbeiten. Der Architekt Francis Soler etwa entwarf eine ästhetisch bestechende Brücke mit phallusförmigen Pfeilern aus Stahlfachwerk und einem Pauliträger (d. h. einem linsenförmigen Fachwerkträger aus Stahl) unter jedem der sieben je 330 Meter langen Abschnitte. Die Jury aber entschied sich 1996 für den Entwurf von Virlogeux und Norman Foster.
Ein gutes Geschäft für alle

Zum anderen entschied der Staat 1998, den Viadukt von privater Hand erbauen zu lassen. Als Bauherr wurde 2001 der französische Baukonzern Eiffage designiert, der als Gegenleistung für einen Gutteil der Konzeption und die gesamte Ausführung sowie Finanzierung des Bauwerks eine Konzession für 78 Jahre erhielt (gerechnet ab Baubeginn). Während dieser Zeit fliessen ihm alle Einnahmen der Mautstelle des Viadukts zu. Am 31. Dezember 2079 geht die Brücke dann in Staatsbesitz über, doch ist Eiffage verpflichtet, bis 2121 die Wartung zu übernehmen. Für den Staat hat diese Vorgehensweise den doppelten Vorteil, dass ihn der Bau des Viadukts an sich keinen Cent gekostet hat und dass die Arbeiten in der Rekordzeit von exakt drei Jahren fertiggestellt wurden. Trotz Brückenzoll kommt Automobilisten die Fahrt über die (sonst kostenlose) A 5 billiger als die alternative Route A 6-A 7-A 9.

Am Fuss des Viadukts befindet sich ein Besucherzentrum. Erst hier lässt sich ermessen, wie gigantisch das Bauwerk ist. Weiter unten, in der Talsohle, fliesst der Tarn, ein vergleichsweise schmales Flüsschen. Weit über unseren Köpfen erstreckt sich das 32 Meter breite Band der Fahrbahn. Die Unterseite des Kastenträgers aus Stahl verbreitet matte Reflexionen und kontrastiert mit dem hellen Beton der Pfeiler. Von hier aus gesehen wirkt die Brücke derart lang, dass sie verschiedene Wetterzonen zu verbinden scheint: auf der einen Seite strahlend blauer Himmel, auf der anderen dräuend geballte Wolken. Je nach Lichteinfall schimmern die Seile wie feine Perlenketten oder ziehen dunkle Schraffuren über den Azur.

Ein paar Worte zur Konstruktion des Viadukts. Es handelt sich um eine Schrägseilbrücke, ein Typus, der besonders grosse Spannweiten erlaubt. Hier sind es 342 Meter. Der 2460 Meter lange Kastenträger ruht auf sieben Pfeilern, deren Höhe von 77 bis zu 245 Metern reicht. Jeden Pfeiler überragt ein 88 Meter hoher und 650 Tonnen schwerer Pylon, so dass der höchste Träger insgesamt 333 Meter misst. An diesem sind beidseitig je elf Seile aus 45 bis 91 Stahldrähten befestigt, an denen der Kastenträger hängt. Nach sechsmonatigen Erdarbeiten wurde Mitte 2002 mit dem Bau eines seitlichen Widerlagers an jedem Abhang sowie der sieben Pfeiler aus Spannbeton begonnen - und zwar gleichzeitig, so dass neun Baustellen mit je einem eigenen Bauleiter das Tal füllten. Nach der Fertigstellung der Fussplatten, die je mittels vier 12 bis 15 Meter tiefer «Puits marocains» im Boden verankert sind, wurde jeder Pfeiler im Dreitage-Rhythmus um vier Meter erhöht. Eine «selbststeigende» Verschalung ermöglichte diese rasche Kadenz der Betongüsse.

Währenddessen wurden in der Eiffage-Filiale Eiffel im elsässischen Lauterbourg 152 Stahlkästen mit einem annähernd quadratischen Querschnitt von vier Metern und einer Länge zwischen 12 und 20 Metern hergestellt, die das Kernstück des Kastenträgers bilden. Dessen Gewicht konnte dank der Verwendung von hochwertigem Stahl anstelle des üblichen Betons von 120 000 Tonnen auf 36 000 Tonnen reduziert werden. Die vor Ort zusammengefügten Abschnitte des Kastenträgers wurden mittels hydraulischer Pressen leicht angehoben und Millimeter für Millimeter nach vorn geschoben - bis zur nächsten provisorischen Metallstaffel zwischen zwei Pfeilern oder zum nächsten Pfeiler. Die Fahrbahn wuchs also von den seitlichen Widerlagern zur Mitte hin, bis am 28. Mai 2004 die beiden Teile des Kastenträgers über dem Tarn zusammentrafen. Dank diesem sogenannten Taktschiebeverfahren konnten 96 Prozent der Arbeitsprozesse «an Land» gemacht werden: So war kein einziger tödlicher Unfall zu beklagen. Endlich wurden die vorgefertigten Stahlpylonen aufgerichtet, die Seile daran festgemacht und die zweimal zwei Fahrbahnen mit einem Spezialbelag versehen.

Der erste Betriebstag des Viadukts; wir sind auf der A 75. Auch Claudine Amat freut sich auf ihre erste Fahrt über die Brücke. An der Mautstelle begrüsst sie die Kassiererin: wie sie selbst eine «Millavaise», eine Bewohnerin Millaus. Die Brücke schafft Arbeitsplätze: Rund fünfzig Personen arbeiten für die Compagnie Eiffage du Viaduc de Millau. Hat man sich zu viel versprochen von der Fahrt? Sich von den Rekordberichten («die zweitlängste Schrägseilbrücke der Welt», «mit 245 Metern der höchste Pfeiler der Welt» usw.) berauschen lassen? Die Fahrt über das Viadukt ist mit Abstand der am wenigsten beeindruckende Teil unseres Besuchs. Die Aussicht auf das Tal wird - wie sollte es auch anders sein bei einer Autobahn? - versperrt: durch 7320 Module aus Acrylglas, welche drei Meter hohe Windschirme bilden. Wären da nicht die Pylonen mit den strahlend weissen Seilen, man wähnte sich auf einer ganz normalen Schnellstrasse.

Der Viaduc de Millau wurde von einem Team um den Ingenieur Michel Virlogeux konzipiert. Es ist wichtig, festzuhalten, dass eine Brücke in erster Linie das Werk eines Ingenieurs ist. Nach der Rolle von Norman Foster befragt, antwortet Virlogeux diplomatisch: «Es gibt Architekten, die einen ausgezeichneten Sinn für Strukturen haben. Und es gibt Ingenieure, die einen gewissen Sinn für Ästhetik haben.» Im Fall des Viadukts legt freilich schon die Chronologie den Vorrang des Ingenieurs nahe. Den gewählten Brückentypus hatte Virlogeux bereits Anfang der neunziger Jahre vorgeschlagen; Foster wurde erst 1996 zum Architekten bestimmt. Die Entwürfe des Briten für die Form der Pfeiler und des Kastenträgers mussten nach strukturellen beziehungsweise aerodynamischen Gesichtspunkten abgeändert werden; durchsetzen konnte er sich hingegen mit der leichten Kurvung der Fahrbahn, welche den Automobilisten eine bessere Wahrnehmung der Brücke erlaubt. Die Leichtigkeit des Kastenträgers, die Zweiteilung der Pfeiler nach oben hin, die umgekehrte V-Form der Pylonen und die relativ geringe Anzahl von Seilen mögen ästhetisch reizvoll sein, entspringen jedoch statisch-konstruktiven Erfordernissen. Eine gelungene Brücke muss laut dem Brückenkenner Dirk Bühler «über ein klares und einfaches Tragwerk verfügen, an dem der Kraftfluss mühelos ablesbar ist». Das ist beim Viaduc de Millau der Fall.
Ein Emblem des «Génie civil français»

Ob es sich freilich auch um einen schöpferischen Wurf handelt, der dem Brückenbau im 21. Jahrhundert neue - namentlich formale - Horizonte eröffnet? Diese Frage möchte man eher verneinen. Es gibt Schrägseilbrücken, die eine ungleich persönlichere Sprache sprechen. Zu diesen zählen etwa Arbeiten des Schweizers Christian Menn wie die Charles-River-Brücke in Boston und mehr noch die schon 1980 vollendete Ganterbrücke mit ihren in Betonplatten eingeschlossenen Seilen sowie die hinreissend elegante Sunnibergbrücke mit ihren zweimal vier sich wie eine leicht gespreizte Stimmgabel nach oben hin öffnenden Betonpylonen. Auch Santiago Calatravas Alamillo-Brücke in Sevilla (1992) und Ben van Berkels Erasmusbrücke in Amsterdam (1996), beide mit einem einzigen, schräggestellten Pylonen, sind Werke von fast skulpturaler Ausdruckskraft - selbst wenn man nicht vergessen sollte, dass keines dieser Werke auch nur annähernd die Dimensionen des Viaduc de Millau erreicht und Schrägseilbrücken mit mehr als zwei Pylonen auch ganz andere statische Probleme aufwerfen als solche mit nur einem oder zweien.

Am besten lässt sich der Millau-Viadukt wohl als eine besonders prächtige Blüte der französischen Tradition des zentralistisch organisierten staatlichen Verkehrswegbaus definieren - «un nouvel emblème du génie civil français», wie Staatspräsident Jacques Chirac bei der Einweihung befand. Diese Tradition reicht zurück bis zum 1716 gegründeten «Corps des Ingénieurs des Ponts et Chaussées», zur 1747 von Jean- Rodolphe Perronet geschaffenen Ecole des Ponts et Chaussées und zur 1794 eröffneten Ecole Polytechnique. Wichtige Protagonisten dieser Geschichte waren Claude Louis Marie Henri Navier im 18. Jahrhundert, Gustave Eiffel, François Hennebique und Paul Séjourné im 19. Jahrhundert sowie Eugène Freyssinet im 20. Jahrhundert. Virlogeux, ein Absolvent der Ecole Polytechnique und Ingénieur des Ponts et Chaussées, der gut hundert grössere und kleinere Brücken (mit)konzipiert hat - darunter den Pont de Normandie (1994), einen direkten Vorläufer des Viaduc de Millau -, reiht sich klar in diese Kette ein.

Die Eröffnung des Viadukts wurde denn auch zu einem nationalen Ereignis stilisiert. Um noch einmal Chiracs feierliche Prosa zu zitieren: «Die Franzosen sind, zu Recht, stolz auf die hier vollbrachte Grosstat, welche für Frankreich spricht. Ein modernes Frankreich, ein unternehmungsfreudiges und ein erfolgreiches Frankreich. Ein Frankreich, das in die Zukunft investiert. Ein Frankreich am Vorposten des weltweiten Fortschritts. Ein Frankreich an der Spitze der wissenschaftlichen und technischen Höchstleistungen.» Die hiesige Presse feierte einstimmig die «kolossale Eleganz» des grossen Wurfs - «même si l'architecte est britannique, nul n'est parfait» («Libération»). Selbst «Le Figaro», der gewöhnlich das blau-weiss-rote Banner besonders hoch hält, musste zugeben, dass dem «architecte britannique Lord Forrester» (sic) ein «ouvrage exceptionnel» gelungen sei. Vive la France!

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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