Bauwerk

Kantonsbibliothek Baselland
Liechti Graf Zumsteg - Liestal (CH) - 2005
Kantonsbibliothek Baselland, Foto: Schultz/Rötheli
Kantonsbibliothek Baselland, Foto: Schultz/Rötheli

À LA – O’LALA

Die neue Kantonsbibliothek in Liestal von Liechti Graf Zumsteg

Was hinter dem Schriftzug «À LA» steckt, gilt es ebenso zu entdecken wie die architektonische Hintergründigkeit der neuen Kantonsbibliothek in Liestal von Liechti Graf Zumsteg, die eines «Chapeau!» würdig ist.

3. Dezember 2005 - Rahel Hartmann Schweizer
Während 25 Jahren war das Kulturhaus «Palazzo» – eine Wiederbelebung des ehemaligen Postgebäudes, dessen repräsentative Qualitäten aus dem 19. Jahrhundert stammen – die einzige nennenswerte Initiative, um das Bahnhofgebiet auch dann zu beleben, wenn die Pendlerströme versiegt sind – abgesehen von einigen kosmetischen Eingriffen am Bahnhof.
Nun haben die Liestaler mit der neuen Kantonsbibliothek einen weiteren Baustein gesetzt, der als Magnet wirken soll. Gleichzeitig wurde einem Bau die Ehre erwiesen, der während Jahren ein kümmerliches Dasein fristete: das ehemalige Weinlagerhaus der Firma Roth & Cie. Das 1924 errichtete Gebäude diente – seit es seinem ursprünglichen Zweck entzogen war – als Lagerstätte für das Reservemobiliar der kantonalen Verwaltung, als Depot des Kantonsmuseums und der Denkmalpflege, als Lager für archäologische Funde, für Konkursakten, Gipsmodelle der Schulzahnpflege. Es beherbergte Einrichtungsgegenstände für Notwohnungen, Magazine des Staatsarchivs und der Bibliothek.
1999 gewannen Liechti Graf Zumsteg den öffentlichen Wettbewerb für den Umbau des Weinlagers zum neuen Domizil der Kantonsbibliothek. Im August 2003 wurde mit dem Bau begonnen, im Mai dieses Jahres nun die Bibliothek eröffnet.
«À la»: Der Schriftzug, der das Dach ziert, ist Programm. Er verweist auf Marcel Prousts Werk «A la recherche du temps perdu», das Gedächtnis thematisiert, mithin Geschichte reflektiert, individuelle und kollektive, das Wissen der Bücher, das Verhältnis der Lesenden zu den Erzählern, ihre Geschichte(n)... Zur vergeistigten, chiffrierten Allusion gesellt sich die unmittelbare Anspielung der Leseratte und des Bücherwurms, die sich auf dem Dach des Portikus ein Stelldichein geben (Titelbild). Die in Aluminium gegossenen Skulpturen richten sich an das junge Publikum.

«hut» und «Hut»

Stefan Banz, der Künstler, der die Skulpturen und die Grafik des «À LA RECHERCHE» geschaffen hat, trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt: «Die Bibliothek ist die Obhut der vergangenen Zeit, ist der Ort, wo man die vielfältige Geschichte wieder entdecken und wieder zurückholen kann.» Die Architekten haben dem Schriftgut eine Ob-hut geschaffen, und dies mit einer Zeichenhaftigkeit, welche die «NZZ» bewog, den Bau mit der CI-Architektur der Imbisskette «Pizza-Hut» zu assoziieren, die sich inhaltlich wohl mit «hut» (Hütte), formal aber mit «hat» (Hut) identifiziert. Die Analogie ist keineswegs abwegig. Die Dachform erinnert an einen Hut, der als Obdach über die geistige Nahrung gestülpt ist – die allerdings kaum mit Junk-Food in Verbindung gebracht werden kann. Und doch: Der elektronische Ausleihverkehr macht die Bibliothek auch zur Selbstbedienungs-Gaststätte.
Der «Chapeau» gilt aber nicht nur den potenziellen Nutzern der Bibliothek, sondern wirkt auch als einladende Geste bei der Einfahrt mit dem Zug in den Bahnhof. Die Zeichenhaftigkeit prägt sich ein. Sie irritiert aber auch. Denn sie treibt ein Spiel, das nicht nur die Gedanken über «hut», «hat» und Obhut anregt.

Geköpftes Ei

Der Clou des Eingriffs von Liechti Graf Zumsteg ist, dass die Architekten nicht versucht haben, das origi-nale Erscheinungsbild zu bewahren, sondern es einer Transformation unterzogen, die durchaus einen Wiedererkennungseffekt generiert, aber auch verstört. Sie regt das Nachdenken über den Wandel an, sowohl generell stilgeschichtlich als auch spezifisch auf diesen Bau bezogen. So verweist die markante «Laterne», die den Bau bekrönt, auf die Sakralarchitektur – ein Musentempel will die Bibliothek ja auch sein. Dass die Beschreibung der Architekten – sie hätten das Dach «wie ein Ei geköpft» – an die Anekdote um Brunelleschi erinnert, der die Konstruktion der Kuppel von Santa Maria del Fiore in Florenz mit einem Ei illustriert haben soll, das er auf den Kopf schlug, ist ein Aperçu, das durchaus ins Spiel der Verfremdung passt. Die Architekten persiflieren Bestehendes, Bekanntes, um etwas Neues zu kreieren.

Das beginnt beim Dach bzw. der Fassade. Haben die Architekten nun das Dach in die Vertikale gekippt oder den Bau so mit Ziegeln eingekleidet, dass das Dach als fünfte Fassade figuriert? Ist es ein Kleid, dessen Saum auf dem Portikus aufliegt, oder eben ein aufgestülpter Hut? Und dann sind da noch die französischen Grate, die sich scharfkantig ohne Abschluss gegen den Himmel abheben und erscheinen, als würde das Dach hier nicht wirklich enden – etwas Unfertiges.

Grenzen verwischt

Aber auch bei der Wahl der Materialien bzw. ihrer Verarbeitung treiben die Architekten ein – wohl kalkuliertes – Verwirrspiel. So verkleiden sie den unteren Teil des Daches bzw. eben den oberen Teil der Fassade mit Biberschwanzziegeln – eine Referenz an den ursprünglichen Bau, der im oberen Bereich mit Schindeln verkleidet war, und an traditionelles Handwerk. Die noch makellosen Oberflächen der Ziegel aber lassen an Kunststoff denken. Ähnliches gilt für die körperhaft hervortretenden Fenster, deren tiefe Laibungen mit Kupfer, das bereits nach kürzester Zeit Patina ansetzte, gefasst sind. Sie verweisen auf die ehemaligen Lukarnen. Die strukturellen Metallteile der Laterne mit einem Kupferton einzufärben ist Teil der Strategie, die Grenzen zwischen Alt und Neu zu verwischen, ebenso die verleimten Brettschichtholzträger und -stützen, auf denen die Laterne lagert, mit einem Ton zu beizen, der dem des ursprünglichen Holzes nahe kommt.

Die Eingriffe provozieren die Fragen «Was ist neu? Was ist original?», die sich nur mit einem Blick auf ein Bild entscheiden lassen, das den Bau vor der Intervention zeigt. So erweist sich, dass Liechti Graf Zumsteg die Dreigliederung von Sockel, Mittelzone und Dach erhalten, aber transformiert haben zu Sockel mit Portikus, Dach und Laterne.

Der mit Holzschindeln verkleidete Holzständerbau der Mittelzone wurde mit den Biberschwanzziegeln gleichsam zum Dach geschlagen. Der Sockel wurde aufgebrochen, zum Portikus geweitet und mit Schaufensterverglasung versehen, die den Blick ins Innere auf die Tische des Cafés freigibt und die Bibliothek als öffentlichen Bau kennzeichnet.

Dann gibt es aber auch verstecktere Anspielungen. So «entspricht» die Zugangsrampe der ehemaligen Verladerampe, und die repräsentative Geste des Portikus, der die dahinter liegende grosszügige Verglasung von Foyer und Cafeteria inszeniert, setzt auf der Höhe der ehemals verputzten Sockelzone an.

Auch der Anbau auf der linken und der Zwischenbau auf der rechten Seite wurden in das neue Gebäude «integ-riert». Nicht im wörtlichen Sinn. Sie wurden abgebrochen, neu errichtet und einerseits mit dem Portikus, andererseits mit dem Baukörper selbst verschmolzen. Auch hier weichen die Architekten vom Dogma der Sichtbarmachung der Grenze zwischen Alt und Neu ab. Die beiden Annexe und der Hauptbau sind einheitlich grau verputzt. Von der nördlichen Ecke aus aber lassen sich Alt und Neu unterscheiden: Die rückwärtigen Fens-ter haben die tiefen Laibungen des ursprünglichen Baus, die Öffnungen der seitlichen Erweiterung hingegen sind standardmässig in die Wand eingelassen. Das Raster mit einem Fenster pro Stützenintervall haben die Architekten ebenfalls übernommen bzw. ergänzt.

«Körperwelt»

Im Innern dominiert hingegen der Gegensatz zwischen Alt und Neu, der kontrastreicher nicht inszeniert sein könnte. Auf sechs Geschossen – wovon zwei unterirdisch angelegt – bietet das Gebäude knapp 4000 m² Fläche.

Die markanten Holzstützen und -balken des Originals bilden das Skelett, das erscheint, als wäre es eben erst freigelegt worden, um eine Art von «Körperwelt» zu veranschaulichen. Eine Innenschau, die etwas Voyeuristisches hat, weil die Eingeweide – Böden und Einbauten – förmlich zur Schau gestellt sind.

Auch im Untergeschoss haben die Architekten weitgehend auf die bestehende Statik der Betonpfeiler und Unterzüge bauen können. Einen verfremdenden Effekt erzielten sie, indem sie ihnen einen silbergrauen, mit Glimmer versehenen Anstrich verpassten, der ausserdem die Beleuchtung unterstützt. Wie Möbelstücke sind die «giftig» gelb-grünen Einbauten behandelt und von der Decke jeweils durch einen Lichtschlitz abgesetzt.

«Giftschrank»

Kaum kontrastierender hätten die Architekten Böden und Einbauten auch in den Obergeschossen gestalten können. Gelb-grüner Kunstharz-Fliessbelag und die im selben Farbton gehaltenen Bücherregale, Theken, Computer-Korpusse, Vitrinen-Schränke verschmelzen beinahe miteinander. Die Künstlichkeit scheint auf die Spitze getrieben und lässt das Organische der Stützen noch viel prägnanter erscheinen. Dem Organischen des Holzes «entsprechen» die organischen Formen der Möbel – Sessel von Ron Arad, Tischchen von Eero Saarinen –, die wie weisse Kunststoffblumen eingestreut sind.

Dann aber schiebt sich auch der Lagercharakter in den Vordergrund, etwa bei den Leuchtstoffröhren, die in serieller, aber versetzter Reihung positioniert sind. Abgeblendet werden sie durch die Balken, ihr Licht diffus gestreut aber durch die Deckenverkleidung aus einem fein gesponnenen Chromstahlgeflecht. Deutlicher noch und symbolisch überhöhter ist die Anspielung auf das einstige Weinlagerhaus, die auf den Holzbalken in roter Schablonenschrift prangt: «Margaux», «Petrus», «L’Hermitage», «Latour». Sie wirken, als wären es Überbleibsel, die man zu entfernen vergessen hat. Doch die edlen Weine, die genannt sind, waren hier nie gelagert: wieder ein Schnippchen geschlagen und kundgetan, wes Geist die Bibliothek ist.

Wieder mit einem historischen Bild spielen die Architekten beim Treppenhaus, dessen leicht grünlich gefärbte Gläser eine vielfache Brechung und Spiegelung erzeugen, die an Eschersche Kompositionen gemahnen. Verstärkt wird der Effekt durch das Wasser, das den Boden des Lichthofs im Untergeschoss bedeckt. Er ist nach dem Entwurf von Stefan Banz mosaikartig mit gebrochenen Ziegeln ausgelegt, in die weiss gefärbte Stücke gestreut sind, die den zweiten Teil des Zitats auf dem Dach beschreiben: «RECHERCHE». Dass der Hof nicht begehbar ist, macht ihn zu einer Art verbotenem Terrain, als berge er das Geheimnis des Wissens – wie der «Giftschrank», der einst die verbotenen Bücher barg.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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