Bauwerk

Kirche Saint-Pierre Firminy
Le Corbusier, José Oubrerie, Yves Perret, Aline Duverger - Firminy (F) - 2006

Matrize

Ein Spätwerk Le Corbusiers postum verewigt

Er hatte sie bis zuletzt nicht aufgegeben: die Kirche Saint-Pierre in Firminy, dem Ort, in dem er eine Unité d’Habitation, ein Kulturhaus und ein Stadium geplant hatte. Nun ist sie postum verwirklicht worden.

10. Februar 2006 - Gilles Ragot
«Ich habe alle vertraglichen Anforderungen erfüllt, meine Arbeit erledigt (…) und nun kann ich mir nichts anders vorstellen, als einen Baubeginn zur grössten Freude aller», schrieb Le Corbusier zum Projekt der Kirche Saint-Pierre in Firminy nur wenige Monate vor seinem Ableben am 27. August 1965.

Trotz der Müdigkeit und seiner Enttäuschung angesichts der wiederholten Widerstände und Budgetbeschränkungen gab Le Corbusier die Idee dieses Kirchenbaus in Firminy-Vert beim französischen Saint-Etienne nie auf. Mitten in diesem neuen Quartier hat Le Corbusier das Kulturhaus, das Stadion sowie eine Unité d’Habitation erstellt und schliesslich das Projekt einer Kirche – gewissermassen als Krönung des Komplexes – erdacht.

Unbestreitbar ist zwar, dass ihm diese Studie am Herzen lag, doch kann man sich fragen, ob sich der Bau des Gebäudes, von dem er bloss ein schwach dokumentiertes Vorprojekt hinterliess, wirklich lohnte. In Loyalität und Anerkennung unterstützt der ehemalige Minister für Wiederaufbau und Bürgermeister von Firminy, Eugène Claudius-Petit, die ehemaligen Mitarbeiter des Architekten, damit die summarische Studie Wirklichkeit wird. Mit der Projektleitung wird José Oubrerie, der bereits im Atelier von Le Corbusier für das Projekt zuständig war, betraut. 1966 werden die Studien wieder aufgegriffen und 1973 die Bauarbeiten aufgenommen. Nach unzähligen Schicksalswendungen wird die Vollendung schliesslich auf das Frühjahr 2006 angesetzt.

Beitrag zur Erneuerung der sakralen Kunst

Das Projekt Saint-Pierre in Firminy steht im Kontext der vom Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) abgesegneten Erneuerung der sakralen Kunst. Der «Streit um die sakrale Kunst», der die Anfänge der Rekonstruktion prägte, konzentrierte sich auf die Einführung moderner Kunstwerke in konventionell gebliebenen Kirchen. Diese Debatte erwies sich in zweifacher Hinsicht als heilsam: Sie hat einerseits zur Folge, dass endlich Werke zeitgenössischer Künstler Eingang in die Kirche finden, während andererseits die Diskussion um das Wesen moderner, sakraler Architektur über reine Dekorfragen hinaus neu positioniert wird.

Dieses Erwachen in der religiösen Architektur liess etliche Werke hoher Qualität entstehen. Dabei spielte der Beitrag von Le Corbusier eine wesentliche Rolle. In der Kapelle von Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp (1950–55) gab er der Diskussion eine neue Ausrichtung auf den eigentlichen Begriff des «Sakralen», das er «l’indicible» (das Unaussprechliche) nannte: Raum, Licht und Schatten, Plastizität der Materialien, Farbe, Parcours. «Wir hielten Le Corbusier nicht bloss für den grössten noch lebenden Architekten, sondern auch für denjenigen, bei dem das Gespür für das Sakrale am authentischsten und stärksten war», erklärt Pater Couturier, Direktor der Zeitschrift «L’Art Sacré». Diese Eigenschaften finden sich im Couvent de la Tourette in Eveux-sur-Arbresle bei Lyon (1953–60), aber auch im Projekt der Kirche Saint-Pierre in Firminy wieder, das den Schlusspunkt setzt.

Genese des Projekts

Die ersten Zeichnungen (1960–61) sind rasch skizziert. Seit über dreissig Jahren trägt der Architekt dieses Projekt mit sich – seit er eine Skizze für eine Kirche in Le Tremblay bei Paris (1929) gezeichnet hatte (Bild 8). Die Grundsätze eines sich aus einem quadratischen Sockel in die Höhe entwickelnden Rumpfs mit einer aussen liegenden Rampe – die eigentliche Identität der Kirche von Firminy – waren im Projekt aus der Vorkriegszeit im Wesentlichen bereits vorhanden. 1960, als er die ersten Striche für Firminy zeichnete, erschien ihm das Projekt als selbstverständlich, und fünf Jahre lang verfolgte Le Corbusier sein Projekt bis ins kleinste Detail. Obwohl Oubreries Beitrag aus dieser Zeit unbestreitbar ist, steht die «Urheberschaft» von Le Corbusier genauso ausser Zweifel.

Das Projekt entstand in sechs Etappen; einige davon wurden veröffentlicht, namentlich 1965 in «L’Œuvre Complète».[1] Diese Version entspricht der dritten, offiziellen Planreihe vom Dezember 1962 (Bilder 3–6). Hingegen datiert die perspektivische Zeichnung, die massgeblich dazu beitrug, die Silhouette dieses Projektes weltbekannt zu machen, vom 19. September 1963 (Bild 7). Die letzten bekannten Pläne, die einige Monate später im Dezember 1963 gezeichnet wurden, weisen unbedeutende Änderungen auf, die keinen Einfluss auf das Projekt haben, dessen Konzept sich nach den unzähligen Korrekturen in den Vorjahren stabilisiert hatte.

Auf der Grundlage dieser Schlusspläne wurde ein erster Kostenvoranschlag erstellt und eine geologische Untersuchung des von alten Bergwerken belasteten Standortes eingeleitet. Als dann der Kostenvoranschlag für das Fundament als zu hoch bewertet wurde, schlug der Pfarrgemeinderat einen anderen, weniger problematischen Standort vor. Le Corbusier legte jedoch Wert auf die räumliche Nähe zu Kulturhaus und Stadion, an denen er bereits baute, und dachte nicht daran, den ursprünglichen Standort aufzugeben. Er verringerte ein weiteres Mal die Dimensionen und die Neigung des oben schräg angeschnittenen, schief gelagerten Kegelstumpfs. Zwei heute verschwundene Modelle, die fotografisch dokumentiert wurden, veranschaulichen diese letzte Reduktion des Projekts Ende 1964.

Vergeblich. Die Bauherrschaft verzichtet im Januar 1965 endgültig auf die Realisierung des Projektes. Trotz der Energie, die Le Corbusier bis zu seinem letzten Atemzug einsetzte, ist das Projekt am Ende. Als er stirbt, gibt es noch keinen Ausführungsplan – und auch keinen Bauherrn mehr.

Der Beitrag von José Oubrerie

Oubrerie setzte das Werk fort und erstellte bis zum Baubeginn im Jahre 1973 mehrere Planreihen. Dann folgte eine ständige Anpassung an die verschiedenen Bauabschnitte unter dem schlechten Stern einer ungesicherten Finanzierung. 1978 erfolgte ein Baustopp; der Rohbau war schon zu zwei Dritteln erstellt; es fehlte im Wesentlichen noch der Kegelstumpf. Es dauerte ein Vierteljahrhundert, bis eine juristisch und finanziell tragbare Lösung gefunden wurde und die Bauarbeiten 2003 – diesmal endgültig – wieder aufgenommen werden konnten.[2] Oubrerie blieb beauftragter Architekt und wurde von Aline Duverger und Yves Perret als Ausführungsarchitekten unterstützt.

Das kurz vor seiner Vollendung stehende Werk stimmt zweifelsohne ebenso mit dem ursprünglichen Konzept von Le Corbusier überein, wie die Proportionen und die Silhouette des Gebäudes der letzten Phase aus dem Jahre 1964 entspricht. Während die Grundidee beibehalten wurde, weist das Ergebnis gegenüber den Referenzunterlagen zahlreiche Verzerrungen auf. Der Vergleich zeigt Einflüsse auf verschiedenen Ebenen: Anpassung an die jeweiligen Normen und Auflagen, Lösung zahlreicher Probleme, die im Vorprojektstadium nicht berücksichtigt worden waren, sowie persönliche Ergänzungen und Korrekturen durch Oubrerie.

Diese persönlichen Beiträge weisen darauf hin, dass der Architekt bestrebt war, dem Projekt, das er vierzig Jahre lang beharrlich mitgetragen hatte, seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Er übernimmt die volle Verantwortung für diese Änderungen, etwa beim Hinzufügen zweier Balkone aussen an der Südfassade bzw. im Innern entlang der Rampe von der ersten zur zweiten Ebene. Zwar gehören solche Balkone zweifelsohne zur Welt von Le Corbusier, doch zeugt deren nachträglicher Einbau vom Wunsch, sich das Projekt anzueignen. Das gilt auch für die geänderten Masse des Tores und der Eingangsschleuse, für das Profil der Geländer, die Ausrichtung der Kanzel, die Erweiterung des Hochaltars und dessen Sockel usw. Einige Änderungen sind zwar unbedeutend, doch hat das Urprojekt im Sinne der Charta von Venedig von 1964 – Einhaltung der Referenzunterlagen – einen Teil seiner Glaubwürdigkeit eingebüsst.

Die bedeutendste Modifikation, nämlich die nicht bestimmungsgemässe Verwendung des Gebäudefundamentes, ist allerdings nicht den Architekten zuzuschreiben. Dieses war ursprünglich für die Kirche vorgesehen und dient nun einem Nebengebäude des Museums für moderne Kunst von Saint-Etienne. Obwohl das Raumkonzept nicht verändert wurde, haben Oubrerie und seine Mitarbeiter einen Ausbau konzipiert, der vom ursprünglichen Programm abweicht. Es ist zu befürchten, dass die allgemeine Stimmung durch die technischen Einrichtungen des Museums beeinträchtigt wird.

Paradoxe Aufnahme ins Kulturgut

Allen Bedenken gegenüber eines postumen Bauwerkes bezüglich Authentizität und Ethik zum Trotz muss man feststellen, dass das Bauwerk, das nun seiner Vollendung entgegensieht, Ausdruck der formalen Kohärenz des städtebaulichen Konzeptes von Firminy-Vert nach den Vorstellungen von Le Corbusier ist. Die Kirche selbst ist von einer Qualität und räumlichen Originalität, die in den grössten Werken von Le Corbusier und im modernen Kulturgut zu finden sind.[3]
Der Aufnahmeprozess ins Kulturgut begann bereits 1984. Damals wurde das abbruchgefährdete Gebäude, das praktisch nur aus einem Fundament bestand, ins Inventar aufgenommen und 1996 schliesslich unter Denkmalschutz gestellt. Heute möchte die «Agglomération de Saint-Etienne Métropole» als neue Bauherrin die Le-Corbusier-Hinterlassenschaft von Firminy weiterentwickeln und als Raumplanungselement einsetzen. Die Vollendung der Kirche steht im Zentrum dieses neuen kulturellen Bewusstseins, das zur Aufnahme des Le-Corbusier-Komplexes in Firminy-Vert ins Unesco-Weltkulturerbe führen könnte.[4] Die postume Vollendung des Bauwerkes erhält so, über den blossen Akt der Anerkennung hinaus, eine wirtschaftlich-touristische Dimension – ohne die Diskussionen, die 1973 zum Baubeginn führten. So wird heute gewissermassen ein «neues Kulturerbe» Stück für Stück erbaut.
Anmerkungen
[1] W. Boesiger (Hrsg.): Le Corbusier, Œuvre complète, vol.7, 1957–1965. Les Editions d’Architecture, Zürich 1965. Die ausführlichste Dokumentation findet sich in: Anthony Eardley: Le Corbusier’s Firminy Church. IAUS/Rizzoli, NY; 1984.
[2] Die Geschichte des Baus und der Modifikationen im Projekt Oubrerie waren 2003 Gegenstand einer Untersuchung des Autors Gilles Ragot für die Fondation Le Corbusier und das französische Kulturministerium. Ein Auszug der Schlussfolgerungen wurde publiziert in der Zeitschrift «Faces», Frühling 2005, n°58.
[3] Videoreportagen des Baufortschritts seit 2004 bis heute können auf der Website der Ecole d’architecture de Saint-Etienne konsultiert werden: www.st-etienne.archi.fr
[4] Le Corbusiers Œuvre in Firminy figuriert auf einem transnationalen Dossier von Werken des Architekten für die Aufnahme ins Weltkulturerbe der Unesco, das Ende 2006 vollständig sein wird.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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