Bauwerk

Kirche Saint-Pierre Firminy
Le Corbusier, José Oubrerie, Yves Perret, Aline Duverger - Firminy (F) - 2006

Höhle mit leuchtender Aura

Le Corbusiers Kirche Saint-Pierre wird heute in Firminy eingeweiht

Die ersten Skizzen für die Eglise Saint- Pierre in Firminy legte Le Corbusier 1961 vor. Das postum vollendete Werk ist der Schlussstein eines im Geist der «Charta von Athen» entworfenen Stadtviertels.

24. November 2006 - Marc Zitzmann
Um Gott näher zu kommen, erklärte Le Corbusier einmal, müsse man sich anstrengen. Im Fall der Eglise Saint-Pierre, die heute Freitag in Firminy bei Saint-Etienne eingeweiht wird, ist das ganz konkret im körperlichen Sinn zu verstehen. Der Weg zu der auf einem künstlichen Hügel erbauten Kirche führt über eine Rampe zu einer Betonbrücke, die bis zum Portal aufsteigt. Eine kurze Verschnaufpause auf dem balkonartigen Vorplätzchen gestattet es, einen Blick auf die Umgebung zu werfen. Rechts das kleinteilige Gefüge der alten Stadt, wegen ihrer schwerindustriellen Vergangenheit auch Firminy-Noir genannt. Links das ab Mitte der fünfziger Jahre erbaute Viertel mit dem programmatischen Namen Firminy-Vert: viel Grün und herbstliches Gelb, durch das hindurch die Umrisse von Mietskasernen und anderen kastenförmigen Bauten sich abzeichnen.

Beton und buntes Licht

Die Kirche steht zwischen diesen beiden Stadtlandschaften wie ein Fremdkörper. Von der kleinbürgerlichen Banalität des schwarzen Firminy setzt sie sich ebenso markant ab wie von dem standardisierten Rationalismus des grünen Firminy. Aus der Ferne mag sie an ein Kernkraftwerk erinnern: eine gedrungene Betonpyramide mit abgerundeten Kanten und schräg abgekappter Spitze. Aus der Nähe freilich strafen viele Details diesen ersten Eindruck Lügen: der grosszügig verglaste quadratische Unterbau, dessen Leichtigkeit die Massivität des unregelmässigen Pyramidenkörpers aufwiegt; skulpturale Fassadenelemente wie der parabolische Bogen auf der Westseite und die den ganzen Bau wie ein Gürtel umlaufende Regenrinne sowie die vier geometrischen Körper, die die fensterlosen Fassaden durchbrechen.

Viele dieser Elemente offenbaren ihre Bestimmung erst im Innern: Sie bringen Licht in den Riesenraum, der tagsüber ohne künstliche Beleuchtung auskommt. Die Vielfalt der Lösungen, die Le Corbusier hier findet, ist bewundernswert. Licht kommt also von allen Himmelsrichtungen, von oben und von unten her. Aber es ist ein indirektes und meist kräftig verfärbtes Licht. Der Kirchenraum gleicht einer zugleich nüchternen und auratischen Höhle, die die Kontraste zwischen hell und dunkel, grau und bunt, klar und diffus raffiniert ausreizt. Der bestimmende Eindruck ist freilich der einer gewollten Strenge: die Wände unverputzt, die Böden matt geschliffen, der quaderförmige Altar und die Kanzel - eine Rohbau-Treppe mit seitlichem Balkon - aus weissem Beton, die Holzbänke fast spartanisch. Das verbreitete Zerrbild von Le Corbusier als einem seelenlosen Technokraten straft die jansenistische Spiritualität der Kirche Lügen.

Die Kirche als Kunsttempel

Ob in der Kirche regelmässig Gottesdienste stattfinden werden, ist ungewiss. Fest steht hingegen, dass der zweigeschossige Unterbau, ursprünglich als Pfarrwohnung und als Ort für Gemeindeaktivitäten gedacht, einen Ableger des Musée d'art moderne von Saint-Etienne beherbergen wird. Die betongraue Raumfolge mit ihrer Flut von Tageslicht, ihren Treppen und Stufen, ihren Durchgängen und Durchblicken sowie den in Anlehnung an den Kirchenraum rot, gelb, grün und kobaltblau gefärbten Zwischendecken dürfte nicht leicht zu bespielen sein. Jacques Beauffret, der Chefkonservator des Museums, umreisst im Gespräch das Programm: «Der Parcours wird Säle über Le Corbusiers Verhältnis zur modernen Bewegung und zur Kirchenbaukunst, über sein künstlerisches Werk, sein ‹Poème de l'angle droit› enthalten. Neben Zeitdokumenten werden wir dort auch hochkarätige Originalwerke zeigen.» Die Eröffnung erfolgt im Frühjahr.

Zwischen den ersten Skizzen und der heutigen Einweihung der Kirche sind über 45 Jahre vergangen. Die Baugeschichte liest sich wie eine Liste von Pannen und Pleiten: Le Corbusier ertrank 1965 noch vor der Grundsteinlegung, die katholische Kirche zog sich 1972 von dem Projekt zurück, das beauftragte Bauunternehmen machte vier Jahre später Bankrott, mangels Geld blieb der Rohbau ein gutes Vierteljahrhundert lang unüberdacht. Es ist massgeblich der Hartnäckigkeit der Association Le Corbusier pour l'Eglise de Firminy-Vert zu verdanken, dass nun endlich unter der Leitung von Le Corbusiers einstigem Mitarbeiter José Oubrerie die Pyramide über den Unterbau erhoben wurde. Laut Yvan Mettaud, dem Stadtkonservator für das Bauerbe, beliefen sich die Gesamtkosten auf 7,6 Millionen Euro.

Aber ist die Kirche, die künftig vor allem als ein Ausstellungsort mitsamt den dazugehörigen - aber ursprünglich nicht vorgesehenen - Einrichtungen wie Klimaanlage, Verkabelung und Aufzug genutzt wird, überhaupt noch als ein Werk des Schweizer Architekten zu bezeichnen? In einem Gutachten für die Fondation Le Corbusier bejahte der Architekturhistoriker Gilles Ragot die Frage: Trotz «substanziellen Modifizierungen» respektiere der Bau «unzweifelhaft das Konzept, die Proportionen und die Silhouette von Le Corbusiers Vorentwurf». Vor allem setze seine Vollendung den Schlussstein des städtebaulichen Entwurfs für Firminy-Vert.

Denn Le Corbusier hat für das Viertel in seinem letzten Lebensjahrzehnt nicht nur eine Kirche, sondern auch ein Stadion, ein Kulturzentrum und eine Wohnmaschine entworfen - sein grösstes städtisches Ensemble nach Chandigarh in Indien. Der Masterplan für Firminy-Vert stammt nicht von ihm, sondern von Mitarbeitern seines Freundes Eugène Claudius-Petit, des früheren Ministers für den Wiederaufbau, der 1953 Bürgermeister des 26 000-Seelen-Städtchens wurde. Aber vieles scheint Le Corbusiers «Charta von Athen» entlehnt: die Trennung von Strassen und Gehwegen, die Errichtung vielstöckiger Wohnbauten inmitten weiter Grünflächen . . .

Auf der Unesco-Weltkulturerbe-Liste?

Bei einer Führung durch die drei genannten Bauwerke lässt sich erkennen, was sich in ihnen bewährt hat - und was nicht. Im Espace Le Corbusier, der früheren Maison de la culture, stehen im Obergeschoss bunte Plasticeimer herum - das Hängedach mit seinen auf Metallseilen ruhenden Betonplatten, wiewohl erst 1990 renoviert, ist schon wieder undicht. Und der Kindergarten auf dem Dach der Unité d'habitation mit seinem Pausenhof 50 Meter über dem Boden wurde 1999 aus Sicherheitsgründen geschlossen. Dagegen beeindrucken in einer der Wohnungen die Lichtfülle und die doppelte Deckenhöhe - zwei Topoi, die im Sozialwohnbau wieder ganz aktuell sind. Das touristische Potenzial von Firminy-Vert ist beträchtlich: Mettaud rechnet nach der Einweihung der Kirche mit 100 000 Besuchern im Jahr. Glückt die nächstes Jahr von fünf Ländern - darunter Frankreich und die Schweiz - bei der Unesco geplante Eingabe, 21 Bauwerke von Le Corbusier auf die Weltkulturerbe-Liste zu setzen, könnten die neuen Hotelzimmer in der Wohnmaschine gar permanent ausgebucht sein.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Saint-Etienne Métropole

Tragwerksplanung